MM: Sehr geehrter Norbert Müller. Auch
wenn Sie die Frage schon 1000 Mal gehört haben, auch noch einmal für
unsere Leser in Kurzform: Warum sind Sie Muslim?
Norbert Müller:
Ich stamme aus einer Familie, die ich mal so als
"Kulturchristen" bezeichnen möchte, also so ein "einmal-Weihnachten-in-die-Kirche-Christentrum".
Ich kann mich aber erinnern, als Kind mit gewissem Eifer in den
sonntäglichen "Kindergottesdienst" gegangen zu sein. Mir gefielen die
biblischen Geschichten und ich malte gern passende Bilder dazu. In der
Pubertät änderte sich das. Es waren die siebziger Jahre und ich schloss
mich einer linken Schülergruppe an. Von da an wurden für einige Zeit
Lenin, Mao und Che Guevara meine Leitbilder. Im übrigen gab es zu dieser
Zeit in diesem Kontext für einen "erlebnisorientierten" Jugendlichen auch
spannende Sache wie Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, die bisweilen
auch mal gewisse Scharmützel mit der Polizei beinhalteten.
Bezüglich Religion nahm ich die Haltung ein, ein
Atheist sein zu wollen. Ich formuliere das jetzt mal bewusst so, weil ich -
rückblickend betrachtet - meine, im Innern immer ein gläubiger Mensch
gewesen bin, dem solches damals aber nicht in sein Selbstbild passte. Vom
Islam wusste ich bis dahin nichts bzw. hatte nur die Bilder im Kopf, die
jeder mehr oder weniger erwirbt, der mal Karl May gelesen. Mit dem Islam kam
ich dann aber auf zweierlei Weise in Berührung: Im Fernsehen sah ich Bilder
der islamischen Revolution im Iran. Diese beeindruckten mich nachhaltig,
weil ich sah, wie Religion Massen mobilisierte, eine Diktatur zu stürzen.
Und diese Religion artikulierte Werte, die ich auch als die meinigen
begriff: Gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit. Dies beeindruckte mich
deshalb, weil mir Religion bezogen auf die christliche Kirche im Kontext der
europäischen Geschichte in einem anderen Licht erschienen war, nämlich als
Diener der Herrschenden und Mächtigen. Und wenn einmal kirchlicher
Widerstand geleistet wurde, wie von der Bekennenden Kirche im
Nationalsozialismus, dann eher als Dissidenten zur offiziellen Institution.
Von da an begann mich diese Religion, der Islam, zu interessieren und es
entwickelte sich eine Faszination, die mich nicht wieder los lassen sollte.
Zu dieser Zeit freundete ich mich auch mit einigen
türkischen Muslimen an. Wir verbrachten oft viel Zeit miteinander. Ich nahm
Anteil an ihrem Leben, ihrer Kultur und ihrer Religion, dem Islam. Mir
gefiel ihre Lebensweise und es ergab sich bei mir so eine Art Hang zur
orientalischen Kultur. Später ergaben sich weitere Freundschaften und Reisen
in islamische Länder: In die Türkei und den Libanon, nach Syrien und
Palästina. Ich habe mich dabei immer wieder bemüht, mehr über den Islam zu
wissen und zu erfahren, was mich darüber auch dem Glauben immer näher
gebracht hat. Ich hatte also mit der Zeit Sympathien für den Islam
entwickelt, ohne jedoch gläubig zu sein. Dies kam erst zu einem späteren
Zeitpunkt. So gegen Ende meines Studiums und Beginn der beruflichen
Tätigkeit erlebte ich privat Brüche und Krisen, die mich damals psychisch
sehr belasteten (die Hintergründe genauer ausführen würde jetzt den Rahmen
dieses Interviews sprengen). Sie führten mich aber zu einer sehr intensiven
Auseinandersetzung über Fragen meiner eigenen Existenz und der Existenz
Gottes, Sinn und Ziel unseres irdischen Daseins, wie man überhaupt "richtig"
Leben und welchen Weg man gehen soll. Ich hatte also Fragen, auf die
Religion antworten geben soll. Was lag für mich näher, als diese Antworten
jetzt im Islam zu suchen. Die Antworten haben mich überzeugt. Im September
1991 habe ich im Islamischen Zentrum Hamburg das Glaubensbekenntnis
gesprochen.
MM: Sie sind Vorsitzender der Gesellschaft
Muslimischer Sozial- und Geisteswissenschaftler (GMSG). Wie wird
ausgerechnet ein Anwalt Vorsitzender einer solchen Vereinigung?
Norbert Müller:
Nun, Juristen stehen den Sozial- und
Geisteswissenschaften ja nicht fern. Zur Erläuterung der Motivation meines
dortigen Engagements muss ich Erlebnisse erzählen, die eigentlich noch zur
vorherigen Frage gehören: Wie ich erzählt habe, suchte ich eine intensivere
Auseinandersetzung mit dem Islam. Meine muslimischen Freunde und Bekannten
fühlten sich ob meiner Diskussionswünsche mit ihrem eigenen islamischen
Bildungshintergrund bald überfordert und rieten mir zum Gespräch mit einem
Theologen. Ich begab mich in eine türkische Moschee für ein Gespräch mit dem
dortigen Imam. Ehrlich gesagt war das damals für mich sehr enttäuschend.
Erstens konnte der Imam kein Deutsch und zweitens bekam ich statt Antworten
auf meine Fragen zum Islam einen schlecht übersetzten Kurzvortrag über
Geschichte und Größe des osmanischen Reiches... Ich habe dann noch längere
Zeit vergeblich nach geeigneten Gesprächspartnern gesucht bis von dem
deutschsprachigen Qur´an-Unterricht von Imam Razvi im Islamischen Zentrum
Hamburg hörte.
Meine damaligen Erfahrungen sind insoweit
symptomatisch, als der Islam in Deutschland in weiten Teilen davon geprägt
ist, eine Unterschichtsreligion zu sein, deren Angehörige zumeist Migranten
mit geringer Bildung sind, die eben nicht nach Deutschland kamen, um hier
den Islam zu lernen und zu lehren, sondern um zu arbeiten. Insbesondere gibt
es wenig Menschen, die das Wissen dieser Gesellschaft und islamisches Wissen
erworben haben: Es fehlen muslimische Intellektuelle! Dies hat sich immer
wieder schmerzlich bemerkbar gemacht, weil uns Menschen fehlen, die in
angemessener Weise als Muslime in die geistigen Auseinandersetzungen dieser
Gesellschaft eingreifen können. Eine Folge war, dass sich in diesem Freiraum
die Spezies des sogenannten "Islamexperten" entwickeln konnte - oft
(nichtmuslimische) Journalisten, die zwar einiges zum Thema publiziert
hatten, tatsächlich über nur über rudimentäres, meist auf jeden Fall
einseitiges Islamwissen verfügten. Diese Personen beherrschten nahezu
vollkommen den öffentlichen Diskurs über den Islam, was aus Sicht der
Muslime nicht unerhebliche Probleme verursacht hat. Um es noch mal zu
betonen: Ursache ist nicht unbedingt immer Böswilligkeit von Medien usw.,
sondern auch dem Umstand geschuldet, dass die Muslime nicht oder wenig über
Personen mit der erforderlichen intellektuellen Kompetenz verfügten.
Überhaupt muss man feststellen, dass die
Sozialwissenschaften lange von den Muslimen vernachlässigt worden waren: Wer
früher als Muslim zum Studium hierher kam, studierte entweder auf Ingenieur
oder Mediziner. Das hat sich aber in der letzten Zeit merklich geändert. Die
GMSG hat von Anfang an das Ziel verfolgt, diesen Prozess zu unterstützen.
Ferner soll ein Forum geschaffen werden für wissenschaftliche Debatten über
islamrelevante Themen. Es soll also, in einem zugegebenermaßen bescheidenen
Rahmen, versucht werden, muslimische intellektuelle Kompetenz zu fördern.
MM:
Zweifelsohne aber hat sich die "Atmosphäre" für Muslime in Deutschland in
den letzten Monaten und Jahren erheblich verschlechtert. Wie erleben Sie als
deutschstämmiger Muslime diese Entwicklung?
Norbert Müller: Nach
meiner Beobachtung kann man hier deutlich bestimmte Entwicklungsphasen
festmachen. So vor ca. 15 Jahren gab es gewisse islamfeindliche Stimmungen
in der Bevölkerung, diese aber fest verbunden mit gewissen außenpolitischen
Ereignissen wie etwa dem Golfkrieg 1991 und insoweit auch begrenzt. Die
Muslime in Deutschland wurden fast gar nicht beachtet. Sie fielen unter
Ausländer, schienen also mit der Gesellschaft als solches nichts zu tun zu
haben, und so mancher mag gedacht haben, diese Ausländerreligion würde mit
der Zeit einfach verschwinden, sei es durch Rückwanderung, sei es durch
Assimilation.
Den ersten Einschnitt gab es
dann Ende der neunziger Jahre, als man in Deutschland realisieren musste,
dass die nationale Lebenslüge Deutschland ist kein Einwanderungsland nicht
mehr aufrecht zu erhalten war. Nun musste man auch realisieren, dass hier
Muslime gab und es eine muslimische Minderheit auf Dauer geben würde, und
zwar auch als den Glauben praktizierende, also insoweit nicht assimilierte.
Dies war die Geburt des Konstruktes der sogenannten Parallelgesellschaft
und der Skandalisierung ihrer Attribute von der Satellitenschüssel bis
Kopftücher, Kopftücher und noch mal Kopftücher. Es gab die Heitmeyer-Studie
und den berüchtigten Gefährlich Fremd Spiegel-Titel. Im Grunde wurden
damals die Debattenstränge gelegt, die auch heute die Auseinandersetzung
bestimmen. Der nächste Einschnitt war natürlich der 11.09.01 und damit bekam
alles eine internationale und vor allem eine kriegerische Dimension. Der
Krieg gegen den Terror war von Anfang an realiter ein Krieg gegen den
Islam. Muslime waren nun nicht nur ein Integrations-, sondern vor allem ein
Sicherheitsproblem. Ich war damals teilweise schon erstaunt, wie schnell
einige jetzt in Bezug auf Muslime bereit waren, bürgerrechtliche Standards
dieser Gesellschaft plötzlich vom Tisch zu wischen. Observieren, verbieten,
ausweisen, internieren alles war möglich und diskutabel. Man bekam ein
Gefühl von Ausnahmezustand und dem Bewusstsein, einer Minderheit
anzugehören. Eine nochmalige und wie ich meine von der Qualität sehr
deutliche Eskalation erlebte diese islamfeindliche Atmosphäre im letzten
Herbst nach dem van Gogh-Mord. Es hatte eine andere Qualität nicht nur
deshalb, weil die Stimmung aggressiv gegen Muslime war wie nie zuvor,
sondern weil es sich nicht gegen tatsächliche oder vermeintliche Extremisten
oder Terroristen unter den Muslimen richtete, sondern nun quasi der normale
Muslim zur gesellschaftlichen Gefahr stilisiert wurde. Der Diskurs bestimmte
eine imaginäre abendländische Leitkultur und jede islambedingte
Abweichung, sei es das Tragen des Kopftuches oder auch nur die Weigerung, am
angeblich gemeinschaftsbildenden Ritual des Alkoholkonsums teilzunehmen,
konnte einem zum Feind der Gesellschaft stempeln. Überhaupt: Nicht wenige
meinten scheinbar, nunmehr ihren Aggressionen gegenüber Muslimen freien Lauf
lassen zu können und insbesondere ihnen zu sagen Stichwort "Ziegenficker"
- , was man ihnen schon immer mal sagen wollte, aber lange Zeit unterdrückt
hatte, weil sich solches Benehmen Stichwort "political correctness"
nicht gehörte. Augenblicklich hat sich das ja wieder etwas beruhigt, aber
warten wir auf den nächsten Knall...
Eines muss dazu aber ganz
deutlich gesagt werden: Die Muslime tragen eine nicht unerhebliche
Mitverantwortung an dieser Entwicklung. Das fängt damit an, dass sich viele
Muslime, obgleich sie hier lebten, über lange Zeit kaum, eigentlich
überhaupt nicht um die deutsche Gesellschaft geschert haben. Sie lebten mit
ihren Köpfen in ihren Herkunftsländern. Man stellte zwar Anträge auf
Befreiung vom Schwimmunterricht oder Genehmigung einer Moschee bei den
zuständigen Behörden, verschwendete an die vielleicht notwendige
gesellschaftliche Vermittlung kaum einen Gedanken. Politische Debatten wie
die Ende der achtziger Jahre beginnende über Multikulturalität (als die
deutsche Gesellschaft hierfür noch in einer ganz anderen Weise offen war als
heute) gingen an den meisten Moscheen komplett vorbei. Man kann sogar
feststellen, dass unter den Migranten die praktizierenden Muslime den
insoweit zurück gebliebensten Teil bildeten. Säkularisierte Türken etwa
waren da viel eher gesellschaftlich präsent. Die Muslime erwachten quasi
erst Ende der neunziger Jahre, als ihnen der Wind ins Gesicht zu blasen
begann. Hinzu kommt, dass sich in den Köpfen vieler Muslime gewisse
islamische Fehlvorstellungen festgesetzt hatten, die ihnen ein realistisches
Verhältnis zum politischen System und zur gesellschaftlichen Teilhabe in
Deutschland verbauten. Aus einer Mischung aus Ressentiment und
oberflächlichem Verständnis islamischer Quellen meinten nicht wenige, etwa
Demokratie oder Menschenrechte seien unislamische Dinge und daher
abzulehnen. Heute haben wir diesbezüglich in der großen Mehrheit der Muslime
natürlich einen anderen Bewusstseinsstand, wobei nach meiner Beobachtung die
sehr intensive, hier aber kaum wahrgenommene Debatte in der Türkei nach dem
kalten Putsch gegen Erbakan und die anschließende Repressionsphase über die
Fehler der islamischen Bewegung nicht unwesentlich zu dieser
Bewusstseinsänderung beigetragen hat. Ich habe aber gerade in der Zeit nach
dem 11.9., als wir eben darauf angewiesen waren auf welcher
Anspruchsgrundlage will man denn dagegen argumentieren, nach Guantanamo
gesperrt zu werden - , immer wieder gespürt, dass wir Muslime bei der
Berufung auf Menschen- und Bürgerrechte ein Glaubwürdigkeitsdefizit haben.
MM:
Welche Erfahrungen machen Sie als Anwalt, der zunehmend auch Muslimen
vertritt?
Norbert Müller: Da
muss man natürlich unterscheiden. Einmal haben Muslime in dieser
Gesellschaft die gleichen Rechtskonflikte wie andere Menschen auch. Sie
haben Verkehrsunfälle, Streitigkeiten mit Arbeitgeber und Vermieter,
Familienkonflikte und werden bei eBay betrogen. Das ist aller erst mal
ziemlich religionsneutral. Was die rechtliche Bewältigung von Ehekonflikten
betrifft, so hat das bei muslimischen Ehepartnern natürlich auch einen
islamischen Rechtsbezug und da wird z.T. auch bewusst der muslimische
Rechtsanwalt aufgesucht. So erhält man auch einen recht ungeschminkten Blick
auf die gesamte soziale Lebenswirklichkeit von Muslimen in Deutschland mit
zerrütteten Familien, Überschuldung, Straffälligkeit etc. Vieles ist davon
Ausdruck der sozialen Marginalisierung vieler Muslime in Deutschland.
Es gibt aber einige ganz
islamspezifische Mandate und die sind in letzter Zeit signifikant mehr
geworden. Ich nenne da mal Beispiele: Seit dem 11.9. gibt es bei
Einbürgerungen die Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Werden die fündig,
lehnt die Ausländerbehörde die Einbürgerung ab. Das kann unterschiedliche
Hintergründe haben. Beispielsweise ist der Betreffende einmal
Vorstandsmitglied eines Moscheevereins gewesen, der vom Verfassungsschutz
(VS) als von einer extremistisch bewerteten Organisation (z.B. IGMG) gelenkt
gesehen wird. Oder der VS beruft sich auf Erkenntnisse, also
Spitzelberichte, wonach der X mehrfach an Versammlungen in der
extremistischen Y-Moschee teilgenommen habe. Das bringt den Antragsteller
dann in die immer schwierige Lage, hiergegen seine Unschuld darlegen zu
müssen. Zugenommen haben auch Konflikte wegen Kopftuch am Arbeitsplatz und
deshalb ausgesprochener Kündigungen. Hier gibt es aber eine Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts, die es Arbeitgebern der Privatwirtschaft äußerst
schwer macht, eine Kopftuchkündigung aussprechen, und ich habe mich ehrlich
gesagt gewundert, wie vor diesem Hintergrund selbst rechtlich gut beratene
renommierte Firmen gekündigt und dann vorm Arbeitsgericht verloren haben.
Da muss ein erheblicher Druck von wegen Image des Hauses und die
Erwartung, dass die betroffene Frau sich unter diesen Umständen nicht werde
wehren können, eine Rolle gespielt haben.
MM:
Was meinen Sie müsste sich bei der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft
ändern und was bei den Muslimen in Deutschland, damit die Entwicklung zu
einem konstruktiven Miteinander geführt werden kann.
Norbert Müller: Die
Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Erst einmal gibt es nicht die
Mehrheitsgesellschaft als gegenüber den Muslimen einheitliche Formation.
Dies sollte man schon genauer analysieren. So gibt es eine Entwicklung in
der Mehrheitsgesellschaft, also eine Strömung dort, die nach meiner
Beobachtung den Islam ganz bewusst als Vehikel benutzt, um in Abgrenzung
dazu eine abendländische Identität und Leitkultur zu konstruieren. Dies
konnte man in der Kopftuchdebatte beobachten und noch mehr in der Hysterie
nach dem van Gogh-Mord. Im Grunde sind viele Menschen schwer verunsichert,
was denn die viel beschworenen gemeinsamen Werte der Gesellschaft sein
sollen und was sie eigentlich verbindet und so soll das Konstrukt des
gefährlichen Muslims und die Abgrenzung von diesem ganz Anderen diese
Gemeinsamkeit wieder neu herstellen. In dieser Front der Verteidiger der
westlichen Wertegemeinschaft gegen den Islam finden sich dann ganz
unterschiedliche Partner ein von Herrn Beckstein bis Frau Schwarzer. Da
ihnen also die Kulturkampfstellung gegen den Islam ein eigenes Bedürfnis
ist, haben sie an einem konstruktiven Miteinander im Grunde kein wirkliches
Interesse. Eher im Gegenteil. Ich unterstelle das jetzt mal so. Dies ist bei
den Neokonservativen der USA im übrigen auch so, für die der Terrorismus ein
nützliches Instrument darstellt zur Mobilisierung für eine globale Hegemonie
der USA.
Dies ist wie gesagt nur eine
gesellschaftliche Strömung, die aber im letzten Herbst sehr deutlich die
Tagesordnung der politischen Debatte bestimmt hat. Da sind andere Teile der
deutschen Politik, die durchaus ein ehrliches Interesse an einem
konstruktiven Miteinander mit den Muslimen haben, genau deshalb erheblich in
die Defensive geraten. Dies hat man etwa an den Grünen gesehen, denen quasi
das Copyright auf die multikulturelle Gesellschaft anhängt und die wohl
nicht unbegründet fürchteten, deshalb jetzt mit durch den Wolf gedreht zu
werden. Wir Muslime müssen uns da aber auch deutlicher positionieren. Wir
müssen unzweifelhaft verdeutlichen, dass wir für Freiheit, Pluralismus,
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie einstehen, weil diese Werte nicht nur unsere
Existenz als religiöse Minderheit sichern, sondern nach unserem islamischen
Verständnis von grundsätzlichem gesellschaftlichen Wert sind. Wir müssen
vermitteln, dass dies die Basis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von
Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung in dieser
Gesellschaft ist, anders die Gefahr besteht, dass wir uns immer mehr auf die
Schiene eines Kulturkrieges begeben. Innerislamisch gibt es da aber durchaus
Diskussionsbedarf, weil diese Perspektive nach meinem Eindruck nicht immer
von allen so geteilt wird, auch wenn bewusste Gegner einer
gesellschaftlichen Integration unter den Muslimen rein quantitativ nur eine
Randgruppe darstellen.
MM:
Abschließende Frage: Was ist Ihre ganz
persönliche Hoffnung und Wunsch für die nahe Zukunft in diesem Land?
Norbert Müller: Am
meisten Sorge für die Zukunft bereitet mir eigentlich die teilweise
gravierende soziale Marginalisierung vieler Muslime in Deutschland wie auch
anderen europäischen Ländern. Sie werden gefangen in einem Ghetto aus
Bildungsdefiziten, Arbeitslosigkeit, Verarmung und geringen
gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Da wirken allgemeine
wirtschaftliche Entwicklungen und gesellschaftlicher Rassismus/Islamophobie
in einer für die Betroffenen oft verhängnisvollen Weise zusammen. Wenn wir
da nichts ändern, können noch gewaltige Probleme auf uns zu kommen. Leider
schenkt man dem zur Zeit wenig Beachtung. Ich las gerade heute einen
Kommentar in einer Zeitung, wo es bezogen auf die Türken in Deutschland
heißt, nicht Zwangsheiraten und Ehrenmorde seien deren Problem, sondern die
Arbeitslosigkeit. Wie wahr! Nur verkaufen sich die ganzen kulturellen
Skandalisierungen zur Zeit besser und erfüllen für die deutsche Gesellschaft
zudem eine große Entlastungsfunktion: Die Muslime/Migranten sind vor allem
wegen ihrer Religion doch selbst schuld an ihrer Misere, weshalb wir
Deutschen uns entspannt zurück lehnen und die auch noch ohne schlechtes
Gewissen beschimpfen können. Ganz banal täte ich mir also wünschen, dass man
sich wieder mehr den realen Problemen der Menschen zuwenden würde.
MM: Wir danken für das Interview.
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