MM: Herr Steinberg, Sie sind Jude,
der Muslim-Markt sind Muslime, haben Sie keine Berührungsängste bei
solch einem Interview?
Steinberg: Ich bin zum Teil
jüdischer Abstammung, aber ich bekenne mich nicht zum Judentum. Ich bin
also kein Jude. Ich habe keine Angst vor Auseinandersetzungen mit
irgendeiner religiös gebundenen Gemeinschaft.
MM: Orthodoxe Juden werden Sie jetzt
darauf hinweisen, dass Sie zwar das Judentum verlassen haben, aber das
Judentum Sie nicht verlässt. Glauben Sie, dass das Judentum eine Religion
wie jede andere ist, zu der man sich bekennen kann oder auch nicht?
Steinberg: Auf zwei Aspekte Ihrer
Frage will ich eingehen. Zum einen: Alle Gemeinschaften versuchen,
Mitgliederverlust zu verhindern. Nach katholischer Auffassung zum Beispiel
ist man Katholik von der Taufe bis zur Bahre. Zum andern: Antisemiten
vermochten, Leute in gewissem Sinne zu judaisieren. Das haben die Nazis
gezeigt, etwa am konfessionslosen Jean Améry. Neben dem Bekenntnis gibt
es die gesellschaftliche Zuordnung zu einer Gruppe oder Gemeinschaft.
Deshalb teilen viele Nicht-Juden, die von Juden abstammen, die Angst vor
Antisemiten mit Juden. Durch äußere Zuordnung allein werden Nicht-Juden
aber nicht zu Juden.
MM: Auf Ihren Internetseiten betreiben
Sie eine sicherlich als sehr israelkritisch einzustufende Publikation, was
ist Ihr Antrieb dazu?
Steinberg: Gegenstand meiner
Internetseite ist Herrschaft. Ich suche nach Möglichkeiten zum Abbau von
Herrschaft und ihrer schließlichen Beseitigung. Israel ist ein Land. Ich
kritisiere seine Herrscher. Israels Herrscher, ihr Kapital, ihre Regierung
und ihr Staatsapparat, sind verbündet mit denen, die mich beherrschen -
teils direkt, teils auf dem kurzen Umweg über die US-Herrscher. Deshalb
schenke ich den israelischen Herrschaftsverhältnissen mehr Aufmerksamkeit
als zum Beispiel den nordkoreanischen oder iranischen. Aufgrund meiner
Herkunft glaube ich, zum Verständnis speziell der israelischen
Herrschaftsverhältnisse beitragen zu können.
MM: Was antworten Sie Juden, die Sie als
Antisemiten beschimpfen?
Steinberg: Das ist mir noch
nicht passiert. Bei Juden oder Nicht-Juden, die mich für einen
Antisemiten halten, habe ich eine Vermutung. Sie unterscheiden nicht
zwischen dem Eintreten für Beherrschte und für Herrscher. Sie könnten
in nationalistischen Kategorien verfangen sein. Nationalismus aber ist ein
Herrschaftsmittel.
MM: Können Sie sich vorstellen, dass
einen Tages Juden, Christen und Muslime im Heiligen Land gemeinsam in
einem gemeinsamen Staat leben werden, den sie gemeinsam gestalten und der
dann zwangsläufig kein Judenstaat mehr ist?
Steinberg: Ich habe Juden, Christen
und Muslime in den Sommermonaten des Jahres 1966 in Tunesien so erlebt,
wie es der Spielfilm "Un été à La Goulette" schildert: als
keckes, lebensfrohes Neben- und Miteinander. Im Dokumentarfilm "Route
181", der gerade in Hamburg lief, blicken jüdische Israelis
marokkanischer und tunesischer Herkunft wehmütig auf ihre Jugend im
Maghreb zurück. US-amerikanische und französische Jüdinnen und Juden
haben zu einem hohen Anteil nicht-jüdische Partner. In beiden Ländern
wendet sich die jüdische Minderheit zusehens von ihren rechten jüdischen
Repräsentanten ab und tritt für ein friedliches Zusammenleben ein. Eine
Welt ohne Judenstaat ist umso eher denkbar, je weniger antisemitisch sie
ist. Dazu muß auch verhindert werden, daß unter dem Deckmantel der
Antisemitismus-Bekämpfung Herrschaft verstärkt wird. Die israelischen
Herrscher und die Likudniks in der Welt instrumentalisieren den
Antisemitismus.
MM: Der Einsatz von Muslimen gegen Israel
und Zionismus baut auf einer ganz anderen geschichtlichen Erfahrung auf,
als zweifelsohne existierende antisemitische Aktivitäten von
Rechtsradikalen, die den Begriff Antizionismus missbrauchen. Und neben den
gegenseitigen Ablehnungen gibt es Splittergruppen, die dann auch noch
kooperieren. Wie kann man in solch einer Lage differenzieren zwischen
berechtigtem Antizionismus und rassistischem Antisemitismus?
Steinberg: Antizionismus ist ein
schwammiger Begriff. Man sollte politische Handlungen benennen, die man
billigt, und solche, die man ablehnt. Das führt weiter.
MM: Kommen wir zu Deutschland. Es ist
derzeit nicht zu übersehen, dass Muslime in diesem Land - unabhängig von
ihrer Nationalität - mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert werden,
andererseits alle demographischen Voraussagen davon ausgehen, dass es
morgen mehr deutsche Muslime geben wird als heute. Wie kann man diese
Situation im Sinn der Gesamtgesellschaft konstruktiv angehen?
Steinberg: Konfessionen sind mir
gleich-gültig im Sinne von Radtke, Frank-Olaf: Lob der
Gleich-Gültigkeit. Die Konstruktion des Fremden im Diskurs des
Multikulturalismus. In: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der
Alten Welt? Hrsg. v. Uli Bielefeld. Hamburg: Junius 1991, S. 79 - 96.
Jeder möge Leute, die er weder liebt, noch zum Freund hat, als gleich
gültig betrachten, egal, welcher Konfession sie zuneigen. Dann wird auch
gleichgültig, wieviel Kinder wer in die Welt setzt. Gestatten Sie mir
eine Anmerkung zu einer der vielen Auffassungen auf Ihrer Internetseite,
die ich ablehne: Sie argumentieren, Israel sei kein Staat, weil es weder
seine Grenzen, noch sein Staatsvolk definiert habe. Mit gleicher
Begründung könnten Sie vielen Staaten aus Vergangenheit und Gegenwart
die Staatlichkeit absprechen. Deutschland vertritt eine völkische
Auffassung von Deutschtum. Deutsche Vorfahren galten und gelten als
hinreichender Ausweis für Deutschtum. Mindestens bis 1989 hielt die
Bundesrepublik die Territorialfrage offen. Noch heute wird dieser Punkt
von revanchistischen Staatsrechtlern offen gehalten. Ungarn gewährt ungarischsprachigen
Rumänen die ungarische Staatsangehörigkeit. Zahlreiche andere Länder
der Welt erheben Anspruch auf Ausdehnung ihres Staatsgebiets. Deutschland
und all den andern Ländern sprechen Sie die Staatlichkeit jedoch nicht
ab. Zudem kann sich auf völkerrechtlich unanfechtbare UNO-Beschlüsse
gegen den Staat Israel nicht berufen, wer den einen UNO-Beschluss anficht,
der den Staat Israel 1948 geboren hat.
MM: Demnach könnte Israel sich nicht auf
den Gründungsbeschluss der UNO berufen, da es die so ziemlich einzige israelrelevante
Resolution ist, die sie akzeptieren. Sehen Sie die Beschlüsse
eines Gremiums als unabwendbar an, bei dem einige Mächtige jeden
Beschluss der Mehrheit abwenden können. Oder glauben Sie, dass es Gleichere unter
Gleichen geben muss? Deutschland hat auch die DDR nie
anerkannt, obwohl es ein von der UNO akzeptierter Staat war! Aber glauben
Sie nicht, dass ein Staat, der nur so lange existieren kann, so lange er beständig
einen Teile seiner eigenen Bevölkerung deportiert, einen Fehler in seinem
System haben muss?
Steinberg: Israel hat sich an
zahlreiche UNO-Beschlüsse nicht gehalten. Das ist kein Grund für andere
Staaten, sich ebenfalls nicht an UNO-Beschlüsse zu halten. Das Veto-Recht
der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats trägt der Tatsache
Rechnung, daß einige Staaten tatsächlich viel mächtiger sind als
andere. Gäbe es das Veto-Recht nicht, dann würden z.B. die USA gar nicht
erst in der UNO mitwirken. Damit wäre nichts gewonnen. Die Bundesrepublik
hat die DDR schließlich anerkannt. Ja, Israel ist fehlerhaft gebaut.
MM: Israels Ablehnung der Festlegung von
Grenzen steht ja auch im Zusammenhang mit dem Traum von Großisrael, den
immerhin mehrere im Kabinett verschiedener Regierungen sitzende Minister
unverblümt geäußert haben, und demnach reicht Erez Israel bis immerhin
zum Euphrat! Können Sie angesichts der Tatsache, dass das heutige Israel
sich hinsichtlich Völkerrecht ähnlich verhält wie einstmals der
Burenstaat, zumindest nachvollziehen, warum Muslime zum Boykott des Staates
aufrufen?
Steinberg: Ja.
MM: Zweifelsohne werden Sie mit uns
zumindest darin übereinstimmen, dass Rassismus in jeglicher Form
abzulehnen ist. Was aber ist zu tun, wenn ein Staat ganz offen Rassismus
praktiziert?
Steinberg: Erstens ist das zu tun,
was wir hier gerade tun. Zweitens halte ich wirtschaftlichen und
politischen Druck auf Israel für geboten, verfüge aber nicht über die
Mittel, ihn auszuüben. Zunächst einmal wären Lieferung und Bezug von
Waffen in das und aus dem Krisengebiet Nahost einzustellen.
MM: Abschließende Frage; Eigentlich
wollten wir uns mit Ihnen im zweiten Teil mehr über die Muslime in Deutschland
unterhalten, wobei Sie das Gespräch wieder in Richtung Israel gelenkt
haben. Was ist denn ein aus Ihrer Sicht realisierbarer Vorschlag für
Frieden in der so unfriedlichen Region, und was können einfache deutsche
Bürger Ihrer Meinung nach dazu beitragen?
Steinberg: Ich kann schwer
beurteilen, ob eine Ein- oder eine Zweistaatenregelung dauerhaft die
Lösung wäre. Ich empfehle meinen Mitmenschen, Kriegsdienstverweigerer in
Israel mit Geld zu unterstützen. Fünf junge Männer, die sich weigern,
in den besetzten Gebieten Häuser zu zerstören und Leute tot zu
schießen, sind für ein Jahr eingesperrt. Weitere Haftjahre sind
angedroht. Die Eltern haben einen Unterstützerkreis gebildet.
MM: Herr Steinberg, wir danken Ihnen für
das Interview.
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