MM:
Sehr geehrter Herr Üçüncü, was ist ein Generalsekretär der Milli Görüs,
welche Aufgaben hat er, welche Verantwortungen trägt er und was
unterscheidet ihm von anderen Positionen, z.B. vom Vorsitzenden?
Üçüncü: Das
Generalsekretariat verantwortet die zentrale Administration, die
Rechtsabteilung und die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinschaft. Zudem
vertritt der Generalsekretär die Gemeinschaft in Dachverbänden (Islamrat)
und Interessenvertretungen von türkeistämmigen Migranten in Deutschland und
in Europa.
Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich ist der inner-islamische und
interreligiöse Dialog.
Meine Abteilung betreut auch den Internetauftritt (www.igmg.de),
die Verbandszeitschrift (IGMG Perspektive) und das Internetradio (igmg.fm)
der Gemeinschaft.
Die Rechtsabteilung, befasst sich, neben der rechtlichen Betreuung der IGMG
und seiner Ortsvereine, insbesondere mit Fällen der Diskriminierung von
Muslimen.
Der Unterschied meines Aufgabenbereiches
zu den anderen Positionen ist wohl der, dass ich die offizielle
Schnittstelle unserer Gemeinschaft nach außen bin.
MM:
Ihre Organisation "Milli Görüs" (gespr. "milli görüsch") bedeutet ins
deutsche Übertragen "Nationale Sicht". Sind Sie Nationalisten?
Üçüncü: Sicherlich
nicht. Das "Milli" in unserem Namen stützt sich nicht auf die heutige
weitläufige Verwendung des Wortes "Millet" als Volk oder Nation im
ethnischen Sinne. Das "Milli" geht auf den "millet"-Begriff im Koran zurück.
Dort wird der Begriff nicht an eine Nationalität, sondern mit der
Orientierung an bestimmte Werte, nämlich des Islams verknüpft. So wird die
Gemeinschaft, die diese Werte und Tradition in ihr Leben umsetzt und sich um
den diese verkündenden Propheten schart, als "Millet" bezeichnet. Das "Milli"
in unserem Namen ist eine Bezugnahme auf dieses "Volk", auf diese
"Tradition" Abrahams, dem wir uns zweifellos zugehörig fühlen. Und es ist
die Perspektive ("Görüs") aus der wir das um uns Geschehende bewerten.
MM:
Die deutschen Verfassungsschutzberichte scheinen sich sowohl auf Bundes- als
auch auf Länderebene auf Ihre Organisation regelrecht eingeschossen zu
haben. Sind Sie verfassungsfeindlich?
Üçüncü: Nein, das
sind wir nicht. Die IGMG wird ja seit ihrer Gründung vom Verfassungsschutz
beobachtet. Wenn man über die Jahre die verschiedenen
Verfassungsschutzberichte zur IGMG liest, sieht man eine Menge Behauptungen,
angefangen mit dem Umsturz des türkischen Staatssystems bis hin zu der
Behauptung, man wolle Muslimen in Deutschland durch Gruppenzwang solche
Pflichten auferlegen, die eine Einschränkung der in der Verfassung
garantierten Grundrechte bedeuten. Keine einzige dieser Behauptungen wird
auch durch konkrete Beispiele belegt. Wo, so fragt man sich, sind eigentlich
die harten Fakten, die keiner weiteren Interpretation bedürfen, um die
Verfassungsfeindlichkeit der IGMG zu belegen. Wo sind Äußerungen, Handlungen
und Absichten gegen Kerninhalte der freiheitlich demokratischen Grundordnung?
MM:
Welche negativen Konsequenzen hat diese
unaufhörliche staatliche Negativwerbung für Ihre Organisation?
Üçüncü: Regelmäßige
Publicity bringt sie uns ja. Aber im Ernst, das Aufführen im
Verfassungsschutzbericht wirkt zweifellos wie ein moderner Pranger.
Staatlich legitimiert werden Vermutungen und Einschätzungen in die Welt
gesetzt, deren Quellen vor Gericht keinen Bestand hätten, wenn sich die
Ämter nicht erfolgreich auf Quellenschutz berufen würden. Wie wenig
substantiiert die Berichte der Verfassungsschutzämter sind, haben ja die
Verfahren der letzten Zeit oft genug gezeigt. Es scheinen aber nur Wenige zu
bemerken, dass mittlerweile selbst die Verfassungsschutzämter immer weniger
von der Verfassungsfeindlichkeit unserer Organisation sprechen, sondern
immer mehr von unserer vermeintlichen Integrationsfeindlichkeit. Dabei
stellt sich natürlich die Frage, ob der Verfassungsschutz mittlerweile zu
einer Integrationsmessstelle wurde und anhand welchen Maßstabs sie denn
diese Integrationsfeindlichkeit feststellt.
Die negativen Konsequenzen bekommen in erster Linie unsere Mitglieder zu
spüren. Ihre Einbürgerungsanträge werden wiederholt abgelehnt, obwohl sie
seit Jahrzehnten hier leben und sehr gut integriert sind.
Unsere Moscheegemeinden befinden sich unter einem permanenten
Rechtfertigungsdruck. Die Nachbarn vor Ort, mit denen unsere Mitglieder und
Gemeinden in Kontakt treten, sind oft genug auch verwirrt, da sie bei ihren
Dialogpartnern keine verfassungsfeindlichen Tendenzen ausmachen können.
Mit großen Bedenken beobachten wir, dass die angebliche "Aufklärungsarbeit"
der Verfassungsschutzbehörden Vorurteile gegenüber Muslimen in der
Gesellschaft schürt. Ich frage mich, mit welcher Rechtfertigung der
Verfassungsschutz in Baden-Württemberg die Integrationsfeindlichkeit der IGMG damit erklärt, dass ihre Mitglieder im Schwimmbad knielange Badeshorts
"als Mittel zur Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft tragen" oder die
Reise einer IGMG-Jugendgruppe "zu
den ehemals muslimischen Städten Granada und Cordoba in Andalusien"
anprangert.
Ich kann Ihnen noch eine Vielzahl weiterer Beispiele nennen, die deutlich
machen, dass die Methoden der Verfassungsschutzämter, mit Blick auf
rechtstaatliche Grundsätze unseres Landes, bedenklich sind und immer
deutlicher den gesetzlich festgelegten Rahmen überschreiten.
MM:
Welche Möglichkeiten haben sie, dagegen
vorzugehen?
Üçüncü: Es gibt wenige
Möglichkeiten gegen die Verfassungsschutzbehörden vorzugehen, solange die
Medien sich nicht ernsthaft mit den Publikationen der
Verfassungsschutzbehörden auseinander setzen und die Öffentlichkeit über
dubiose Praktiken unterrichten. Zudem darf man nicht vergessen, dass viele
Länder schon das Tragen des Kopftuchs als verfassungsfeindlich betrachten
und entsprechende Gesetze verabschiedet haben.
Was juristische Möglichkeiten anbetrifft, ist es so, dass es mindestens drei
Jahre dauert, bis man aufgrund der Beanstandung von einigen falschen
Tatsachenbehauptungen einen Termin zur mündlichen Verhandlung bekommt.
Unsere Klagen in Bayern und Nordrhein-Westfalen gegen Publikationen der
Verfassungsschutzbehörden aus dem Jahr 2001 sind noch nicht einmal mündlich
verhandelt worden. In Baden-Württemberg hat das Verwaltungsgericht Stuttgart
nach drei Jahren unsere Klage abgewiesen, nachdem unsere Beweisanträge
allesamt abgelehnt wurden und die Gegenseite sich auf Quellenschutz berufen
hat, obwohl wir hätten nachweisen können, dass die ausgestellten
Behördenzeugnisse, mit denen sich Behörden gegenseitig die Richtigkeit ihrer
Behauptungen bestätigen, inhaltlich unwahr sind. Wir haben gegen dieses
Urteil Berufung eingelegt.
In den letzten Jahren ist zudem deutlich zu erkennen, dass sich die Behörden
von konkreten Behauptungen zu abstrakten Wertungen zurückziehen, um dann vor
Gericht vorzutragen, dass seien ja alles Werturteile, die man nicht
angreifen könne. Wenn dieses Argument nicht zieht, können sie sich ja immer
noch auf Quellenschutz berufen und müssen nicht beweisen, dass die
Behauptungen auf Tatsachen beruhen.
MM:
Eine der wesentlichen Voraussetzungen für das gegenseitige Verständnis
innerhalb der deutschen Gesellschaft ist die Kenntnis der deutschen Sprache.
Jeder, der einmal eine größere Milli Görüs Moschee besucht hat, wird einen
deutschsprachigen Gastgeber vorgefunden haben. Dennoch zieht das
"offizielle" Deutschland den Kontakt zu Organisationen vor, die weder in der
Führung noch in der Basis über vergleichbare Deutschkenntnisse verfügt. Wie
erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Üçüncü: Die
Beobachtung durch den Verfassungsschutz macht es dem "offiziellen"
Deutschland schwer, Kooperationen mit unserer Gemeinschaft zu entwickeln.
Dennoch stimmen doch alle darin überein, dass die IGMG bei der Entwicklung
von Konzepten für die Integration des Islam mitwirken muss. Denn während wir
nach wie vor auf ein ganzheitliches Integrationskonzept von den politisch
Verantwortlichen dieses Landes warten, praktiziert die IGMG schon seit über
einem Jahrzehnt Integration. Mit Einbürgerungskampagnen, Sprachkursen,
Nachhilfeunterricht und strukturierter Jugend- und Frauenarbeit leisten wir
einen aktiven Beitrag für die erfolgreiche Integration der Muslime in die
Mehrheitsgesellschaft.
Für manch einen "offiziellen" sind wir sicherlich auch ein etwas
unangenehmer Gesprächspartner, weil wir Probleme unserer Zeit offen
ansprechen und auch Unrecht beim Namen nennen.
Vielfach wirft man uns auch vor, auf "sichtbarer Differenz" zu beharren und
somit eigentlich integrationsfeindlich zu sein. Für uns ist das bestehen auf
"Differenz", das Bestehen auf den verfassungswerten der freiheitlich
demokratischen Ordnung der BRD. Insofern ist es wohl keine Übertreibung wenn
wir uns als IGMG als "Motor der Integration" begreifen.
MM:
Heute kann man Sie wohl noch als eine "türkisch"
dominierte Organisation bezeichnen. Aber in der Generation Ihrer Kinder wird
das Deutschsprachige wohl überwiegen, was sich auch in Ihrer Organisation
widerspiegeln wird? Können Sie sich vorstellen, eines Tages kein
Ausländerverein mehr zu sein?
Üçüncü: Ich würde
unsere Organisation nicht als "türkisch" dominiert bezeichnen, sondern als
eine Organisation mit mehrheitlich "Türkei-stämmigen" Mitgliedern. Das mag
zwar nach Haarspalterei klingen, unterstreicht aber unseren Anspruch, dass
unabhängig der genutzten Sprache, Deutschland bzw. Westeuropa im Fokus
unserer Aktivitäten steht. Den Sprachen der Länder, in denen wir leben,
tragen wir bereits jetzt Rechnung und dies wird sich Zukunft noch
verstärken. Wobei ich betonen möchte, dass die Bewahrung der türkischen
Sprache als inner-europäischer Kitt unserer Gemeinschaft in unseren
Bemühungen eine hohe Priorität genießt.
MM:
Welche Chancen sehen Sie zu einem konstruktiven
Miteinander in Deutschland, trotz der Ablehnung durch "Offizielle"?
Üçüncü: Trotz der aktuellen
Schwierigkeiten führt kein Weg an der Kooperation vorbei.
Verantwortungsvolles Handeln für unsere gemeinsame Zukunft gebietet diese
Zusammenarbeit. Es liegt nun an allen Akteuren im Prozess der Integration
des Islams jenseits von Tagespolitik und Rechtspopulismus sich dieser
Verantwortung zu stellen und Antworten auf brennende gesellschaftliche
Fragen gemeinschaftlich zu formulieren.
MM: Was hoffen Sie für Ihre Kinder in
Deutschland?
Üçüncü: Das, was alle Eltern für ihre
Kinder hoffen: Sie sollen sich in Deutschland wohl fühlen und ihre Träume
verwirklichen können, ohne sich ständig wegen ihrer Herkunft oder
Lebensweise rechtfertigen zu müssen.
MM:
Erlauben Sie uns noch eine letzte Frage: Falls
in der Champions-League Bayern München und Galatasaray Istanbul aufeinander
treffen würden, für wen wären Sie dann?
Üçüncü: Nun an dieser Stelle ist eine
Korrektur angebracht: Ich bin Fan von Trabzonspor und nicht von Galatasaray
Istanbul. Trotzdem gilt , was auch im großen Rahmen gilt. Spielt Deutschland
gegen die Türkei, bin ich für die Türkei (das ist halt so
). Spielt aber
Deutschland gegen den Rest der Welt , bin ich für Deutschland (und auch das
ist so, wie es ist
).
MM:
Herr Üçüncü, wir danken Ihnen für das
Interview. |