Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Norbert Müller
 

Muslim-Markt interviewt 
Norbert Müller, Vorstand der Schura Hamburg und Vorsitzender der GMSG
13.3.2005

Norbert Müller (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaft und arbeitet seit über 15 Jahren als Rechtsanwalt in Hamburg. Im Jahre 1991 wurde er Muslim und hat sich auch immer wieder für verschiedene islamische Belange engagiert. So ist er Mitglied des Vorstands von SCHURA - Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg, eines Zusammenschlusses der meisten Moscheen und islamischen Vereine in Hamburg, sowie Vorsitzender der Gesellschaft Muslimischer Sozial- und Geisteswissenschaftler (GMSG).

Norbert Müller ist verheiratet und hat zwei Kinder.

MM: Sehr geehrter Norbert Müller. Auch wenn Sie die Frage schon 1000 Mal gehört haben, auch noch einmal für unsere Leser in Kurzform: Warum sind Sie Muslim?

Norbert Müller: Ich stamme aus einer Familie, die ich mal so als "Kulturchristen" bezeichnen möchte, also so ein "einmal-Weihnachten-in-die-Kirche-Christentrum". Ich kann mich aber erinnern, als Kind mit gewissem Eifer in den sonntäglichen "Kindergottesdienst" gegangen zu sein. Mir gefielen die biblischen Geschichten und ich malte gern passende Bilder dazu. In der Pubertät änderte sich das. Es waren die siebziger Jahre und ich schloss mich einer linken Schülergruppe an. Von da an wurden für einige Zeit Lenin, Mao und Che Guevara meine Leitbilder. Im übrigen gab es zu dieser Zeit in diesem Kontext für einen "erlebnisorientierten" Jugendlichen auch spannende Sache wie Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, die bisweilen auch mal gewisse Scharmützel mit der Polizei beinhalteten.

Bezüglich Religion nahm ich die Haltung ein, ein Atheist sein zu wollen. Ich formuliere das jetzt mal bewusst so, weil ich - rückblickend betrachtet - meine, im Innern immer ein gläubiger Mensch gewesen bin, dem solches damals aber nicht in sein Selbstbild passte. Vom Islam wusste ich bis dahin nichts bzw. hatte nur die Bilder im Kopf, die jeder mehr oder weniger erwirbt, der mal Karl May gelesen. Mit dem Islam kam ich dann aber auf zweierlei Weise in Berührung: Im Fernsehen sah ich Bilder der islamischen Revolution im Iran. Diese beeindruckten mich nachhaltig, weil ich sah, wie Religion Massen mobilisierte, eine Diktatur zu stürzen. Und diese Religion artikulierte Werte, die ich auch als die meinigen begriff: Gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit. Dies beeindruckte mich deshalb, weil mir Religion bezogen auf die christliche Kirche im Kontext der europäischen Geschichte in einem anderen Licht erschienen war, nämlich als Diener der Herrschenden und Mächtigen. Und wenn einmal kirchlicher Widerstand geleistet wurde, wie von der Bekennenden Kirche im Nationalsozialismus, dann eher als Dissidenten zur offiziellen Institution. Von da an begann mich diese Religion, der Islam, zu interessieren und es entwickelte sich eine Faszination, die mich nicht wieder los lassen sollte.

Zu dieser Zeit freundete ich mich auch mit einigen türkischen Muslimen an. Wir verbrachten oft viel Zeit miteinander. Ich nahm Anteil an ihrem Leben, ihrer Kultur und ihrer Religion, dem Islam. Mir gefiel ihre Lebensweise und es ergab sich bei mir so eine Art Hang zur orientalischen Kultur. Später ergaben sich weitere Freundschaften und Reisen in islamische Länder: In die Türkei und den Libanon, nach Syrien und Palästina. Ich habe mich dabei immer wieder bemüht, mehr über den Islam zu wissen und zu erfahren, was mich darüber auch dem Glauben immer näher gebracht hat. Ich hatte also mit der Zeit Sympathien für den Islam entwickelt, ohne jedoch gläubig zu sein. Dies kam erst zu einem späteren Zeitpunkt. So gegen Ende meines Studiums und Beginn der beruflichen Tätigkeit erlebte ich privat Brüche und Krisen, die mich damals psychisch sehr belasteten (die Hintergründe genauer ausführen würde jetzt den Rahmen dieses Interviews sprengen). Sie führten mich aber zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung über Fragen meiner eigenen Existenz und der Existenz Gottes, Sinn und Ziel unseres irdischen Daseins, wie man überhaupt "richtig" Leben und welchen Weg man gehen soll. Ich hatte also Fragen, auf die Religion antworten geben soll. Was lag für mich näher, als diese Antworten jetzt im Islam zu suchen. Die Antworten haben mich überzeugt. Im September 1991 habe ich im Islamischen Zentrum Hamburg das Glaubensbekenntnis gesprochen.

MM: Sie sind Vorsitzender der Gesellschaft Muslimischer Sozial- und Geisteswissenschaftler (GMSG). Wie wird ausgerechnet ein Anwalt Vorsitzender einer solchen Vereinigung?

Norbert Müller: Nun, Juristen stehen den Sozial- und Geisteswissenschaften ja nicht fern. Zur Erläuterung der Motivation meines dortigen Engagements muss ich Erlebnisse erzählen, die eigentlich noch zur vorherigen Frage gehören: Wie ich erzählt habe, suchte ich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Islam. Meine muslimischen Freunde und Bekannten fühlten sich ob meiner Diskussionswünsche mit ihrem eigenen islamischen Bildungshintergrund bald überfordert und rieten mir zum Gespräch mit einem Theologen. Ich begab mich in eine türkische Moschee für ein Gespräch mit dem dortigen Imam. Ehrlich gesagt war das damals für mich sehr enttäuschend. Erstens konnte der Imam kein Deutsch und zweitens bekam ich statt Antworten auf meine Fragen zum Islam einen schlecht übersetzten Kurzvortrag über Geschichte und Größe des osmanischen Reiches... Ich habe dann noch längere Zeit vergeblich nach geeigneten Gesprächspartnern gesucht bis von dem deutschsprachigen Qur´an-Unterricht von Imam Razvi im Islamischen Zentrum Hamburg hörte.

Meine damaligen Erfahrungen sind insoweit symptomatisch, als der Islam in Deutschland in weiten Teilen davon geprägt ist, eine Unterschichtsreligion zu sein, deren Angehörige zumeist Migranten mit geringer Bildung sind, die eben nicht nach Deutschland kamen, um hier den Islam zu lernen und zu lehren, sondern um zu arbeiten. Insbesondere gibt es wenig Menschen, die das Wissen dieser Gesellschaft und islamisches Wissen erworben haben: Es fehlen muslimische Intellektuelle! Dies hat sich immer wieder schmerzlich bemerkbar gemacht, weil uns Menschen fehlen, die in angemessener Weise als Muslime in die geistigen Auseinandersetzungen dieser Gesellschaft eingreifen können. Eine Folge war, dass sich in diesem Freiraum die Spezies des sogenannten "Islamexperten" entwickeln konnte - oft (nichtmuslimische) Journalisten, die zwar einiges zum Thema publiziert hatten, tatsächlich über nur über rudimentäres, meist auf jeden Fall einseitiges Islamwissen verfügten. Diese Personen beherrschten nahezu vollkommen den öffentlichen Diskurs über den Islam, was aus Sicht der Muslime nicht unerhebliche Probleme verursacht hat. Um es noch mal zu betonen: Ursache ist nicht unbedingt immer Böswilligkeit von Medien usw., sondern auch dem Umstand geschuldet, dass die Muslime nicht oder wenig über Personen mit der erforderlichen intellektuellen Kompetenz verfügten.

Überhaupt muss man feststellen, dass die Sozialwissenschaften lange von den Muslimen vernachlässigt worden waren: Wer früher als Muslim zum Studium hierher kam, studierte entweder auf Ingenieur oder Mediziner. Das hat sich aber in der letzten Zeit merklich geändert. Die GMSG hat von Anfang an das Ziel verfolgt, diesen Prozess zu unterstützen. Ferner soll ein Forum geschaffen werden für wissenschaftliche Debatten über islamrelevante Themen. Es soll also, in einem zugegebenermaßen bescheidenen Rahmen, versucht werden, muslimische intellektuelle Kompetenz zu fördern.

MM: Zweifelsohne aber hat sich die "Atmosphäre" für Muslime in Deutschland in den letzten Monaten und Jahren erheblich verschlechtert. Wie erleben Sie als deutschstämmiger Muslime diese Entwicklung?

Norbert Müller: Nach meiner Beobachtung kann man hier deutlich bestimmte Entwicklungsphasen festmachen. So vor ca. 15 Jahren gab es gewisse islamfeindliche Stimmungen in der Bevölkerung, diese aber fest verbunden mit gewissen außenpolitischen Ereignissen wie etwa dem Golfkrieg 1991 und insoweit auch begrenzt. Die Muslime in Deutschland wurden fast gar nicht beachtet. Sie fielen unter „Ausländer“, schienen also mit der Gesellschaft als solches nichts zu tun zu haben, und so mancher mag gedacht haben, diese „Ausländerreligion“ würde mit der Zeit einfach verschwinden, sei es durch Rückwanderung, sei es durch Assimilation.

Den ersten Einschnitt gab es dann Ende der neunziger Jahre, als man in Deutschland realisieren musste, dass die nationale Lebenslüge „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Nun musste man auch realisieren, dass hier Muslime gab und es eine muslimische Minderheit auf Dauer geben würde, und zwar auch als den Glauben praktizierende, also insoweit nicht assimilierte. Dies war die Geburt des Konstruktes der sogenannten „Parallelgesellschaft“ und der Skandalisierung ihrer Attribute von der Satellitenschüssel bis Kopftücher, Kopftücher und noch mal Kopftücher. Es gab die Heitmeyer-Studie und den berüchtigten „Gefährlich Fremd“ Spiegel-Titel. Im Grunde wurden damals die Debattenstränge gelegt, die auch heute die Auseinandersetzung bestimmen. Der nächste Einschnitt war natürlich der 11.09.01 und damit bekam alles eine internationale und vor allem eine kriegerische Dimension. Der „Krieg gegen den Terror“ war von Anfang an realiter ein „Krieg gegen den Islam“. Muslime waren nun nicht nur ein Integrations-, sondern vor allem ein Sicherheitsproblem. Ich war damals teilweise schon erstaunt, wie schnell einige jetzt in Bezug auf Muslime bereit waren, bürgerrechtliche Standards dieser Gesellschaft plötzlich vom Tisch zu wischen. Observieren, verbieten, ausweisen, internieren – alles war möglich und diskutabel. Man bekam ein Gefühl von Ausnahmezustand und dem Bewusstsein, einer Minderheit anzugehören. Eine nochmalige und wie ich meine von der Qualität sehr deutliche Eskalation erlebte diese islamfeindliche Atmosphäre im letzten Herbst nach dem van Gogh-Mord. Es hatte eine andere Qualität nicht nur deshalb, weil die Stimmung aggressiv gegen Muslime war wie nie zuvor, sondern weil es sich nicht gegen tatsächliche oder vermeintliche Extremisten oder Terroristen unter den Muslimen richtete, sondern nun quasi der normale Muslim zur gesellschaftlichen Gefahr stilisiert wurde. Der Diskurs bestimmte eine imaginäre abendländische „Leitkultur“ und jede islambedingte Abweichung, sei es das Tragen des Kopftuches oder auch nur die Weigerung, am angeblich gemeinschaftsbildenden Ritual des Alkoholkonsums teilzunehmen, konnte einem zum Feind der Gesellschaft stempeln. Überhaupt: Nicht wenige meinten scheinbar, nunmehr ihren Aggressionen gegenüber Muslimen freien Lauf lassen zu können und insbesondere ihnen zu sagen – Stichwort "Ziegenficker" - , was man ihnen schon immer mal sagen wollte, aber lange Zeit unterdrückt hatte, weil sich solches Benehmen – Stichwort "political correctness" – nicht gehörte. Augenblicklich hat sich das ja wieder etwas beruhigt, aber warten wir auf den nächsten Knall...

Eines muss dazu aber ganz deutlich gesagt werden: Die Muslime tragen eine nicht unerhebliche Mitverantwortung an dieser Entwicklung. Das fängt damit an, dass sich viele Muslime, obgleich sie hier lebten, über lange Zeit kaum, eigentlich überhaupt nicht um die deutsche Gesellschaft geschert haben. Sie lebten mit ihren Köpfen in ihren Herkunftsländern. Man stellte zwar Anträge auf Befreiung vom Schwimmunterricht oder Genehmigung einer Moschee bei den zuständigen Behörden, verschwendete an die vielleicht notwendige gesellschaftliche Vermittlung kaum einen Gedanken. Politische Debatten wie die Ende der achtziger Jahre beginnende über „Multikulturalität“ (als die deutsche Gesellschaft hierfür noch in einer ganz anderen Weise offen war als heute) gingen an den meisten Moscheen komplett vorbei. Man kann sogar feststellen, dass unter den Migranten die praktizierenden Muslime den insoweit zurück gebliebensten Teil bildeten. Säkularisierte Türken etwa waren da viel eher gesellschaftlich präsent. Die Muslime erwachten quasi erst Ende der neunziger Jahre, als ihnen der Wind ins Gesicht zu blasen begann. Hinzu kommt, dass sich in den Köpfen vieler Muslime gewisse islamische Fehlvorstellungen festgesetzt hatten, die ihnen ein realistisches Verhältnis zum politischen System und zur gesellschaftlichen Teilhabe in Deutschland verbauten. Aus einer Mischung aus Ressentiment und oberflächlichem Verständnis islamischer Quellen meinten nicht wenige, etwa Demokratie oder Menschenrechte seien unislamische Dinge und daher abzulehnen. Heute haben wir diesbezüglich in der großen Mehrheit der Muslime natürlich einen anderen Bewusstseinsstand, wobei nach meiner Beobachtung die sehr intensive, hier aber kaum wahrgenommene Debatte in der Türkei nach dem kalten Putsch gegen Erbakan und die anschließende Repressionsphase über die Fehler der islamischen Bewegung nicht unwesentlich zu dieser Bewusstseinsänderung beigetragen hat. Ich habe aber gerade in der Zeit nach dem 11.9., als wir eben darauf angewiesen waren – auf welcher Anspruchsgrundlage will man denn dagegen argumentieren, nach Guantanamo gesperrt zu werden - , immer wieder gespürt, dass wir Muslime bei der Berufung auf Menschen- und Bürgerrechte ein Glaubwürdigkeitsdefizit haben.

MM: Welche Erfahrungen machen Sie als Anwalt, der zunehmend auch Muslimen vertritt?

Norbert Müller: Da muss man natürlich unterscheiden. Einmal haben Muslime in dieser Gesellschaft die gleichen Rechtskonflikte wie andere Menschen auch. Sie haben Verkehrsunfälle, Streitigkeiten mit Arbeitgeber und Vermieter, Familienkonflikte und werden bei eBay betrogen. Das ist aller erst mal ziemlich religionsneutral. Was die rechtliche Bewältigung von Ehekonflikten betrifft, so hat das bei muslimischen Ehepartnern natürlich auch einen islamischen Rechtsbezug und da wird z.T. auch bewusst der muslimische Rechtsanwalt aufgesucht. So erhält man auch einen recht ungeschminkten Blick auf die gesamte soziale Lebenswirklichkeit von Muslimen in Deutschland mit zerrütteten Familien, Überschuldung, Straffälligkeit etc. Vieles ist davon Ausdruck der sozialen Marginalisierung vieler Muslime in Deutschland.

Es gibt aber einige ganz islamspezifische Mandate und die sind in letzter Zeit signifikant mehr geworden. Ich nenne da mal Beispiele: Seit dem 11.9. gibt es bei Einbürgerungen die Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Werden die fündig, lehnt die Ausländerbehörde die Einbürgerung ab. Das kann unterschiedliche Hintergründe haben. Beispielsweise ist der Betreffende einmal Vorstandsmitglied eines Moscheevereins gewesen, der vom Verfassungsschutz (VS) als von einer extremistisch bewerteten Organisation (z.B. IGMG) gelenkt gesehen wird. Oder der VS beruft sich auf „Erkenntnisse“, also Spitzelberichte, wonach der X mehrfach an Versammlungen in der extremistischen Y-Moschee teilgenommen habe. Das bringt den Antragsteller dann in die immer schwierige Lage, hiergegen seine Unschuld darlegen zu müssen. Zugenommen haben auch Konflikte wegen Kopftuch am Arbeitsplatz und deshalb ausgesprochener Kündigungen. Hier gibt es aber eine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die es Arbeitgebern der Privatwirtschaft äußerst schwer macht, eine Kopftuchkündigung aussprechen, und ich habe mich ehrlich gesagt gewundert, wie vor diesem Hintergrund selbst rechtlich gut beratene „renommierte“ Firmen gekündigt und dann vorm Arbeitsgericht verloren haben. Da muss ein erheblicher Druck von wegen „Image des Hauses“ und die Erwartung, dass die betroffene Frau sich unter diesen Umständen nicht werde wehren können, eine Rolle gespielt haben.

MM: Was meinen Sie müsste sich bei der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft ändern und was bei den Muslimen in Deutschland, damit die Entwicklung zu einem konstruktiven Miteinander geführt werden kann.

Norbert Müller: Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Erst einmal gibt es nicht die Mehrheitsgesellschaft als gegenüber den Muslimen einheitliche Formation. Dies sollte man schon genauer analysieren. So gibt es eine Entwicklung in der Mehrheitsgesellschaft, also eine Strömung dort, die nach meiner Beobachtung den Islam ganz bewusst als Vehikel benutzt, um in Abgrenzung dazu eine abendländische Identität und Leitkultur zu konstruieren. Dies konnte man in der Kopftuchdebatte beobachten und noch mehr in der Hysterie nach dem van Gogh-Mord. Im Grunde sind viele Menschen schwer verunsichert, was denn die viel beschworenen „gemeinsamen Werte“ der Gesellschaft sein sollen und was sie eigentlich verbindet und so soll das Konstrukt des „gefährlichen Muslims“ und die Abgrenzung von diesem „ganz Anderen“ diese Gemeinsamkeit wieder neu herstellen. In dieser Front der Verteidiger der „westlichen Wertegemeinschaft“ gegen den Islam finden sich dann ganz unterschiedliche Partner ein von Herrn Beckstein bis Frau Schwarzer. Da ihnen also die Kulturkampfstellung gegen den Islam ein eigenes Bedürfnis ist, haben sie an einem konstruktiven Miteinander im Grunde kein wirkliches Interesse. Eher im Gegenteil. Ich unterstelle das jetzt mal so. Dies ist bei den Neokonservativen der USA im übrigen auch so, für die der Terrorismus ein nützliches Instrument darstellt zur Mobilisierung für eine globale Hegemonie der USA.

Dies ist wie gesagt nur eine gesellschaftliche Strömung, die aber im letzten Herbst sehr deutlich die Tagesordnung der politischen Debatte bestimmt hat. Da sind andere Teile der deutschen Politik, die durchaus ein ehrliches Interesse an einem konstruktiven Miteinander mit den Muslimen haben, genau deshalb erheblich in die Defensive geraten. Dies hat man etwa an den Grünen gesehen, denen quasi das Copyright auf die „multikulturelle Gesellschaft“ anhängt und die wohl nicht unbegründet fürchteten, deshalb jetzt mit durch den Wolf gedreht zu werden. Wir Muslime müssen uns da aber auch deutlicher positionieren. Wir müssen unzweifelhaft verdeutlichen, dass wir für Freiheit, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie einstehen, weil diese Werte nicht nur unsere Existenz als religiöse Minderheit sichern, sondern nach unserem islamischen Verständnis von grundsätzlichem gesellschaftlichen Wert sind. Wir müssen vermitteln, dass dies die Basis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung in dieser Gesellschaft ist, anders die Gefahr besteht, dass wir uns immer mehr auf die Schiene eines Kulturkrieges begeben. Innerislamisch gibt es da aber durchaus Diskussionsbedarf, weil diese Perspektive nach meinem Eindruck nicht immer von allen so geteilt wird, auch wenn bewusste Gegner einer gesellschaftlichen Integration unter den Muslimen rein quantitativ nur eine Randgruppe darstellen.

MM: Abschließende Frage: Was ist Ihre ganz persönliche Hoffnung und Wunsch für die nahe Zukunft in diesem Land?

Norbert Müller: Am meisten Sorge für die Zukunft bereitet mir eigentlich die teilweise gravierende soziale Marginalisierung vieler Muslime in Deutschland wie auch anderen europäischen Ländern. Sie werden gefangen in einem Ghetto aus Bildungsdefiziten, Arbeitslosigkeit, Verarmung und geringen gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Da wirken allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen und gesellschaftlicher Rassismus/Islamophobie in einer für die Betroffenen oft verhängnisvollen Weise zusammen. Wenn wir da nichts ändern, können noch gewaltige Probleme auf uns zu kommen. Leider schenkt man dem zur Zeit wenig Beachtung. Ich las gerade heute einen Kommentar in einer Zeitung, wo es bezogen auf die Türken in Deutschland heißt, nicht Zwangsheiraten und Ehrenmorde seien deren Problem, sondern die Arbeitslosigkeit. Wie wahr! Nur verkaufen sich die ganzen kulturellen Skandalisierungen zur Zeit besser und erfüllen für die deutsche Gesellschaft zudem eine große Entlastungsfunktion: Die Muslime/Migranten sind vor allem wegen ihrer Religion doch selbst schuld an ihrer Misere, weshalb wir Deutschen uns entspannt zurück lehnen und die auch noch ohne schlechtes Gewissen beschimpfen können. Ganz banal täte ich mir also wünschen, dass man sich wieder mehr den realen Problemen der Menschen zuwenden würde.

MM: Wir danken für das Interview.

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