MM:
Sehr geehrter Herr Widmann, was bewegt einen gläubigen Katholiken dazu ein
Buch über das Kopftuch der muslimischen Frau in Deutschland zu schreiben?
Widmann:
Ich habe grundsätzlich großen Respekt vor jedem Menschen, der seine Religion
ernst nimmt, sich von ihr formen und immer wieder anfragen lässt. Denn diese
Haltung, die man Frömmigkeit oder Orthodoxie nennen kann, zeugt davon, dass
der Mensch wirklich etwas anerkennt, das höher ist als er selbst: Gott,
geistliche Autorität, Sittlichkeit. Wenn ein Mensch den Mut hat, aus derart
respektablen Gründen auch nach außen hin zu einer Lebensordnung zu stehen,
die konträr zu den gesellschaftlichen Üblichkeiten steht, finde ich das
bewundernswert.
Von Staaten, die sich in ihrer Verfassung zur Wahrung der Religionsfreiheit
verpflichten, erwarte ich Toleranz und Nüchternheit hinsichtlich religiöser
Praktiken, Ansichten und Lebensvollzüge. Natürlich wird jeder Staat die
Freiheit seiner Bürger nur in den Grenzen gewähren, die seine Identität und
Existenz nicht bedrohen.
Ich finde es aber absurd und lächerlich, eine solche Bedrohung an den
Kopfbedeckungen friedlicher und anständiger Frauen festzumachen. Dass dies
aber geschieht, zeugt von einer Gefährdung der Religionsfreiheit als
solcher. Und wenn in Frankreich bereits Nonnen wegen ihres Habits angepöbelt
und in Skandinavien Pfarrer wegen ihrer Einstellung zur Homosexualität
gerichtlich belangt werden, dann sieht man: Die Aktionen gegen Muslime sind
der Anfang einer üblen Entwicklung gegen jede ernsthafte Religion. Der
möchte ich mit meinem Buch entgegenwirken.
MM:
Abgesehen von wenige kleinen, sicherlich auf Missverständnissen beruhenden
Fehlern, haben Sie das Verständnis der Muslimas für ihr Kopftuch sehr
überzeugend herübergebracht. Woher haben Sie die Kenntnisse aus islamischer
Seite?
Widmann:
Ich bin kein Islamwissenschaftler oder Orientalist. Ich habe mich mit dem
Thema umfassend beschäftigt und unterschiedlichste Quellen Bücher,
Zeitungsartikel, Internetbeiträge, Gespräche ausgewertet. Den Text habe
ich von Leuten durchsehen lassen, die sich in Teilbereichen besser auskennen
als ich. Für Sachkritik und Verbesserungsvorschläge bin ich jedem dankbar.
Die Absicht des Buches ist aber in erster Linie, ein breites Publikum davon
zu überzeugen, dass Kopftuchverbote und Islamophobie unsinnig sind.
MM:
Welche Quellen standen ihnen dabei zur Verfügung, hatte Sie auch Gelegenheit
kompetente Muslime zu konsultieren?
Widmann:
Was die Aussagen über den Islam betrifft, stößt man auf unterschiedliche
Quellen: Freundliche und unfreundliche, sachliche und einseitige. Die einen
haben wissenschaftliche Absichten, andere dienen der Werbung oder Anleitung
von Gläubigen, wieder andere verfolgen politische Zwecke. Hinzu kommen
unterschiedliche Übertragungen des Korans. Ich habe während meiner Arbeit
mit einem sunnitischen Prediger, arabischer Muttersprachler, über das Thema
meines Buches gesprochen. Das war mir eine große Hilfe.
MM:
Nun, - nur weil Sie zur konstruktiven Kritik ermuntern - die kleinen Fehler
im Buch sind im Gesamtkontext nicht von großer Bedeutung. Die Hadsch
(Pilgerfahrt nach Mekka) ist - wie Sie es auch erwähnen - tatsächlich ein
gutes Beispiel der Gleichberechtigung, da z.B. eine Frau die Pilgerfahrt
eines Mannes nachholen kann. Dennoch trägt die Frau auch bei der Pilgerfahrt
ein Kopftuch (wie auch beim Begräbnis) (zu S. 28). Die Angaben über Anteile
der muslimischen Gruppen in der Welt ist etwas "ungenau" (zu S. 56), und die
angebliche Überlieferung, die darauf hinausläuft, dass Imam Ali sich ein
Frauengewand angelegt haben soll, ist eine Erfindung der späteren Omayyaden
gegen ihren größten Gegner (zu S. 55). Aber dennoch strotzt Ihr Buch von
einem Geist des wahren Glaubens voller wahrhaftiger Informationen und
Gefühle der Muslime, die ein Christ in teilweise wirklich sehr schöne Worte
kleidet. Sehen Sie darin auch die Chance zu einer Brücke der Gläubigen
unterschiedlicher Religionen?
Widmann:
Ich habe zunächst versucht darzustellen, wie aus muslimischer Sicht eine
Begründung für die Kleiderordnung der Frauen (die oberflächlich einfach
unter Kopftuch zusammengefasst wird) aussehen könnte. Dann habe ich
exemplarisch in unserer europäischen Tradition nach Vergleichbarem gesucht
und bin fündig geworden. Die Argumentation, die diese Traditionen stützt,
rankt sich ganz wesentlich um den Schutz eines menschlichen Gutes, der
Scham. Und hier sind wir bei einem Menschenbild, das tatsächlich eine Brücke
zwischen unterschiedlichen Religionen sein kann. Unter den Gläubigen der
Religionen sollten wir das Bewusstsein fördern, dass uns eine
Selbstverständlichkeit gemeinsam ist, die man das Humanum nennen könnte.
Dieses Menschenbild steht dem der sogenannten Autonomie entgegen,
die in Wirklichkeit nichts anderes ist, als den Menschen seines Schutzes
(etwa durch Kleidung) zu berauben, um ihn zum Arbeitstier und Geldausgeber
abzurichten. Den Prozess dorthin nennt man dann Flexibilisierung
MM:
Das Buch beinhaltet auch eine enorme Portion Selbstkritik an der materiell
orientierten Gesellschaft. Gab es keine Widerstände beim Verlag zur
Veröffentlichung eines derartigen Buches?
Widmann:
Nein. Der Verlag ist ein katholischer Sachbuchverlag. Kritik an der
materialistischen Gesellschaft kommt immer wieder aus dem christlichen
Bereich. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. war einer der
entschiedendsten Kritiker des Materialismus. Und Benedikt XVI. wird es hier
nicht grundsätzlich anders halten. Selbstverständlich sind offizielle
Stellungnahmen der Kirchen oder ihrer Repräsentanten in der Regel, wenn auch
deutlich, so doch eher sachlich und nüchtern. Als Laie erlaube ich mir
Zuspitzungen und Polemiken, da ich mich an einem
politisch-gesellschaftlichen Diskurs beteilige und keine pastoralen oder
amtlichen Rücksichten nehmen muss.
MM:
Was denkt ein Katholik, der über das Kopftuch schreibt, über die zunehmende
Nacktheit in der deutschen Gesellschaft?
Widmann:
Der Mensch ist ein Kulturwesen. Er ist nicht nackt wie ein Tier. Kleidung
zeichnet ihn als Menschen aus. Wie er gekleidet ist, das sagt schon etwas
über ihn: Ist er ein Kind, ein Mann oder eine Frau? Hat er eine bestimmte
Aufgabe, die ihn hinsichtlich seiner Zuständigkeit einschätzbar macht? Ist
er auf eine bestimmte Ausrichtung seines Lebens festgelegt, die für meinen
Umgang mit ihm von Bedeutung ist? Diese Aspekte sind immer mehr in
Vergessenheit geraten: ein Kulturverlust.
Die Darstellung nackter Frauen und Kleidung mit Tendenz zur Nacktheit sind
nicht nur ein Verlust der Scham, sondern auch ein Zeichen des Missbrauchs
der Frau. In der Öffentlichkeit dienen Bilder von Nackten meist der
Manipulation potentieller Kunden, während Kleidung mit der Tendenz der
Nacktheit der Manipulation potentieller Sexualpartner dient. Dadurch
entsteht ein Bild der Frau als verfügbares Sexualobjekt. Das entspricht
nicht ihrer Würde als Gottes Ebenbild.
MM:
Können Sie sich ein westlichen Wirtschaftssystem ohne Wachstumszwang und
ohne Zinsen vorstellen?
Widmann:
Ich finde diese Frage hochinteressant, wiewohl das nicht mein Metier ist.
Ich spreche hier also als absoluter Laie: Derzeit gibt es ja weltweit eine
Bewegung von sogenannten Globalisierungsgegnern. Und auch die Menschen in
Deutschland empfinden zusehends ein Unbehagen an Entwicklungen, die heute
weltwirtschaftlich gesehen werden müssen.
Wenn wir einmal die Managergehälter beiseite lassen, dann handelt es sich
erstens um finanzielle Gewinne, die ohne Produktivität entstehen, und
zweitens um eine Wettbewerbssituation, die jeden Teilnehmer zu vernichten
droht, der nicht den Erwartungen der Aktienmärkte entspricht.
Im ersten Fall geht es um Zinsen, Devisenschwankungen, Kursentwicklungen
usw., die nur clever und rasch genug ausgenutzt werden müssen, und schon ist
man um hohe Beträge reicher. Aber es wurde nichts hergestellt. Unerfahrene
Kleinanleger hingegen können schnell ihr Vermögen verlieren.
Im zweiten Fall geht es um Unternehmen, die Aktiengesellschaften sind. Sie
sind ihren Eignern, den Aktionären, verantwortlich. Die wollen etwas haben
von ihren Aktien. Der Wert muss steigen, Ausschüttungen werden verlangt. Das
Unternehmen muss also wachsen, expandieren. Ob es dies in ausreichendem Maße
tut, entscheiden Einschätzungen und Vergleiche auf dem Aktienmarkt. Zu
geringe Zuwächse können feindliche Übernahmen bedeuten. Also muss ständig
die Effizienz gesteigert, der Gewinn vergrößert werden. Dabei verlieren
Menschen ihren Arbeitsplatz, werden Unternehmen und Unternehmenszweige hin
und her geschoben, sinkt die Qualität vieler Produkte und Dienstleistungen.
Beide Entwicklungen bedeuten für viele horrende Gewinne oder Verluste, es
werden Existenzen vernichtet oder neu aufgebaut. Aber es muss die Frage
erlaubt sein, ob die Entfesselung einer solchen Dynamik gut ist. Und da sind
wir wieder bei Zins und Wachstum in ihren ursprünglichen moralischen
Bewertungen. Was etwa das Zinsnehmen betrifft, gab es in der katholischen
Kirche amtlicherseits Einschränkungen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Also
mich würde es interessieren, wie alternative Modelle zum jetzigen
Wirtschaftssystem aussehen.
MM:
Das islamische Modell ist ein Ideal, aber es führt z.B. das Geld auf seinen
Ursprung zurück, ein normierter Schuldschein zu sein, der sich durch das
bloße Verleihen ohne Beteiligung und Verantwortung nicht vermehren kann.
Besteht denn aus Ihrer Sicht unter gläubigen und praktizierenden Katholiken,
ein Interesse in solchen Fragen, alternative Lösungen zu erarbeiten?
Widmann:
Warum nicht?! Als sich vor einigen Jahren die Globalisierungsgegner auf den
Weltwirtschaftsgipfel in Genua vorbereiteten, waren unter den verschiedenen
Gruppen auch katholische. Ein italienischer Kardinal äußerte Verständnis für
ihr Anliegen. Die Suche nach Alternativen ist da. Auch heute wäre es
vorstellbar, bspw. auf einem Podium, das gemischt besetzt ist, das
islamische Modell einmal von jemandem, der sich in Wirtschaftsfragen
auskennt, vorzustellen, beispielsweise auf einem Kirchen- oder
Katholikentag, vor einem politisch ambitionierten Publikum oder in einer
Universität.
MM:
Zurück zu Ihrer Anfangsantwort. Können Sie sich vorstellen, dass Katholiken
und Muslime eines Tages intensiver als heute gemeinsam - als Minderheit -
gegen eine Materialisierung des hiesigen Daseins und gegen die Entfremdung
des Menschen von seinem Schöpfer eintreten können, auch in Deutschland?
Widmann:
Katholiken und Muslime müssen sich darüber verständigen, dass sich die von
Ihnen sehr schön zusammengefasste Tendenz nicht nur gegen ihre Lehre,
sondern gegen ihre Existenz richtet - früher oder später. Gegen diesen
Totalitarismus können und sollen sich Religionen gemeinsam wenden. Er
verschleiert sich als Liberalismus, wozu ich einen kleinen Aufsatz
geschrieben habe, den man im Online-Archiv der katholischen Zeitung Die
Tagespost finden kann. Einen hochinteressanten Ansatz für das gemeinsame
Engagement (auch wenn man nicht alle seine Gedanken teilt) enthält Peter
Kreeft in seinem Buch Ökumenischer Djihad?.
Ich hoffe sehr, dass auch in Deutschland Gläubige beider Religionen
gemeinsam aktiv werden. Man muss sich einfach dessen bewusst werden, dass
die gegenwärtige Situation langfristig beiden schadet. Um einmal von und zur
Seite der Westler zu sprechen: Seit dem 11. September 2001 verstecken sich
alle möglichen Scharfmacher hinter den brennenden Twin Towers. Und die Leute
sehen vor lauter Terrorpanik und Islamophobie nicht, wie ihnen die Security
immer mehr auf den Leib rückt, wie ihr Recht und ihre Freiheit immer mehr
eingeschränkt werden. Damit geben sie einem Personal Daten und Befugnisse in
die Hand, das morgen sein Gesicht ändern oder übermorgen ausgetauscht sein
kann, ganz demokratisch. Wer weiß, vielleicht wird der Sicherheitsbereich
(wie z.T. schon in den USA) eines Tages privatisiert, dann kommen
finanzielle Interessen ins Spiel. Und in der Zwischenzeit gehen ganz
nebenbei ganz andere Zugriffe weiter: auf Ehe und Familie, auf unsere
Kinder, unser Erbgut, unsere Organe, unsere Religion usw.
MM:
Und haben Sie keine Sorge, dass dann eines Tages gläubige und praktizierende
Katholiken als "Katholizisten" diffamiert werden könnten?
Widmann:
Die Sorge habe ich. Gegenwärtig hat der neue Papst, Benedikt XVI., viel
Sympathie. Ich wünsche ihm das auch. Aber ich vermute, uns wird der Wind
schon noch ins Gesicht blasen. Es ist uns auch nicht verheißen worden, dass
uns alle lieben, im Gegenteil: Sie werden euch hassen, sagt Jesus im
Matthäus-Evangelium.
MM:
Abschließende Frage: Wenn nun muslimische Organisationen - wie z.B. der
Muslim-Markt - ihr Buch an ihre Leser weiterempfehlen (was wir bereits auf
der Homepage getan haben), besorgt es Sie dann nicht durch Nichtleser des
Buches in eine Schublade von Islam-Symphatisanten abgeschoben zu werden?
Widmann:
Also wer, statt das Buch zu lesen, ruft Hilfe, ein Islam-Sympathisant, dem
kann ich auch nicht helfen. Ein gewisser Rest an Unvoreingenommenheit und
geistiger Frische ist nun einmal die Voraussetzung dafür, sich das Thema
einmal jenseits der üblichen Perspektive anzuschauen. Standpunkte oder
Menschen deshalb aus dem Diskurs oder der Rezeption auszugrenzen, weil sich
der Betreffende nicht geweigert hat, seinerseits mit jemandem nicht zu reden
und dessen Medien auszugrenzen, ist verbohrt und kindsköpfig zugleich. Ich
rede mit jedem ernsthaft Interessierten über mein Buch und freue mich über
jede Empfehlung. Es geht mir aber nicht in erster Linie um Sympathien,
sondern um die Freiheit der Religion, um die Wahrheit des Menschen und um
Gerechtigkeit für die von einem unmenschlichen und unsinnigen Verbot
Betroffenen.
MM:
Herr Widmann, wir danken Ihnen für das Interview
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