MM:
Sehr geehrter Herr Aries, sicherlich haben Sie die Geschichte schon tausende
Male erzählt, aber auch unsere zumeist jungen Leser sind neugierig darauf,
wann, warum und wie Sie zum Islam konvertiert sind.
Aries:
Im Grunde mag ich den Begriff der Konversion für
Pubertätsmuslime nicht. Ich bin in der Phase, da ein junger Mensch noch
sucht, zum Islam gekommen. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Ich hatte
weder ein Erweckungserlebnis, noch kannte ich irgendeinen Muslim. Ich
vermute, daß ich über die Lektüre irgendwelcher Bücher aus der Bibliothek
meines Vaters auf den Gedanken gekommen war. Meine Familie hielt meine
Hinwendung zum Islam für eine pubertäre Spinnerei.
MM:
Und haben sie sich später damit abgefunden?
Aries:
Ja. - Die Jüngeren sind mit mir herangewachsen und meine Generation ist mit
mir gealtert und toleranter geworden.
MM:
Obwohl Sie seit 1997 in den Vorruhestand
eingetreten sind, übernehmen Sie dennoch sehr viele Aufgaben gleichzeitig,
wird Ihnen das nicht manchmal zu viel?
Aries:
Das Problem ist nicht das Zuviel, sondern das
Phänomen, welches ich den Verschleiß nennen würde. Manches Mal ist der
Dialog wie eine Tretmühle. Da wiederholen sich die Fragen, Unterstellungen,
Missinterpretationen oder die Diskussionen unter den Muslimen. Aber wenn man
auf die dreißig Jahre der Arbeit zurückblickt, dann stellt man mit
Verwunderung fest, daß die Schnecke sich doch bewegte. Das Beheimaten der
Muslime in meinem Vaterland Deutschland in so großer Zahl und aus so
unterschiedliche Kulturen dauert eben länger als wir es 1970 erwarteten.
Zudem habe ich vor vielen Jahren, weil ich verschlissen gewesen war, die
Arbeit für gut zwei Jahre unterbrochen. Das Erschrecken über die mit dem
ersten Golfkrieg wieder aufgebrochenen Vorurteile zwangen mich zurück in die
Arbeit, weil ich mir angesichts der Minderheitengeschichte in diesem Lande
sagte, nicht noch einmal.
MM:
Als Deutscher "Alter Schule" haben Sie eine
sehr langjährige Beobachtung der islamischen Landschaft in Deutschland
sozusagen aus erster Hand miterlebt, was hat sich in den letzten Jahren
verändert; glauben Sie heute noch daran, dass der Islam bzw. die Muslime
wirklich eingebürgert werden können?
Aries:
Man mag manches Mal sich verzweifelt fragen, ob sich
überhaupt etwas in der islamischen Minderheit verändert; und dennoch bewegt
sich die Schnecke vorwärts. Manches von dem, was heute selbstverständlich
erscheint, war Anfang der siebziger des vergangnen Jahrhundertes schlichte
Träumerei: Die Muslime verfügen heute über eine vielfältige Struktur aus
Vereinen und Verbänden, eine Wochenzeitung und Verlage. Muslime sind
Mitglieder in Parteien sowie anderen gesellschaftlichen Organisationen. Und
wer hätte gedacht, daß eines Tages deutsche muslimische Soldaten in Kabul
Dienst tun bzw. bei der Polizei oder als Unternehmer tätig sind.
Mit dem ersten Lehrstuhl für die Religion des Islam hat sogar der geistlich
wissenschaftliche Diskurs begonnen.
Natürlich könnte ich jetzt alle unerledigten Aufgaben bzw. Herausforderungen
aufzählen, aber der zurückgelegte Weg bleibt trotzdem erstaunlich. Und ich
bin Allah zutiefst dankbar dafür.
Sollte der Aufbau einer Schurastruktur, wie er in Hamburg entworfen wurde,
durchgesetzt werden, dann hätten wir einen großen Schritt getan,
inscha´allah.
MM:
Sie selbst waren einmal Sprecher einer
Kommission der beiden bedeutenden islamischen Dachverbände Zentralrat der
Muslime in Deutschland und Islamrat. Sehen Sie eine Chance einer
weitergehenden Vereinigung der Dachverbände und dadurch Stärkung der
islamischen Stimme und was sind mögliche Hindernisse?
Aries:
Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich
den bisher zurückgelegten Weg vor Augen hält: Der erste Ansatz war über
lokale Moschee-Vereine Gestalt zu gewinnen. Darauf folgte die Idee der
Verbände und hierauf die anfangs umstrittene Gründung der (zentralen)
Dachverbände (Islamrat 1986, Zentralrat 1994). Der Hinweis, daß allein die
Landesebene verfassungsrechtlich der Ansprechpartner für
Religionsgemeinschaften sei, wurde dabei stets ignoriert; zudem warnten
manche Stimmen vor einer Klerikalisierung des Islam, wenn die Muslime auf
die deutschen staatskirchenrechtlichen Vorstellungen eingingen.
Der föderale Ansatz, der während des Treffens in Hamburg entwickelt wurde,
scheint mir nach meinem gegenwärtigen Kenntnisstand der vernünftigste. Dabei
werden die Landesschuren eine eigene Position aufbauen, während die
Bundesebene nur noch repräsentative Funktionen haben wird. Jede
Landesschura wird auf einen eigenen Vertrag zugehen und für seine Erfüllung
stehen müssen. Das größte Hindernis wird die Frage sein, ob die Muslime dies
wollen.
MM:
In 1993 haben Sie einen Artikel verfasst in einen Buch
mit dem Titel: "Dreißig Jahre
christlich-islamischer Dialog in Deutschland". Inzwischen sind es mehr als
40 Jahre. Was sind Ihre Empfehlungen für den zukünftigen Dialog auf Basis
der bisherigen Erfahrungen?
Aries:
Der Dialog von heute ist nicht der gleiche wie 1970. Er ist vielfältiger
geworden, es beteiligen sich mehr Muslime und Christen bzw. Juden an ihm,
die Themen sind immer noch die gleichen aber inzwischen entstanden
Gesprächskreise gleich den Christlich-Islamischen Gesellschaften, die Islam
Foren oder die Sommeruniversitäten an der Evangelischen Akademie in Loccum
oder die Symposien im Hamburg und Bonn. Unsere Schwestern, von denen früher
nichts zu hören war, verfügen nun über eigene Netzwerke und melden sich zu
Worte, wo immer man sie lässt. Manche von ihnen absolvierten erfolgreich ein
Studium, andere sind noch mitten drin.
MM:
Können Sie sich vorstellen, dass der Islam einmal eine
einheimische Religion in Deutschland wird?
Aries:
Für viele Menschen in diesem Lande gehört ihr Glaube,
der Islam, zu ihnen wie die Farbe ihrer Augen. Die Frage lautet vielmehr, ob
aus den Türken, Arabern , Uighuren und den vielen anderen Deutsche werden.
Ob es ihnen gelingt die Konflikte der Gedächtnisse, die Narrationen der
Älteren (z.B. Kolonialismus versus Shoa) mit denen dieses Landes zu
verbinden. Dazu gehört die Überwindung des Konfliktes der
Höflichkeitssysteme, in denen sie sich von der Mehrheitsgesellschaft ständig
gedemütigt oder schlecht behandelt fühlen. Man könnte es auch anders
formulieren, wie ein älterer Muslim es einmal ausdrückte: Werden sich die
Jungen eines Tages genauso schlecht benehmen wie die Deutschen?
MM:
Als Berater des Islamrates erleben Sie
deutlich mit, wie deren Organisationen in immer mehr
Verfassungsschutzberichten auftauchen. Gleichzeitig entgeht Ihnen auch
nicht, wie immer mehr Moscheen Opfer von Razzien werden. Wie können Muslime
dieser tragischen Entwicklung entgegen treten?
Aries:
Ich halte die Problematik der
Verfassungsschutzberichte für eine vorübergehende Angelegenheit, die im
Augenblick ärgerlich ist, aber den Blick nicht von den zukünftigen Aufgaben
ablenken sollte.
Ich halte es für unglücklich, wenn in diesem Zusammenhang von tragischer
Entwicklung gesprochen wird. Die Flughafenkontrollen sind auch nicht
tragisch. Wichtiger ist, daß wir Muslime unseren Weg in diese Gesellschaft
weitergehen. Was kümmert es die Karawane, wenn der Hund bellt.
Nach rund dreißig Jahren Arbeit als Lobbyist, ehrenamtlicher Funktionär und
Referent für die Muslime in Deutschland stehe ich vielen Dingen gelassener
gegenüber, als ich es vor dreißig Jahren tat. Die Wunden, die ich im Dialog
und von meinen muslimischen Freunden erhielt, sind verheilt und die
Enttäuschungen überwunden. Jetzt lerne ich langsam, daß es auf das
Durchhalten in der Arbeit ankommt. Manche nennen es Geduld oder gelassene
Achtsamkeit, denn allein Allah weiß es besser, als Sein Khalifa kann ich
mich nur bemühen. Es ist so. Als Muslim gilt nicht das griechische Bild des
Sysiphos, sondern der gelassenen Arbeit.
MM:
Und was erhoffen Sie von der Mehrheitsgesellschaft?
Aries:
Die Annahme ihrer Glaubensminderheit als ihrer eigenen
Minderheit, um so der Geschichte eine neue Wende zu geben, insha´allah.
MM:
Was hätten Sie als langjähriger Volkshochschuldirektor getan, wenn eine
besonders qualifizierte Lehrkraft mit Kopftuch sich beworben hätte?
Aries:
Dies ist eine dumme Frage. Ich hätte mich bei ihr
genauso wie bei den männlichen Kollegen gefragt, ob sie das kann, was ich
von ihr pädagogisch erwarte.
MM:
Worin sehen Sie Ihre persönlichen Aufgaben für die Zukunft des Islam und der
Muslime in Deutschland.
Aries:
Weiterarbeiten.
MM:
Herr Aries, wir danken Ihnen für das Interview.
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