MM: Sehr geehrter Herr Elam. Erlauben Sie
uns gleich am Anfang die Frage: Sind sie Jude?
Elam: Von der Abstammung her ja, ich bin
nicht gläubig und ich betrachte mich zuerst als Mensch und beurteile auch
andere Menschen nach ihrem Charakter und nicht nach irgendwelchen nationalen
oder religiösen Zugehörigkeiten.
MM: Was ist denn ihre Meinung als
informierter Außenstehender zu dem Unterschied zwischen einem Juden und
einem Zionisten?
Elam: Es gibt mehrere Unterschiede. Rein
geschichtlich betrachtet war der Zionismus eine säkulare Bewegung und sehr
viele religiöse Juden waren an und für sich dagegen, weil grundsätzlich
sie die Einstellung teilten, dass jedwede Form der
Erlösung von Gott kommen soll und nicht durch Menschen. Heute sind diese
Juden leider eine kleine Minderheit. Daher sehen ultraorthodoxe und andere
Juden bis heute einen Widerspruch zwischen ihrer Auffassung des Judentums
und dem Zionismus. Der Zionismus als solcher beansprucht sämtliche Juden zu
vertreten und stellt sich als politische Lösung für Juden in Palästina, also
im nahen Osten, dar. Diese Meinung teilen viele Juden nicht. Israel
beansprucht sämtliche Juden zu vertreten, dies wird nicht von allen
Juden anerkannt.
Zu definieren, was ein Jude ist, ist offensichtlich
eine sehr schwierige und heikle Frage. Wenn es nur nach religiöser
Zugehörigkeit ginge, wäre es kein Problem, dann wäre es klar. Jedoch
betrachten sich die meisten Juden auch als eine Nation, dadurch wird es noch
ein stückweit schwieriger. Aus meiner Sicht sind Nationen weitgehend eine
Fiktion, es geht dabei nicht um etwas real Existentes. Wenn man versuchen
würde zu präzisieren, was eine deutsche Nation ist, dann kommt man schon
schnell in Schwierigkeiten. Hier in der Schweiz umso mehr, in der Schweiz
definiert man sich über eine Art Willensnation, es gibt keine gemeinsame
Sprache und keine richtige gemeinsame Kultur. Es gibt allenfalls eine
gemeinsame Grenze, aber das ist auch schon alles. Ich denke, wenn ich die
Realität betrachte, kann ich nur eine tautologische Definition einer Nation
finden, d.h. eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die sich als Nation
betrachten. Aus meiner Sicht sollte man diese nationale Phase überwinden und
dann sieht es vielleicht schon ein bisschen besser aus. Im Speziellen möchte
ich mich hier auf die Situation im heutigen Israel, in Palästina, beziehen,
wie es doch wäre, wenn alle dort lebenden Menschen ihren Nationalismus
überwinden würden.
MM: Auf der Seite des Judentums oder des
Zionismus ist es schon kompliziert genug, wie wird es dann erst, wenn man
dann die gegnerische Seite betrachtet oder anders ausgedrückt; wie können
Sie den deutschen Verantwortlichen erklären, dass ein Antizionismus, der
sich gegen eine Ideologie wendet, nicht identisch ist mit einem
Antisemitismus, der Rassismus wäre?
Elam: Grundsätzlich muss man natürlich
differenzieren. Auf der einen Seite betrachte ich den Zionismus als
schädlich für die Juden selber, und bin damit bei weitem nicht der Einzige,
und insofern ist es ganz klar; man kann nicht Antizionismus mit Judenhass,
mit Judeophobie - ich bevorzuge diesen Begriff vor dem des Antisemitismus -
gleichsetzen. Auf der anderen Seite ist es schon so, dass verschiedene Leute
sich damit zumindest in einer Grauzone bewegen oder bei ihnen mischen sich
antijüdische Vorurteile und Gefühle in ihre antizionistischen Haltung.
Und dieses ist ein echtes Problem, dadurch gibt es gewisse Probleme
mit der antizionistischen Anschauung. Grundsätzlich betrachte ich die Frage
nach dem Existenzrecht Israels, wie bei dem aller anderen Nationen auch, als
eine absolut legitime Fragestellung, wobei man immer im Einzelfall die
Motive der jeweiligen Kritiker beleuchten muss, und sehr auf rassistische
Beweggründe achten muss.
MM: Sie haben in mehreren Artikeln, aber
auch in Form von Büchern sich sehr deutlich gegen die Verbrechen des Staates
Israel gestellt. Jeder Nichtjude, der so klar die Dinge aussprechen würde,
wie sie es getan haben, wäre sicherlich als Antisemit diffamiert worden. Ist
Kritik an Israel nur Israelis vorbehalten?
Elam: Auf keinen Fall! Man muss aber auch
sehen, dass Israelis oder Juden, die solche Kritik üben, nicht verschont
werden. Da gibt es verschiedene Kategorien, beispielsweise jüdischer
Antisemit, wie ich auch schon genannt wurde, Selbsthasser oder
Nestbeschmutzer usw. Es ist also nicht so, dass man als Jude oder Israeli
den Blankoscheck besitzt so zu kritisieren. Ich zahle auch einen sehr hohen
Preis dafür. Aber dennoch: Eine solche
Situation, in der am ehesten noch nur Juden diese Kritik ausüben können, ist
sicher nicht normal. Ich habe vor drei Jahren, als die Kampagne gegen meinen
Freund Jamal Karsli in Deutschland sehr stark war, versucht Leute für ihn zu
mobilisieren und habe betont: Jamal Karsli hat nichts Anderes getan als
einige, z.T. auch prominente Israelis, als er gewisse Praktiken der
israelischen Armee mit Nazi-Methoden verglich. Dementsprechend darf es nicht
sein, dass die einen Kritik üben dürfen und die anderen nicht.
MM: Sie selbst sind da aber immer viel
deutlicher. Zum Beispiel vergleichen Sie die Verbrechen des Nazi-Regimes
gegen Juden mit einigen der Verbrechen des heutigen Israels gegenüber
Palästinensern. Sind sie denn schon mal wegen Volksverhetzung oder
Verharmlosung des Holocausts angezeigt worden?
Elam: Nein, ist mir nicht bekannt. Jedoch
beschrieb - wenn ich mich richtig erinnere - Guido Westerwelle einen
Brief,
den ich Jamal Karsli damals als Unterstützung geschickt hatte, als quasi
Braunen Sumpf. In jenem Brief habe ich darauf hingewiesen, dass Vergleiche
Israels mit NS-Deutschland absolut zulässig sind, natürlich mit verschiedenen
Differenzierungen. Aber grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass man solche
Vergleiche machen darf, und sogar machen muss. Ich empfand es damals als
hirnrissig, dass ein Herr Westerwelle mir eine Lektion in Geschichte
erteilen wollte. Es sind einfach schlimme Prozesse, bei denen man nüchtern
betrachtet sagen muss: Die Singularität der NS-Verbrechen darf nicht so
ausgelegt werden, dass gewisse Mechanismen und Prinzipien nur in
NS-Deutschland möglich waren. Einen Teil dieser Mechanismen findet man auch
im heutigen Israel.
Viele seriöse Historiker sind sich heute darüber
einig, dass sich die NS-Politik gegenüber Juden in drei verschiedene Phasen
gliedert. Die erste Phase 1933-1938 kann man als freiwillige Vertreibung
bezeichnen. Die zweite von 1938 bis 1941 war eine Zwangsvertreibung und die
dritte letztlich der Übergang zu einer systematischen Vernichtung. Und wenn
wir die Situation im heutigen Israel betrachten, können wir feststellen,
dass eine ähnliche Phase, wie die von 33-38 sich langsam dem Ende neigt. Die
israelische Regierung versucht spätestens seit der zweiten Intifada 2000 die
Vertreibung der Palästinenser zu forcieren, das kann man noch als eine Form
der freiwilligen Vertreibung bezeichnen. Jedoch sind die Maßnahmen gegen
Palästinenser heute z.T. viel schärfer, als sie es in den 30er Jahren in
Nazi-Deutschland gegen Juden waren. Aus meiner Sicht steht eine weitgehende
Vertreibung, also eine Zwangsvertreibung, gerade vor der Tür. Diese Gefahr
schwebt in der Luft und lässt sich nicht ausschließen. Ich halte es nicht
für relevant, ob es dann letztlich zu einer systematischen Vernichtung
kommt, oder nicht. Das Problem ist, dass viele Leute bei Nazi-Deutschland
sofort an Auschwitz denken, als ob nur Auschwitz zu den Nazi-Methoden gehört
hätte. Und abgesehen davon; eine ethnische Säuberung muss nicht unbedingt
nur durch Vergasung stattfinden, es gibt andere Methoden.
Ich habe es mehrfach in meinen Veröffentlichungen
angedeutet und möchte eine Aussage dazu noch erläutern. Um zu demonstrieren,
dass der Zionismus für die Juden selbst schädlich ist, nicht nur für die
Palästinenser, was ja offensichtlich ist, möchte ich auf die Rolle der
Jewish-Agency zur Nazizeit hinweisen. Da kommt man leicht zum Schluss, dass
wenn es den Zionismus nicht gegeben hätte, man viel mehr Juden während der
Nazizeit hätte retten können. Die Jewish-Agency-Führung, die wie eine Art vorstaatliche Regierung funktionierte, hat der
Rettung von Juden eine sehr niedrige Priorität beigemessen. Höchste
Priorität war die Bildung eines Staates in Palästina und alles andere war
dem untergeordnet.
Die sehr wenigen Rettungsaktionen, die es gab,
dienten nur dem Projekt des zionistischen Staates in Palästina und nicht
umgekehrt. War dies nicht der Fall, so schreckte die Jewish-Agency-Führung
nicht davor zurück, realistische Rettungsaktionen zu sabotieren und zum Teil
gingen sie sogar so weit mit den Nazis zu kooperieren.
Leider wird diese Realität von sehr vielen Juden nicht erkannt und auch die
Juden in Deutschland träumen, Israel wäre für sie eine Art
Lebensversicherung, falls es noch mal so käme, wie im dritten Reich, hätten
sie einen Zufluchtsort. Sie setzen sich gar nicht damit auseinander, was der
Zionismus im zweiten Weltkrieg gemacht hat. Was hat er zur Rettung der Juden
getan, und was hat diese Bewegung auch nach dem Krieg für die überleben
getan und wie werden die Überlebenden, an und für sich bis heute, in Israel
misshandelt. Man hat sie missbraucht für propagandistische Zwecke. Das sagen
heute viele Überlebende selbst, wenn sie ehrlich mit sich selbst sind; sie
wurden regelrecht misshandelt.
MM: Sie gehen mit Ihrer Kritik auch weiter
und kritisieren die Funktionäre des Zentralrats der Juden in Deutschland
hinsichtlich ihrer Einstellung zu Israel. Ist das nicht eine äußerst
komplizierte Situation zu verstehen, dass eine Person, die als Soldat auf
der Seite Israels gekämpft hat, heute diejenigen kritisiert, die den
Judenstaat versuchen zu verteidigen aber teilweise noch nie in Israel gelebt
haben?
Elam: Gerade aus meiner eigenen Erfahrung im
Krieg 1967 kenne ich israelische Verbrechen, die die Juden in Deutschland,
wie die vom Zentralrat, aber nicht nur die, nicht wahrhaben wollen. Aber
auch bei meinen schon rein berufsmäßigen Beobachtungen sehe ich in diesem
Zusammenhang Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind einfach
Kriegsverbrechen, und gleich ob sie vom eigenen Staat oder von einem anderen
Staat ausgeübt werden, man darf dieses nicht verharmlosen. Und diejenigen,
die versuchen dies zu verharmlosen und versuchen Kritik zu verhindern,
machen sich mitschuldig. Das ist doch völlig klar, gleich ob sie jüdisch,
muslimisch oder christlich sind, machen sie sich mitschuldig. Wenn man die
Aktionen Israels neutral betrachtet, findet man wirklich zahlreiche
Kriegsverbrechen. Aus meiner Sicht ist das, was sich gerade in Palästina
ereignet - der Zentralrat in Deutschland und verschiedene Exponenten
dieser Organisation versuchen Kritik daran zu verhindern - eine schleichende
und stille ethnische Säuberung.
Ich bin völlig überzeugt, obwohl keine offiziellen
Zahlen bekannt sind, dass die Anzahl von Menschen, die seit Anfang der
jüngsten Intifada durch die israelischen Maßnahmen gestorben sind, extrem
hoch ist. Man muss sich einfach mal vorstellen, welche verschiedensten
Auswirkungen dieses hat, etwa Probleme bei der medizinischen Versorgung oder
der Versorgung mit Lebensmitteln, die in Folge der israelischen Belagerung
entstanden sind und dies geht jetzt schon seit Jahren so. Nur um dies
einmal zu quantifizieren: Es gibt zuverlässige Zahlen, die besagen,
dass in den Jahren von 92-96, also in den Oslo-Jahren, in denen die
ökonomische Situation bedeutend besser war, als die heutige Situation. In
diesen Jahren sank die Lebenserwartung in den palästinensischen
Autonomie-Gebieten um zwei Jahre. Jetzt muss man sich einfach mal versuchen
vorzustellen, was entsprechend seit 2000 passiert ist.
Wenn man die Zahlen bekannt machen würde, würden
sich viele wirklich wundern, sie würde in die Nähe der Definition des
Völkermords kommen, wobei man natürlich einfügen muss, dass die Definition
von Völkermord keinen direkten Bezug zu einer Zahl oder Ziffer von Opfern
haben kann, sondern es geht um eine Absicht. Das ist der eine wichtige
Aspekt, und der andere wichtige Aspekt der jetzigen schleichenden und
eskalierenden ethnischen Säuberung ist die Anzahl der Palästinenser, die
seit dem September 2000 ihre Häuser verlassen haben, welche ich auf
mindestens 500.000 schätze und das ist noch eine sehr vorsichtige
Einschätzung.
Es ist also eine wirklich schleichende Vertreibung,
die wir miterleben, wobei es auch jeden Tag zu einer totalen Eskalation
kommen könnte. Wenn, sagen wir einmal morgen, ein Anschlag mit über
hunderten jüdischen Opfern passieren würde, dann ist es ganz klar, dass man
mit einer gewaltigen israelischen Aktion bisher unbekannten Ausmaßen rechnen
muss. Dies haben auch verschiedene israelische Minister deutlich gesagt;
wenn so etwas wie, wie sie es nennen Mega-Attentat, passieren würde, dann
müssen die Palästinenser mit einer zweiten Naqba rechnen. Naqba nennen
die Palästinenser ihre Katastrophe von 1948, als damals etwa 800.000
Menschen vertrieben wurden.
MM: Aber glauben Sie denn nicht, dass der
aktuelle Rückzug zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich birgt?
Elam: Das glaube ich nicht, auch wenn alles
nach Plan laufen, und Israel die Siedlungen in Gaza ohne nennenswerten
internen Widerstand räumen würde. Ich glaube die Absicht von Sharon und der
Leute, die hinter diesem Rückzug stehen ist klar, sie sagen das auch selbst.
Da muss man ein bisschen historisch zurückgreifen: Die Idee vom einseitigen
Rückzug aus Gaza kommt ursprünglich aus der Arbeiterpartei und kam 1993 oder
sogar 1992 schon sehr deutlich zur Sprache, also noch vor Oslo. Und sie
sagten eindeutig: Wir haben zwar keine palästinensischen Partner, aber wie
werden die Palästinenser zu einer Situation zwingen, und wenn sie diese
nicht akzeptieren, können wir anschließend nach so einem einseitigen Rückzug
viel vehementer und viel brutaler angreifen. Und das war damals auch sehr
deutlich zu hören, etwa in verschiedenen Zeitungsinterviews. Ich nenne nur
einen Politiker, der das damals deutlich sagte, Herr Chaim Ramon, und er
sagt dies heute genauso deutlich, da hat sich seine Position also nicht
geändert. Auch einige Generäle sprechen dies so aus.
Man muss sich einfach darüber im Klaren sein, wenn
es auch eine wirkungsvolle palästinensische militärische Aktion aus Gaza gibt, wird es zu einem sehr
starken Angriff des israelischen Militärs kommen. Ich sehe nicht, wie diese
Situation zu vermeiden wäre, denn einerseits will Israel, dass die
palästinensische Behörde die eigenen Leute unterdrückt und militärische
Aktionen gegen Israel und jüdische Ziele verhindert, aber auf der anderen
Seite wollen sie ihnen nicht einmal Waffen geben. Außerdem hat die
israelische Armee
weitgehend die Infrastruktur der palästinensischen Polizeibehörde zerstört.
Ich sehe da keine großen Möglichkeiten und Israel hat für dieses
Angriffsszenario schon massiv Militäreinheiten um Gaza verdichtet.
Ich halte es für absolut ausgeschlossen, was sich
natürlich viele außerhalb Israels wünschen, das sich nämlich irgendwie ein
positiver Mechanismus aus diesem Rückzug für die Palästinenser entwickelt
und dieses dann auch irgendwann in der Westbank wiederholt wird oder
zumindest schätze ich eine solche positive Entwicklung als extrem
unwahrscheinlich ein.
Hinzu kommt noch, dass sich die internen Konflikte
in der israelischen Gesellschaft massiv zuspitzen werden. Die dortigen
Rechtsradikalen sind sehr stark und sehr motiviert, haben ihre
Anhängerschaft im so genannten Sicherheitssystem. Sie sind sehr gut
bewaffnet und zum Teil gut ausgebildet und haben so verschiedene Optionen
von Versuchen, den Rückzug aufzuhalten, welche vom israelischen Geheimdienst
selbst beschrieben werden. Es handelt sich also nicht nur um meine eigene
Einschätzung. Der Geheimdienst schätzt ein, dass diese Rechtsradikalen
primär versuchen werden, palästinensischer Ziele anzugreifen, entweder eine
Moschee, oder wie das Massaker vor zwei Wochen im Norden von Israel, was ein
Vorgeschmack eines nicht richtig ausgebildeten Soldaten war. Nach dem
israelischen Geheimdienst gibt es mindestens mehrere hundert derartige hoch
motivierte Rechtsradikale, die zu solchen Aktionen absolut fähig sind. Auch
bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den so genannten israelischen
Sicherheitskräften und Rechtsradikalen sind nicht ausgeschlossen.
Im Moment ist es außerordentlich heiß, nicht nur
politisch, sondern auch klimatisch, und die Leute in der israelischen
Gesellschaft sind auch ansonsten sehr geladen und aggressiv, in dieser
Situation können die Emotionen sehr schnell hochkommen. Ich rechne
eigentlich damit, dass jeden Moment sich die Lage zuspitzen kann. Es gibt
sogar einige Experten, die die Möglichkeit eines Putsches der
Rechtsradikalen in Israel nicht ausschließen. Ich denke man hat da in Israel
ein grundsätzliches strukturelles Problem mit den Rechtsradikalen.
Normalerweise spricht man von Siedlern. Ich denke, das ist keine gute
Beschreibung, zumal nicht alle der Siedler, die seit 1967 in diesen Gebieten
wohnen, als politisch orientiert einzuordnen sind. Ein Teil von ihnen hat
sich dort niedergelassen, weil es billiger war.
Ich betrachte eigentlich die ganze israelische
Gesellschaft als eine Siedlergesellschaft, aber sagen wir mal in "Kern-Israel"
gibt es dagegen sehr viele Leute, die diese rechtsradikalen und
ultranationalistischen Tendenzen unterstützen. Diese große Gruppe ist auch
extrem aktiv und die haben ihre Unterstützung innerhalb dieses Systems. Auch
wenn diese recht düstere Prognose eines Bürgerkriegs mit totalem Chaos, in
welches alle dortigen Bewohner verwickelt wären, sich in den nächsten Wochen
nicht bewahrheitet, sehe ich nicht, wie dieser Konflikt zu entschärfen wäre,
mittel- oder langfristig wird es zu einer solchen Eskalation kommen.
MM: Gut, aber wenn wir einmal versuchen
hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen; Sie haben mehrfach in Ihren
Schriften Israel das Existenzrecht in seiner heutigen Form abgesprochen und
es mit dem Burenstaat in Südafrika verglichen, der ja auch in der alten Form
nicht weiter existieren konnte. Können Sie sich denn ein friedliche
Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in einem gemeinsamen Staat
dort vorstellen?
Elam: Ja, selbstverständlich. Es gab vor ca.
zwei oder drei Jahren einen Artikel in einer israelischen Zeitung, in dem
beschrieben wurde, wie in einer Gegend von New York in dem gleichen Viertel
ultraorthodoxe Juden, die eigentlich die nationalistische Einstellung in
Israel unterstützen und auf der anderen Seite sog. Islamisten, also Leute,
die auch eine radikale Auffassung des Islams haben, die die Hamas-Bewegung
unterstützen, zusammen wohnen und
leben und sie wohnen friedlich zusammen. Und sie sahen sogar gewisse
Vorteile in dieser Koexistenz, weil beispielsweise es bei
Bekleidungsvorschriften es auf keiner Seite etwas gab, was die andere Seite
als anstößig empfunden hätte. Man kann zwar vielleicht nicht von einer
freundschaftlichen Beziehung sprechen, aber auf jeden Fall von einer
friedlichen Koexistenz. Diese Situation ist in Israel bzw. in Palästina
momentan kaum vorstellbar. Analysieren wir diese Einzelsituation in New
York, dann stellen wir fest: Die Leute sind vor dem Gesetz gleich, es gibt
keine direkte Unterdrückung, nur dann kann man sagen, es sei möglich.
Oder man kann auch die Situation vor 1947
betrachten, da gab es viele Beispiele, die zeigten, dass friedlichen
Zusammenleben möglich ist. Mein Vater arbeitete bei den Eisenbahnlinien
unter den Briten und er arbeitet zusammen mit Leuten arabischer Abstammung,
sie waren alle Arbeitskollegen und gleichgestellt. Ich will nicht
beschönigen und sagen, alles wäre harmonisch gewesen, aber solch ein
Zusammenleben ist offensichtlich durchaus möglich gewesen.
Heute gibt es natürlich große Hindernisse, auf der
palästinensischen, wie auch auf der israelischen Seite, gibt es enorm viel
Hass. Ich kann diese Einstellung sehr vieler Palästinenser auch
nachvollziehen, da hat man schließlich über 57 Jahre extrem Schreckliches
erlebt. Das kann man nicht von den Menschen verlangen, dass sie das
so einfach vergessen.
Bildlich gesprochen ist die Situation in diesem
Land, wie die Siamesischer Zwillinge; sie haben sich diese Situation nicht
selbst ausgesucht, sie sind immer zusammen. Und es gibt bestimmte
Siamesische Zwillinge, die man nicht trennen kann und dann sind sie
verdammt, entweder zusammen zu leben oder zusammen zu sterben. Ich weiß,
dass hört sich nicht sehr optimistisch an, denn ich sehe momentan nur eine
düstere Zukunft, ich sehe keine Kräfte dort, die eine positive Änderung
bringen können. Ich denke, ähnlich wie in Südafrika, muss eine gemeinsame
Bewegung entstehen, in der alle dort lebenden Menschen jeder ethnischen
Herkunft und jeder Religion sich zusammenschließen und gegen Rassismus
kämpfen, nur dann gibt es eine Hoffnung. Im Moment jedoch sehe ich diese
Konstellation nicht.
Auch sehe ich im israelischen Friedenslager große
Ratlosigkeit und große Schwäche. Ebenso bei den Palästinensern gibt es diese
große Ratlosigkeit; der bewaffnete Kampf hat ihnen mit den bisherigen
Methoden nur geschadet, politisch nichts genützt. Und es gibt auch keinen
Erfolg versprechenden gewaltlosen Kampf, dies ist eine wirklich schwierige
Situation. Es gibt da schon einige Möglichkeiten, aber ich sehe auch keine
Diskussion, die sich auf diesem Wege befindet. Die zerstörerischen Kräfte
haben in diesem Konflikt die absolute Oberhand.
So ist es auch nicht verwunderlich, um noch einmal
auf den inneren Konflikt der Israelis zurückzukommen, dass Leute wie Uri
Avnery, der ja ein Zionist ist und bis jetzt den Vergleich mit
Nazideutschland immer vermieden und abgelehnt hat, selbst schon die
Situation in Israel mit der Situation in der Weimarer Republik verglichen
haben, besonders angesichts der starken faschistischen und
ultranationalistischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft, bei denen
man nicht weiß, wie man sie bremsen sollte.
MM: Wenn Sie uns beschreiben, was Sie nicht
sehen, dann fragen wir Sie doch in der abschließenden Frage: Was würden Sie
denn gerne noch sehen in Ihrer Lebzeit?
Elam: Ich würde schon gerne sehen, wie alle
Menschen dort in Frieden miteinander leben können, ohne Unterdrückung,
sodass sämtliche palästinensische Flüchtlinge, die vertrieben worden sind,
mindestens das Anrecht auf eine Rückkehr erhalten und vor Allem auch die
Möglichkeit kompensiert und integriert zu werden, vielleicht genau in dem
Stil, wie Juden von Deutschland kompensiert und wieder integriert worden
sind. Ich denke, dass es theoretisch möglich ist. Jedoch bezweifele ich
leider sehr stark, dass ich das erleben werde.
Muslim-Markt: Wir wünschen es uns allen und wir
bedanken uns für dieses Interview Herr Shraga Elam.
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