Ich sah einen Engel im Monat Ramadan
Muslim-Markt, 4.9.2007
Dies ist eine Geschichte, wie es sich viele wünschen würden, dass sie
sich zuträgt, doch wir wissen nicht, ob sie sich jemals irgendwo in dieser
Welt zugetragen hat. Doch wir können alle davon träumen und mitträumen!
Lieber Leser: Der “Ich“ in der Folgenden Geschichte bist Du!
Ich saß alleine im Zimmer auf dem Boden im Schneidersitz in meiner
Lieblingsecke, mein Lieblingskissen im Rücken, und ruhte mich aus von
einem langen Fastentag. Es war noch gut eine Stunde bis zum Fastenbrechen;
Zeit etwas in mich zu gehen, Zeit etwas nachzudenken. Wie ist das mit dem
Hunger? Ist er nicht irgendwie auch wunderschön, wenn man weiß, dass er
nur eine begrenzte Zeit währt? Und wie ist der Hunger bei denen, die nicht
wissen, wann er gestillt wird; es gibt doch viel zu viele von ihnen. Wie
viele Fastentage sind mir noch vergönnt? Wer weiß schon, wie lange er noch
zu leben hat. Bin ich denn wirklich vorbereitet für den Moment, da mein
Körper meine Seele aushaucht und diese im Geleit des Engels Azrail seinen
neuen Weg der neuen Geburt geht? Habe ich meine Augen, meine Ohren mein
Herz für das Jenseits entwickelt und vorbereitet? Und sind nicht allein
diese Gedanken schon eine Gnade des Barmherzigen, dass wir Ihm allein
bereits durch Nachdenken dienen können und dürfen; Dem Der keines Dieners
bedarf? Und wie wird es sein, wenn der Erlöser kommt? Werde ich es noch
miterleben?
Und während ich so vor mich hindachte, sahen meine Augen eine
verschwommene Lichtgestalt auf mich zukommen. Ich rieb mir die Augen, weil
ich den Anblick bisher nicht kannte. Die Gestalt wurde immer deutlicher
und immer heller; so hell, dass ich kaum hinsehen konnte. Aber ich empfand
eine unglaubliche innere Wärme, eine Schönheit, die nicht von dieser Erde
war. Die Gestalt sah zwar menschlich aus, aber sie strahlte aus jeder Pore
ihres Kleides und der Haut.
Mit einer wunderbaren Stimme sprach sie mich an: „Oh Diener Gottes.
Ich bin ein Engel, der zu Dir gesandt ist, um Deine Gedanken
aufzuzeichnen. Sag mir, was Du sehen möchtest, und ich zeichne es Dir auf“.
Meine Gedanken waren noch so sehr an die Welt gebunden, dass ich mich kaum
lösen konnte. Und dennoch, war ich fasziniert von diesem Angebot.
„Bitte zeichne mir mein Herz“. Eine dreidimensionale Darstellung
erschien vor mir, als wenn ich selbst hineingreifen konnte, ja selbst in
der Szene drin war. Und der Engel bewegte bedächtig seine Hand und
zeichnete Kriege. Ich sah Afghanistan und Irak. Ich sah leidenden Menschen
in Abchasien, die erst vor wenigen Tagen ihr Haus verloren hatten. Ich sah
Soldaten, die auf Zivilisten schossen, die goldene Kuppel des Felsendoms,
wie sie im Rauch von Gewehrsalven verschwand. Ich sah hungernde Kinder in
Afrika, so viele, dass ich es kaum ertragen konnte. Ich sah gepanzerte
riesengroße Schiffe, wie sie in den Persischen Golf hineinfahren mit
Ladungen voller Waffen, um sie abzufeuern, aber mit Leichen auf der
Kommandobrücke. Und immer wieder sah ich Menschen voller Leid in ihren
Augen. Ich sah Tränen, die um den gerade verlorenen Bruder, Vater, Sohn
vergossen wurden, Tränen für die gerade umgebrachte Schwester, Mutter,
Tochter. Und überall Kämpfe über Kämpfe, Leid über Leid, Trauer über
Trauer. Das sollte mein Herz sein? Was war das für ein Bild?
Ich bat darum, dass mir den Engel das Leid der Erde aufzeichnet.
Plötzlich stand ich inmitten eines Schlachtfeldes, in dem gerade etwas
Fürchterliches geschehen sein musste. Am Boden lagen verblutete Körper,
die aber dennoch Licht ausstrahlten. Sogar ein Säugling mit einem Pfeil im
Hals. Zelte brannten und Pferde lagen mit Pfeilen durchlöchert im Sand.
Ein Pferd stand noch und verließ den Körper nicht, den es so lange nach
besten Kräften getragen hatte. Ich sah ein Schlachtfeld an einem Fluss,
ich sah den fürchterlich zugerichteten Leichnam dem der enthauptet war.
Ich hörte die Stimme einer wunderbaren Frau, wie sie versuchte, den
überlebenden Kindern Trost zu spenden, es klang so, als wolle sie auch mir
Trost spenden. Es war kaum auszuhalten. Tränen flossen über meine Wangen.
Ich bat den Engel, mir Imam Husain und Zainab aufzuzeichnen. Der Friede
Gottes sei mit ihnen und allen, die Tränen für sie weinen. Das neue Bild
aber war so Lichterfüllt, dass ich meine Augen schließen musste. Da stand
eine Licht erfüllte Frau an ihrer Haustür und verteidigte es von innen.
Ein genau so hell erleuchteter Mann im Hintergrund konnte und durfte nicht
eingreifen. Sein Schwert lag dort bereit, seine Faust war gespannt. Er
hätte es ergreifen können und aus dem Haus herausstürmen, um alle
Angreifer zurück zu schlagen. Niemand wäre in der Lage gewesen, ihn und
sein doppelschneidiges Schwert aufzuhalten. Aber er durfte es nicht. Der
Schutz des Islam war wichtiger als er selbst, als sein Haus, sein Leben,
als die Heiligste aller Frauen aller Welten. Das Tor wurde eingetreten,
ein Feuer wurde gelegt. Die Frau stürzte zu Boden. Das noch Ungeborene
unter ihrem Herzen starb. Das Herz des Mannes im Hintergrund wäre fast
zersprungen, aber er konnte nur noch seiner Frau helfen, die ihr
verbliebene wenige Zeit zu ertragen. Er holte das Buch, das er für Sie
allein geschrieben hatte, und las daraus vor. Stimmen der Barmherzigkeit,
Stimmen der Liebe, in einer Situation, die Tränen über Tränen rollen
lassen, ohne dass man sie aufhalten kann.
Ich hielt es nicht mehr aus und bat den Engel, mir Imam Ali und Fatima
zu zeichnen, in der Hoffnung, sie in einem glücklicheren Moment erleben zu
dürfen. Doch es erschien ein Mann, dessen Licht noch einmal alles
überragte, was ich zuvor gesehen hatte. Selbst das Licht der Szene davor
war nicht so hell gewesen, obwohl ich sie schon nicht ansehen konnte. Der
Mann stand dort inmitten von Menschen, die allesamt hungerten, in einem
Tal in der Wüste; abgeschoben aus einer Stadt, in der zwischen zwei Hügeln
ein schwarzer Stein lag. Jene Menschen mussten viel Leid ertragen.
Der Mann dieses unfassbaren Lichtes hielt eine Frau in seinen Armen; die
Mutter der Barmherzigkeit, die Mutter aller Gläubigen. Sie hatte ihr Leben
ausgehaucht. Tränen der Liebe fielen zu Boden aus dem Gesicht des Lichtes,
das den Körper im Arm hielt. Und jede Träne brannte ein Loch des Lichtes
in den Sandboden. Ich wagte es nicht zu denken, nicht auszusprechen. Stand
da der Prophet aller Propheten, der Gesandte des Allmächtigen, der
Geliebte des Schöpfers vor mir und hielt die geehrte und gesegnete
Chadidscha in seinen Armen?
Was machte der Engel mit mir: Jedes Mal, wenn ich einen Heiligen sehen
wollte, sah ich etwas Größeres. Ich bat darum, dass der Engel mir das
Siegel des Prophetentums und die Große Chadidscha zeichnet. Jetzt sah ich
meine eigene Halsschlagader. Sie pumpte unaufhörlich das Blut durch meine
Adern: Ein Rhythmus des Lebens. Ich verstand nicht und fragte nach, dass
konnte doch nicht der Mustafa, der Ahmad und seine geliebte Frau
Chadidscha sein. Und ich bekam die Antwort, dass der Geist, der die beiden
Eltern der Wahrhaftigkeit vereint hat, für mich nicht sichtbar sei. Meine
Fähigkeiten reichten nicht aus, und niemand könne jene Schönheit direkt
sehen. Aber ich könne sehen, wie nah Er mir ist; näher als meine eigene
Halsschlagader.
Ich bat darum die Erlösung aufgezeichnet zu bekommen. Jetzt sah ich
einen Mann mit dem gleichen Licht im Gesicht, wie ich es schon bei Imam
Husain, Imam Ali und dem Propheten gesehen hatte. Er stand an der Kaaba
unmittelbar bei dem Schwarzen Stein von soeben. Der Schwarze Stein war in
viele Stücke zersprungen und vereinte sich vor meinen Augen. Auch der
Stein strahlte neben diesem Mann. Hunderte von Menschen huldigten dem
Mann. Plötzlich war ich in meinem eigenen Haus. Ich sah, wie lauter
verarmte, teilweise verletzte Menschen in mein Haus eingezogen waren. Ich
hatte ihnen alle unsere Zimmer angeboten. Mein gesamtes Hab und Gut hatte
ich aufgeteilt, um sie zu versorgen. Ich sah, wie meine Frau und meine
Kinder sich nach Kräften bemühten, dem Strom von neu ankommenden
Flüchtlingen gerecht zu werden; Zelte für sie im Garten aufzubauen. Ich
sah gläubige Juden, wie sie Zuflucht bei uns suchten, ich sah Christen,
wie sie kamen. Alle wurden herzlich empfangen. Manche, die dazu in der
Lage waren, halfen mit, das Leid der Neuankömmlinge zu mildern. Meine
Familie und ich schienen körperlich erschöpft, aber ein schwaches junges
Licht in den Gesichtern meiner Verwandten war zu erkennen. Der Engel
fragte mich: „Bist du bereit all Dein Hab und Gut zu teilen, wie es die
Helfer, die Ansar einstmals mit den Auswanderern, den Muhadschirun,
geteilt haben? Ist dein heutiges Fasten stark genug, dass du dich auf das
vorbereitest, was du sehen wolltest?“ Meine Zunge konnte sich nicht
bewegen. Ich konnte nicht antworten. Das sollte die Erlösung sein?
Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Vielleicht hatte ich mich
versehen. Erlösung sollte doch Schönheit bringen, Reichtum, Wohlstand für
alle. Ich bat darum, Imam Mahdi – möge er blad erscheinen – gezeichnet zu
bekommen. Jetzt sah ich ein mir so vertrautes Gesicht. Er stand am Grab
von Imam Ridha in Maschhad und putzte es in seinem einfachen weißen
Gewandt gekleidet. Er hatte seinen Turban abgenommen. Es war nicht der 12.
Imam, den der Engel zeichnen sollte. Aber jetzt verstand ich, was der
Engel mir sagen wollte: Wir sehen die Dinge durch die Dinge. Wir sehen die
Menschen durch die Menschen und Gott durch seine Schöpfung. Wir sind alle
miteinander verbunden, alle Herzen, alle Seelen, durch den Geist Gottes in
uns. Das uns Nahestehende, bringt uns einen Schritt weiter. Liebe deinen
Nächsten, dann gelangst du einen Schritt voran in der Liebe zu Gott. Fange
bei Dir an, in seinem eigenen Herzen. Liebe den Geist Gottes in Deinem
eigenen Herzen und tue ihm nicht die Grausamkeiten an, zu der deine Seele
befähigt ist. Ergib deine Seele dem Geist in Dir.
Noch einmal bat ich darum, mein Herz sehen zu dürfen. Dieses Mal sah
ich ein Grab. Auf dem Grabstein stand mein Name, im Nachbargrab
liegend meine geliebte Frau. Wo war mein Herz geblieben?
Ein letzter Versuch: „Bitte zeichne mir meine Heimat“. Ein
wunderschöner Garten mit allen Pflanzen der Schönheit tat sich vor mir
auf. All jene Menschen, die ich vorher gesehen hatte, waren darin. Meine
Frau stand bei mir, schöner denn je zuvor, obwohl sie mir bereits auf
Erden so viel Schönheit geschenkt hatte. Alle waren glücklich und
strahlten Glück aus. In der Ferne und doch so nah, sah ich ein Haus, das
so hell erleuchtet war, dass die Konturen des Hauses verschwammen, aber
darin befanden sich Menschen, die ich doch vorher schon gesehen hatte; der
Prophet, Chadidscha, Fatima, Imam Ali, und so viele weitere
Lichtgestalten. Heute waren sie in Glückseligkeit. Sie strahlten Liebe
aus. Licht über Licht durchdrang die gesamte Arena. So etwas Schönes hatte
ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Ich ergriff die Hand meiner Frau
und lief mit ihr voller Freude durch das Licht.
Langsam fühlte ich meine irdischen Sinne zurückkehren. Der Engel zog
sich in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Ich saß nicht mehr
im Schneidersitz, sondern befand mich in der Stellung der Niederwerfung;
die Stirn auf der Erde, aus der ich erschaffen ward und zu der ich
zurückkehren werde. Mein Herz war sehr warm geworden. Mein Hunger war
verflogen. Ich war wieder allein im Zimmer. Ich erinnerte mich an die
Szene, in der das Zimmer voller Flüchtlinge war. War ich bereit dazu? War
mein Fasten so, dass ich mich wirklich selbst erzog, damit ich bereit dazu
werde? Oder wartete der Erlöser deshalb noch, weil ich noch nicht bereit
bin?
Es erklang die schöne Stimme des Gebetsrufes, des Adhans. Die Familie
trat zusammen, um gemeinsam das Abendgebet zu verrichten. Es war Zeit, das
Fasten zu brechen; zumindest für heute. Aber es stand die Nacht des
Schicksals bevor, eine Nacht, die wertvoller ist, als Tausende von
Monaten, in denen die Engel hinabsteigen und Frieden verbreiten; Frieden
bis zur Morgendämmerung. Und was kam dann?
Dann kam die Morgendämmerung der Liebe. Lasst uns dafür fasten.