MM: Herr Arendt, was hat Sie
dazu motiviert das Palästina Portal aufzubauen und seit wann betreiben
Sie die Seite?
Arendt: Als Künstler war ich nie ein Anhänger der 'l'art pour l'art'
und wollte mit meinen künstlerischen Mitteln immer etwas bewegen. So habe
ich mich neben meinen anderen Arbeiten schon über 40 Jahre lang
künstlerisch und auch real mit sozialkritischen, zeitkritischen Themen
auseinandergesetzt, und war politisch in der SPD tätig. Ein Beweggrund
wurde sicher auch, dass ich in einer Stadt aufwuchs, in der bis zum Ende
des 2. Weltkrieges Kriegsgefangene unter sehr menschenunwürdigen
Umständen kaserniert waren. Als ein fast dreijähriger Junge stand ich am
Fenster unserer Wohnung und sah, dass da eine elendige Masse von
Menscheln, bittend und bettelnd, merkwürdig gekleidet, am Fenster
vorbeigetrieben wurde. Das trage ich immer noch mit mir herum und hat mein
Leben mit geprägt. Später kam dann über Jahrzehnte hinweg die bewusste
Verarbeitung der Verbrechen im Nazireich hinzu.
MM: .. und daher können Sie die Muslime
jetzt besser verstehen?
Arendt: Durch Diskussionen und Gespräche mit Palästinensern wurde
mir sehr schnell bewusst, dass eine der Hauptursachen des Konfliktes
zwischen 'uns' und den islamischen Ländern sich im Nahostkonflikt
begründet. An seiner Entstehung und am Fortbestand ist der 'Westen' durch
Nichthandeln, Schweigen, Verschweigen durch einseitiges Verständnis
maßgeblich beteiligt. Wider aller Menschenrechte wird seit Jahrzehnten
den Palästinensern unsagbares, verbrecherisches Unrecht angetan. Aus dem
verinnerlichten 'NIE WIEDER', das sich auf unsere jüdischen Mitbürger
bezog und bezieht, wurde ein: NIE WIEDER, NIRGENDWO, MIT NIEMANDEN.
MM: Und wie kam dieser große Umfang an
Informationen Ihres Portals zusammen?
Arendt:
Eine Pro-Palästina-Demo vor zwei Jahren regte mich
an, Bilder und einen Bericht darüber in das Internet zu stellen. Eine
kleine Linksammlung kam hinzu, die immer größer wurde, ergänzt um Text-
und Bildersammlungen zu unterschiedlichen Themen. Am 30.4.2002 entstand so
'Dschenin',
später kam die Iranseite: 'der
Iran zwischen den Zeiten' hinzu. Mit dem Beginn des Irak-Krieges
entstanden dann die Irak-Seiten: 'Der Irak brennt' und die Seiten: 'USA,
das neue Imperium'. Als Abrundung des Themenbereichs kam vor kurzem
dann noch die Seite:
'Glaube'
hinzu, die sich seit Monaten schwerpunktmäßig mit dem Islam
beschäftigt, der nicht überwunden, sondern verstanden und wechselseitig
als gleichwertig und gleichwürdig erkannt werden muss.
MM: Können Sie verstehen, wenn
einerseits in Deutschland geschichtlich bedingt das Judentum und Israel
nahezu als Synonym betrachtet und "geschützt" wird und
andererseits für Muslime Israel etwas ganz anders ist als das Judentum?
Arendt: Eine sehr vielseitige, vielschichtige Frage, die kurz
beantwortet nur ein Versuch sein kann, ihr gerecht zu werden. Mehrheitlich
wird das Judentum und Israel zurzeit sicher noch gleichgesetzt, doch
abgesehen vom verurteilenswerten Antisemitismus, gibt es doch mittlerweile
recht unterschiedliche Erklärungsansätze, auch von der jüdischen Seite,
die täglichen Bilder der Gewalt in Palästina lassen auch immer mehr
Fragen stellen. Aus der Tiefe der historischen Verstrickung heraus gibt es
gegenüber Juden, und hier besonders gegenüber den Opfern besondere
Rücksichtsnahmen, denen ich mich auch als Nachgeborener
selbstverständlich verpflichtet fühle, die auch auf der menschlichen
Ebene verständlich sein müssen.
MM: Was bedeutet denn Israel für viele
Deutsche?
Arendt: Israel ist für die meisten Deutschen sicher die Verkörperung
einer Heimstatt der Juden die geschützt werden muss. Hier akzeptiert man
demzufolge die zionistische Idee und empfindet es als unanständig, nicht
angemessen, sie zu kritisieren, sie auch aufgrund der Gründungsgeschichte
Israels in Frage zu stellen.
MM: Ist aber selbst für jemanden, der
die zionistische Idee nicht ablehnt, nicht dennoch möglich, das Unrecht
zu erkennen, welches von der zionistischen Staatsgründung ausgeht?
Arendt: Es gibt gesamtgesellschaftliche Entwicklungen die ihre Zeit
brauchen. Ich selber bin, aus dem verinnerlichten Schuldgefühl der
Deutschen heraus noch nicht lange an dem Punkt, dass ich Israel als das
Land für die Juden bejahe und Antisemitismus sicher jederzeit bekämpfen
werde, dass ich aber die israelische Regierung, das Militär und weite
Teile der Politik auf das Schärfste kritisieren und verurteilen muss. Den
Palästinensern geschieht maßloses Unrecht und ich muss sagen: NIE
WIEDER. Sehr viele Deutsche können diesen Schritt noch nicht
nachvollziehen. Am deutlichsten hat man das rund um die antisemitischen
Vorwürfe, die man Jürgen Möllemann - wie ich finde zu Unrecht -
angedichtet hat, gesehen. Es gibt auch in Deutschland Gruppen, z.B.
Honestly Concerned
die vortrefflich und schändlich uns und die Opfer des Holocaust ein
zweites Mal missbrauchen und alles Kritische mit einem
Antisemitismusverdacht belegen, um so von der Kritik an der israelischen
Regierung abzulenken.
Wir Deutschen haben sicher noch sehr große
Probleme damit wahrzunehmen, dass Israel als Staat aufgrund seiner
militärischen Stärke (fünftstärkste Waffenmacht der Welt) nicht mehr
das hilflose Opfer von damals ist und sicher nie wieder werden wird und
soll, seinerseits aber über den Schutz seiner Existenz zum Aggressor
geworden ist.
MM: Können Sie denn verstehen bzw.
nachvollziehen, dass die deutsche geschichtliche Erfahrung nicht auf alle
Völker gleichermaßen wirkt, zumal sie nicht am Holocaust beteiligt
waren?
Arendt: Durch meine Frau (Iranerin) bin ich mit Menschen aus den
unterschiedlichsten islamischen Ländern zusammengekommen und mir ist
manches vertraut, was ein normaler" Urdeutscher sicher nicht
so einfach wahrnimmt. Urdeutsch deshalb, weil es ja wachsende Zahlen von
Deutschen gibt, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, dem Islam
anhängen oder nicht in die schuldhafte Verstrickung der Deutschen
eingebunden sind.
Muslime, Menschen aus islamischen oder vielen
nichteuropäischen Ländern haben den Holocaust nicht so wahrgenommen wie
wir "Urdeutschen" und die aus einer anderen Geschichte heraus
ein völlig anderes Verhältnis zu Juden haben.
Die Existenz Israel ist einerseits noch nicht
allgemein anerkannt, wobei es aber sicher kaum ein anderes Land wie Israel
gibt, das ohne feste Grenzen existiert und so wiederum eine ständige
Bedrohung für die Nachbarnstaaten ist.
Die moslemischen Länder sehen im Staat Israel
unter anderem auch das Produkt der Vertreibung und Unterdrückung der
Palästinenser. Sie erleben einen Staat, der waffenstark, vom Westen, von
den USA unterstützt, den sie als Bedrohung wahrnehmen.
Vor allem weil Israel im Nahostkonflikt
unangemessen hart reagiert, durch Militäreinsatz, durch Vertreibung und
nicht durch Verhandlungen seine Ziele zu erreichen versucht, kann man
verstehen, dass islamische Länder ein anderes Verhältnis zu Israel
haben, wobei auf beiden Seiten Vertreibung und Vernichtung nicht zu
tolerieren ist. Insofern machen wir Deutsche uns sicherlich nicht erneut
an Juden schuldig, wenn wir das Verhalten Israels den Palästinenser
gegenüber kritisieren und wir gerade aus unserer Vergangenheit sagen
müssen: NIE WIEDER, NIRGENDWO VON NIEMANDEN. Erst durch einen für beide
Seiten gerechten Frieden, zu dem die Israelis sehr viel mehr beitragen
können und müssen, wird sich mit Sicherheit das Verhältnis der
islamischen Welt zu den Israelis entscheidend ändern.
MM: Zweifelsohne ist das Interesse am
Islam auch in diesem Land geradezu "dramatisch" gestiegen.
Können Sie sich als Deutscher, der die gesamte Nachkriegszeit bewusst
miterlebt hat vorstellen, dass Muslime eins Tages ein integraler
Bestandteil der deutschen Gesellschaft werden?
Arendt: Ja, ich erlebe es auch teilweise schon so. Es gibt sicher auch
jetzt schon sehr unterschiedliche wechselseitige Beziehungen der
Anerkennung und Ablehnung der Kultur des anderen. Wenn die hier lebenden
Muslime Teil der deutschen Gesellschaft werden wollen und sollen, ist eine
wechselseitige Akzeptanz absolut notwendig und wichtig, aus der heraus
sich sicher eine teilweise Durchdringung der Kulturen entwickeln könnte.
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass wir bereichernd Einflüsse aus dem
Orient zugelassen haben und als gesamtgesellschaftlich auch einen
wechselseitigen Gewinn davon hatten. Letztlich, wie es in den arabischen
Ländern unterschiedliche Ausprägungen des Islams gibt, so wird sich
sicher auch in Deutschland eine eigenständige westliche muslimische
Kultur entwickeln, die ein konfliktfreies gesellschaftliches buntes,
multikulturelles Gemeinschaftsleben entstehen lässt. Auch der Islam muss
sicher, wie das Christentum, eine Reformation erleben. Ich denke auch, das
trotz eines Fremdenhasses, trotz der Angst vor dem Fremden, Deutschland
schon immer aufnahmefähig für neue multikulturelle Einflüsse war. Dies
muss aber zur Vorraussetzung haben, das sich sowohl Deutsche als auch
Muslime öffnen, den anderen wahrnehmen und zu einer friedlichen
Koexistenz bereit sind. Insofern kann und darf keine Seite im
fundamentalistischen Denken verharren, muss es dabei die Möglichkeit
geben, die jeweils eigene Kultur in seiner jeweiligen Vielfalt zu leben
und zu erhalten.
MM: Aber hat sich nicht seit dem 11.9.
einiges geändert an der allgemeinen Situation?
Arendt: Dramatisch bedingt durch den 11.9.01 und der falschen
unsensiblen Politik Bushs, natürlich auch bedingt durch den wachsenden
Terror, setzt man immer mehr den Islam mit Islamisten und Extremisten
gleich, und verteufelt damit eine ganze Religion. Diese Stimmung wird auch
benutzt, um neue Feindbilder zu prägen. Die anfänglichen
Differenzierungsversuche, Erklärungsversuche hört man immer weniger.
Abgesehen von den wirtschaftlichen Interessen der USA spielt dabei ein
wachsender christlicher Fundamentalismus eine große Rolle.
MM: Nachgefragt: Wie ist es mit der
Integration der Muslime in Deutschland?
Arendt: Wenn alle Nationen vermischt sind, werden viele geistige
Grenzen fallen, und ein globale Gesellschaft ohne Rassismus kann
entstehen. Ob nun die Muslime integraler Bestandteil werden, hängt nicht
zuletzt auch davon ab, ob die Muslime sich öffnen können, um sich
ihrerseits in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.
Ich kann mir vorstellen, dass auch die Muslime
selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft werden, so
wie sie es zum Teil auch schon sind. Ich hoffe nicht, das die berechtigte
Angst vor importiertem Terror die herrschende grundsätzliche Toleranz
Deutschland in dem Sinne verändert, das unser freiheitliches Leben, die
Akzeptanz anderer Kulturen und Religionen, darunter leidet.
MM: Wie glauben Sie, können deutsche
Nichtmuslime und Muslime das gegenseitige Verständnis verbessern?
Arendt: Die Geschehnisse des 11.09.2001
werden oft zu einseitig, generalisierend mit dem Islam, verbunden, das
müssen die westlichen Gesellschaften differenzieren. Muslime sollten der
deutschen Gesellschaft die Sicherheit geben, dass sie selbstverständlich
die bestehende Kultur und Rechsprechung akzeptieren. Dieses erlebe ich
eigentlich auch tagtäglich, selbstverständlich in meinem Umfeld.
Gleichzeitig ist auch festzustellen, dass es auf
beiden Seiten Menschen gibt, die sich der Verständigung bis ins extreme
verschließen. Gewalt und Extremismus sollte auf allen Seiten bekämpft
werden und die Ursachen erkannt werden. Die vorhandene Bereitschaft hierzu
muss dem andern vermittelt werden, erlebbar sein. Das ist nicht etwas was
man nur einseitig fordern und erfüllen kann.
Christen und Andersdenkende müssen auch
wahrnehmen, dass der Islam, so wie das Christentum, keine Religion der
Gewalt ist, und dass Muslime auch durch den Koran bestätigt ihre
Handlungsweisen ständig auf Lebbarkeit überprüfen, und ihre Ordnung den
Problemstellungen der Gegenwart anpassen sollten und können. Der Islam
ist offener, als viele Vordenker glauben wollen. Im Kern treffen sich auch
alle Religionen in dem Satz: "Es gibt keinen Zwang im Glauben."
(Sura 2:256)
Wenn man weiß und akzeptiert, dass die
Alternative Gewalt oder Frieden sich nicht aus einer Religion heraus
erklärt, sondern aus Gruppierungen heraus, die diese Religion
missbrauchen, aus der unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklung
heraus, wächst auch das wechselseitige Verständnis.
Letztlich, wird die Religion und wird die
Demokratie richtig verstanden, wenn es ein gemeinsames Wetteifern um die
Erfüllung der göttlichen Gebote ist, wenn es um das Praktizieren der
positiven menschlichen Erkenntnisse im täglichen Leben geht. Wenn es das
ist, lebt jeder seinen Grundsätzen entsprechend die positiven Seiten des
Menschseins, der Religion als guter Mensch aus und versucht dabei,
es dem anderen gleichzutun, ihn zu übertreffen.
MM: Und was können die
"Offiziellen" auf beiden Seiten zum friedvollen, aber auch
konstruktiven Miteinander beitragen?
Arendt: Eine Vorraussetzung ist die
Selbstverständlichkeit, dass sprachliche Barrieren beseitigt werden. Das
ist ebenfalls eine Frage des Förderns, aber auch des Forderns. Die
Sprache ist die Basis der Verständigung.
Wie Muslime das gegenseitige Verständnis
fördern, den Nichtmuslimen Sicherheit geben können, demonstriert ein
Grundsatzpapier des: Rates der islamischen Gemeinschaften in Hamburg
e.V.,
Muslime
in einer pluralistischen Gesellschaft.
Dieses Grundsatzpapier sagt eindeutig, wo die
Muslime in Deutschland stehen und wozu sie sich verpflichten. Solche
öffentlichen wechselseitigen Erklärungen sind von besonderer Bedeutung,
weil sie eine gemeinschaftliche gesellschaftliche Vertrauensbasis bilden,
eine verpflichtende, einzufordernde Basis, aber auch ein Grundlage der
Verteidigung gegen die wachsenden Bestrebungen, den Islam zu
dämonisieren. Eben diese Sicherheit sollten andere Religionen, sollte der
Staat auch den Muslimen bieten.
Die Medien, Politiker und Wissenschaftler sollten
differenzieren und aufgrund der Terrorgefahr sich hüten einer Hysterie
und einer einseitigen negativen Deutung des Islams zu verfallen, und diese
zu verbreiten. Sie sollten nicht nachlassen, dem entgegenzuwirken.
Hierzu gehört auch eine wechselseitige
erkennbare Rechtschaffenheit im Handeln. In jeder Religion erkennen
wir Kräfte, die die Religion versuchen, für Machzwecke zu missbrauchen.
Es muss erkennbar werden und bleiben, dass dies auf allen Seiten Feinde
des Friedens sind.
MM: Herr Arendt, wir danken Ihnen für das
Interview.
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