Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Michael Widmann
 

Muslim-Markt interviewt 
Michael Widmann, Autor des Buches "Das Kopftuch - Gefahr für die plurale Gesellschaft?" 

17.5.2005

Michael Widmann (Jahrgang 1964) wirkte nach dem Studium der Philosophie und Theologie in München, Wien und Frankfurt zunächst in einer großen Pfarrei und erhielt eine pastorale Ausbildung (Vermittlung der Kenntnisse für die hauptberufliche praktische Arbeit in einer Gemeinde ohne Pfarrer zu werden). Anschließend absolvierte er eine journalistische Ausbildung und war in der Redaktion einer katholischen Zeitung tätig. Derzeit arbeitet er in einem katholischen Verlag, wo er die Autoren, Inhalte und Form von Büchern betreut.

Widmann ist der Autor des Buches "Das Kopftuch - Gefahr für die plurale Gesellschaft?". Er ist verheiratet und hat einen Sohn.

MM: Sehr geehrter Herr Widmann, was bewegt einen gläubigen Katholiken dazu ein Buch über das Kopftuch der muslimischen Frau in Deutschland zu schreiben?

Widmann: Ich habe grundsätzlich großen Respekt vor jedem Menschen, der seine Religion ernst nimmt, sich von ihr formen und immer wieder anfragen lässt. Denn diese Haltung, die man Frömmigkeit oder Orthodoxie nennen kann, zeugt davon, dass der Mensch wirklich etwas anerkennt, das höher ist als er selbst: Gott, geistliche Autorität, Sittlichkeit. Wenn ein Mensch den Mut hat, aus derart respektablen Gründen auch nach außen hin zu einer Lebensordnung zu stehen, die konträr zu den gesellschaftlichen Üblichkeiten steht, finde ich das bewundernswert.

Von Staaten, die sich in ihrer Verfassung zur Wahrung der Religionsfreiheit verpflichten, erwarte ich Toleranz und Nüchternheit hinsichtlich religiöser Praktiken, Ansichten und Lebensvollzüge. Natürlich wird jeder Staat die Freiheit seiner Bürger nur in den Grenzen gewähren, die seine Identität und Existenz nicht bedrohen.

Ich finde es aber absurd und lächerlich, eine solche Bedrohung an den Kopfbedeckungen friedlicher und anständiger Frauen festzumachen. Dass dies aber geschieht, zeugt von einer Gefährdung der Religionsfreiheit als solcher. Und wenn in Frankreich bereits Nonnen wegen ihres Habits angepöbelt und in Skandinavien Pfarrer wegen ihrer Einstellung zur Homosexualität gerichtlich belangt werden, dann sieht man: Die Aktionen gegen Muslime sind der Anfang einer üblen Entwicklung gegen jede ernsthafte Religion. Der möchte ich mit meinem Buch entgegenwirken.

MM: Abgesehen von wenige kleinen, sicherlich auf Missverständnissen beruhenden Fehlern, haben Sie das Verständnis der Muslimas für ihr Kopftuch sehr überzeugend herübergebracht. Woher haben Sie die Kenntnisse aus islamischer Seite?

Widmann: Ich bin kein Islamwissenschaftler oder Orientalist. Ich habe mich mit dem Thema umfassend beschäftigt und unterschiedlichste Quellen – Bücher, Zeitungsartikel, Internetbeiträge, Gespräche – ausgewertet. Den Text habe ich von Leuten durchsehen lassen, die sich in Teilbereichen besser auskennen als ich. Für Sachkritik und Verbesserungsvorschläge bin ich jedem dankbar. Die Absicht des Buches ist aber in erster Linie, ein breites Publikum davon zu überzeugen, dass Kopftuchverbote und Islamophobie unsinnig sind.

MM: Welche Quellen standen ihnen dabei zur Verfügung, hatte Sie auch Gelegenheit kompetente Muslime zu konsultieren?

Widmann: Was die Aussagen über den Islam betrifft, stößt man auf unterschiedliche Quellen: Freundliche und unfreundliche, sachliche und einseitige. Die einen haben wissenschaftliche Absichten, andere dienen der Werbung oder Anleitung von Gläubigen, wieder andere verfolgen politische Zwecke. Hinzu kommen unterschiedliche Übertragungen des Korans. Ich habe während meiner Arbeit mit einem sunnitischen Prediger, arabischer Muttersprachler, über das Thema meines Buches gesprochen. Das war mir eine große Hilfe.

MM: Nun, - nur weil Sie zur konstruktiven Kritik ermuntern - die kleinen Fehler im Buch sind im Gesamtkontext nicht von großer Bedeutung. Die Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka) ist - wie Sie es auch erwähnen - tatsächlich ein gutes Beispiel der Gleichberechtigung, da z.B. eine Frau die Pilgerfahrt eines Mannes nachholen kann. Dennoch trägt die Frau auch bei der Pilgerfahrt ein Kopftuch (wie auch beim Begräbnis) (zu S. 28). Die Angaben über Anteile der muslimischen Gruppen in der Welt ist etwas "ungenau" (zu S. 56), und die angebliche Überlieferung, die darauf hinausläuft, dass Imam Ali sich ein Frauengewand angelegt haben soll, ist eine Erfindung der späteren Omayyaden gegen ihren größten Gegner (zu S. 55). Aber dennoch strotzt Ihr Buch von einem Geist des wahren Glaubens voller wahrhaftiger Informationen und Gefühle der Muslime, die ein Christ in teilweise wirklich sehr schöne Worte kleidet. Sehen Sie darin auch die Chance zu einer Brücke der Gläubigen unterschiedlicher Religionen?

Widmann: Ich habe zunächst versucht darzustellen, wie aus muslimischer Sicht eine Begründung für die Kleiderordnung der Frauen (die oberflächlich einfach unter „Kopftuch“ zusammengefasst wird) aussehen könnte. Dann habe ich exemplarisch in unserer europäischen Tradition nach Vergleichbarem gesucht und bin fündig geworden. Die Argumentation, die diese Traditionen stützt, rankt sich ganz wesentlich um den Schutz eines menschlichen Gutes, der Scham. Und hier sind wir bei einem Menschenbild, das tatsächlich eine Brücke zwischen unterschiedlichen Religionen sein kann. Unter den Gläubigen der Religionen sollten wir das Bewusstsein fördern, dass uns eine Selbstverständlichkeit gemeinsam ist, die man das Humanum nennen könnte. Dieses Menschenbild steht dem der sogenannten Autonomie entgegen, die in Wirklichkeit nichts anderes ist, als den Menschen seines Schutzes (etwa durch Kleidung) zu berauben, um ihn zum Arbeitstier und Geldausgeber abzurichten. Den Prozess dorthin nennt man dann Flexibilisierung …

MM: Das Buch beinhaltet auch eine enorme Portion Selbstkritik an der materiell orientierten Gesellschaft. Gab es keine Widerstände beim Verlag zur Veröffentlichung eines derartigen Buches?

Widmann: Nein. Der Verlag ist ein katholischer Sachbuchverlag. Kritik an der materialistischen Gesellschaft kommt immer wieder aus dem christlichen Bereich. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. war einer der entschiedendsten Kritiker des Materialismus. Und Benedikt XVI. wird es hier nicht grundsätzlich anders halten. Selbstverständlich sind offizielle Stellungnahmen der Kirchen oder ihrer Repräsentanten in der Regel, wenn auch deutlich, so doch eher sachlich und nüchtern. Als Laie erlaube ich mir Zuspitzungen und Polemiken, da ich mich an einem politisch-gesellschaftlichen Diskurs beteilige und keine pastoralen oder amtlichen Rücksichten nehmen muss.

MM: Was denkt ein Katholik, der über das Kopftuch schreibt, über die zunehmende Nacktheit in der deutschen Gesellschaft?

Widmann: Der Mensch ist ein Kulturwesen. Er ist nicht nackt wie ein Tier. Kleidung zeichnet ihn als Menschen aus. Wie er gekleidet ist, das sagt schon etwas über ihn: Ist er ein Kind, ein Mann oder eine Frau? Hat er eine bestimmte Aufgabe, die ihn hinsichtlich seiner Zuständigkeit einschätzbar macht? Ist er auf eine bestimmte Ausrichtung seines Lebens festgelegt, die für meinen Umgang mit ihm von Bedeutung ist? Diese Aspekte sind immer mehr in Vergessenheit geraten: ein Kulturverlust.

Die Darstellung nackter Frauen und Kleidung mit Tendenz zur Nacktheit sind nicht nur ein Verlust der Scham, sondern auch ein Zeichen des Missbrauchs der Frau. In der Öffentlichkeit dienen Bilder von Nackten meist der Manipulation potentieller Kunden, während Kleidung mit der Tendenz der Nacktheit der Manipulation potentieller Sexualpartner dient. Dadurch entsteht ein Bild der Frau als verfügbares Sexualobjekt. Das entspricht nicht ihrer Würde als Gottes Ebenbild.

MM: Können Sie sich ein westlichen Wirtschaftssystem ohne Wachstumszwang und ohne Zinsen vorstellen?

Widmann: Ich finde diese Frage hochinteressant, wiewohl das nicht mein Metier ist. Ich spreche hier also als absoluter Laie: Derzeit gibt es ja weltweit eine Bewegung von sogenannten Globalisierungsgegnern. Und auch die Menschen in Deutschland empfinden zusehends ein Unbehagen an Entwicklungen, die heute weltwirtschaftlich gesehen werden müssen.

Wenn wir einmal die Managergehälter beiseite lassen, dann handelt es sich erstens um finanzielle Gewinne, die ohne Produktivität entstehen, und zweitens um eine Wettbewerbssituation, die jeden Teilnehmer zu vernichten droht, der nicht den Erwartungen der Aktienmärkte entspricht.

Im ersten Fall geht es um Zinsen, Devisenschwankungen, Kursentwicklungen usw., die nur clever und rasch genug ausgenutzt werden müssen, und schon ist man um hohe Beträge reicher. Aber es wurde nichts hergestellt. Unerfahrene Kleinanleger hingegen können schnell ihr Vermögen verlieren.

Im zweiten Fall geht es um Unternehmen, die Aktiengesellschaften sind. Sie sind ihren Eignern, den Aktionären, verantwortlich. Die wollen etwas haben von ihren Aktien. Der Wert muss steigen, Ausschüttungen werden verlangt. Das Unternehmen muss also wachsen, expandieren. Ob es dies in ausreichendem Maße tut, entscheiden Einschätzungen und Vergleiche auf dem Aktienmarkt. Zu geringe Zuwächse können feindliche Übernahmen bedeuten. Also muss ständig die Effizienz gesteigert, der Gewinn vergrößert werden. Dabei verlieren Menschen ihren Arbeitsplatz, werden Unternehmen und Unternehmenszweige hin und her geschoben, sinkt die Qualität vieler Produkte und Dienstleistungen.

Beide Entwicklungen bedeuten für viele horrende Gewinne oder Verluste, es werden Existenzen vernichtet oder neu aufgebaut. Aber es muss die Frage erlaubt sein, ob die Entfesselung einer solchen Dynamik gut ist. Und da sind wir wieder bei Zins und Wachstum in ihren ursprünglichen moralischen Bewertungen. Was etwa das Zinsnehmen betrifft, gab es in der katholischen Kirche amtlicherseits Einschränkungen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Also mich würde es interessieren, wie alternative Modelle zum jetzigen Wirtschaftssystem aussehen.

MM: Das islamische Modell ist ein Ideal, aber es führt z.B. das Geld auf seinen Ursprung zurück, ein normierter Schuldschein zu sein, der sich durch das bloße Verleihen ohne Beteiligung und Verantwortung nicht vermehren kann. Besteht denn aus Ihrer Sicht unter gläubigen und praktizierenden Katholiken, ein Interesse in solchen Fragen, alternative Lösungen zu erarbeiten?

Widmann: Warum nicht?! Als sich vor einigen Jahren die Globalisierungsgegner auf den Weltwirtschaftsgipfel in Genua vorbereiteten, waren unter den verschiedenen Gruppen auch katholische. Ein italienischer Kardinal äußerte Verständnis für ihr Anliegen. Die Suche nach Alternativen ist da. Auch heute wäre es vorstellbar, bspw. auf einem Podium, das gemischt besetzt ist, das islamische Modell einmal von jemandem, der sich in Wirtschaftsfragen auskennt, vorzustellen, beispielsweise auf einem Kirchen- oder Katholikentag, vor einem politisch ambitionierten Publikum oder in einer Universität.

MM: Zurück zu Ihrer Anfangsantwort. Können Sie sich vorstellen, dass Katholiken und Muslime eines Tages intensiver als heute gemeinsam - als Minderheit - gegen eine Materialisierung des hiesigen Daseins und gegen die Entfremdung des Menschen von seinem Schöpfer eintreten können, auch in Deutschland?

Widmann: Katholiken und Muslime müssen sich darüber verständigen, dass sich die von Ihnen sehr schön zusammengefasste Tendenz nicht nur gegen ihre Lehre, sondern gegen ihre Existenz richtet - früher oder später. Gegen diesen Totalitarismus können und sollen sich Religionen gemeinsam wenden. Er verschleiert sich als „Liberalismus“, wozu ich einen kleinen Aufsatz geschrieben habe, den man im Online-Archiv der katholischen Zeitung „Die Tagespost“ finden kann. Einen hochinteressanten Ansatz für das gemeinsame Engagement (auch wenn man nicht alle seine Gedanken teilt) enthält Peter Kreeft in seinem Buch „Ökumenischer Djihad?“.

Ich hoffe sehr, dass auch in Deutschland Gläubige beider Religionen gemeinsam aktiv werden. Man muss sich einfach dessen bewusst werden, dass die gegenwärtige Situation langfristig beiden schadet. Um einmal von und zur Seite der „Westler“ zu sprechen: Seit dem 11. September 2001 verstecken sich alle möglichen Scharfmacher hinter den brennenden Twin Towers. Und die Leute sehen vor lauter Terrorpanik und Islamophobie nicht, wie ihnen die Security immer mehr auf den Leib rückt, wie ihr Recht und ihre Freiheit immer mehr eingeschränkt werden. Damit geben sie einem Personal Daten und Befugnisse in die Hand, das morgen sein Gesicht ändern oder übermorgen ausgetauscht sein kann, ganz demokratisch. Wer weiß, vielleicht wird der Sicherheitsbereich (wie z.T. schon in den USA) eines Tages privatisiert, dann kommen finanzielle Interessen ins Spiel. Und in der Zwischenzeit gehen ganz nebenbei ganz andere Zugriffe weiter: auf Ehe und Familie, auf unsere Kinder, unser Erbgut, unsere Organe, unsere Religion usw.

MM: Und haben Sie keine Sorge, dass dann eines Tages gläubige und praktizierende Katholiken als "Katholizisten" diffamiert werden könnten?

Widmann: Die Sorge habe ich. Gegenwärtig hat der neue Papst, Benedikt XVI., viel Sympathie. Ich wünsche ihm das auch. Aber ich vermute, uns wird der Wind schon noch ins Gesicht blasen. Es ist uns auch nicht verheißen worden, dass uns alle lieben, im Gegenteil: „Sie werden euch hassen“, sagt Jesus im Matthäus-Evangelium.

MM: Abschließende Frage: Wenn nun muslimische Organisationen - wie z.B. der Muslim-Markt - ihr Buch an ihre Leser weiterempfehlen (was wir bereits auf der Homepage getan haben), besorgt es Sie dann nicht durch Nichtleser des Buches in eine Schublade von Islam-Symphatisanten abgeschoben zu werden?

Widmann: Also wer, statt das Buch zu lesen, ruft „Hilfe, ein Islam-Sympathisant“, dem kann ich auch nicht helfen. Ein gewisser Rest an Unvoreingenommenheit und geistiger Frische ist nun einmal die Voraussetzung dafür, sich das Thema einmal jenseits der üblichen Perspektive anzuschauen. Standpunkte oder Menschen deshalb aus dem Diskurs oder der Rezeption auszugrenzen, weil sich der Betreffende nicht geweigert hat, seinerseits mit jemandem nicht zu reden und dessen Medien auszugrenzen, ist verbohrt und kindsköpfig zugleich. Ich rede mit jedem ernsthaft Interessierten über mein Buch und freue mich über jede Empfehlung. Es geht mir aber nicht in erster Linie um Sympathien, sondern um die Freiheit der Religion, um die Wahrheit des Menschen und um Gerechtigkeit für die von einem unmenschlichen und unsinnigen Verbot Betroffenen.

MM: Herr Widmann, wir danken Ihnen für das Interview

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