MM:
Sehr geehrter Herr
Prof. Zirker, ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist der Heilige Qur'an. So haben
Sie u.a. eine Transkription des gesamten Buches für deutschsprachige Leser
erstellt. Was war die Motivation dazu?
Zirker:
Diese eine Veröffentlichung darf man nicht isoliert sehen. Sie ist ein
beiläufiges Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Islam. Dazu hat mich schon
von meinen Studienzeiten her die Erfahrung angeregt, dass diese Religion in
der katholischen wie der evangelischen Theologie, zumindest im deutschen
Sprachraum, wenig beachtet und kaum ernst genommen wurde. Daran änderte sich
auch nach der beachtlichen Würdigung des muslimischen Glaubens durch das
Zweite Vatikanische Konzil zunächst nur wenig. Weithin beschränkte man sich
auf religionswissenschaftliche Kenntnisnahme. Theologie aber muss über die
vorwiegend historischen und literarischen Interessen der
Religionswissenschaft hinaus danach fragen, wie man sich über religiösen
Glauben, den eigenen und den fremden, verständigen kann. Dabei genügt es
nicht festzustellen, worin wir Gemeinsames und worin Unterschiede sehen. Die
schwierigere Überlegung heißt: Was bedeutet es für uns, dass andere Menschen
bejahen, was uns selbst nicht gleicherweise überzeugt; dass andere manches
für unerheblich halten oder gar bestreiten, was uns wichtig ist? Wie kommen
wir damit zurecht, dass sich die Differenzen nicht einfach auf Unkenntnis
und Missverständnisse, gar Starrsinn zurückführen lassen, sondern auch
zwischen gutwilligen, aufgeschlossenen und kundigen Menschen bestehen?
Können wir dennoch voneinander lernen vielleicht gerade wenn wir die
wechselseitigen Verlegenheiten erkennen? Vor solche Fragen sehe ich Christen
wie Muslime gestellt. Ich gehe dem vor allem im Blick auf das Verständnis
des Koran nach, der sich ja ausdrücklich auch an Christen richtet. Um ihn in
seinem Inhalt, aber auch in der Gestalt seiner Rede und in der Verknüpfung
seiner Themen möglichst sorgfältig wahrzunehmen, habe ich ihn mir eigens
übersetzt (zunächst nicht in der Absicht, diese Übersetzung zu
veröffentlichen) und dabei auch eine Umschrift angefertigt, die bei
Textuntersuchungen am Computer hilfreich ist.
MM:
Bereits vor über zehn
Jahren haben Sie eine umfassende Schrift zur Herausforderung Islam in der
hiesigen Gesellschaft veröffentlicht. Wurde die Arbeit damals beachtet? Was
denken Sie, wenn Sie die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung
diesbezüglich in Deutschland beobachten?
Zirker:
Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit komplexen Verhältnissen befassen
und sich um differenzierte Urteile bemühen müssen, finden ihre Beachtung
zumeist nicht in großer Öffentlichkeit. Doch habe ich bei meinem Bemühen,
die verbreiteten plakativen Vorstellungen vom Islam abzuwehren, viel
Zuspruch und Interesse erfahren können.
Gewiss finden wir uns alle leichter mit der Realität zurecht, wenn wir sie
nach einfachen Mustern begreifen, möglichst in Schwarz und Weiß, mit
deutlichen Grenzen da wir, dort die anderen und kompakten Blöcken
der Islam und die Muslime. Dieses Bedürfnis, genau und sicher zu wissen,
woran wir sind, steigt umso mehr, als Angst aufkommt. Der 11. September war
auch in dieser Hinsicht unheilvoll. Für viele hat er so widersprüchlich
dies scheint klare Verhältnisse geschaffen, die Gegensätze, mit denen man
schon immer gerechnet hat, aufgedeckt, die notwendigen Fronten gezogen. Die
aggressiven Urteile, die dabei zu hören sind, sind nicht neu, werden jetzt
aber lauter und selbstsicherer vorgetragen.
Zugleich setzt sich aber im Gegenzug auch die Einsicht durch, dass man so
der Wirklichkeit nicht gerecht wird, vielmehr die Verhältnisse verschlimmert
und Feindseligkeit schürt. Das Bedürfnis nach besseren Kenntnissen, nach
gelassener Wahrnehmung und sachlichen Auseinandersetzungen wächst. Freilich
gibt es dafür nicht den eindeutigen Sachverstand. Niemand kann sich, wenn es
um den Islam geht, für eigentlich zuständig erklären; eine solch exklusive
Autorität gewähren weder Wissenschaft noch Religionszugehörigkeit und
gläubige Lebenserfahrung. Entscheidend ist, ob es gelingt, die verschiedenen
Sichtweisen in ihren jeweiligen Vorzügen und Grenzen aufeinander zu
beziehen. Das Bemühen darum ist in unserer Gesellschaft trotz aller
öffentlich spektakulären Gegenbeispiele vorhanden, in Verbänden und Kirchen,
an Schulen, Universitäten und Akademien, bei tüchtigen Journalisten und
zahllosen aufgeschlossenen Menschen. Ich habe keinen Grund, die gegenwärtige
Situation nur negativ zu sehen.
Ein positives Moment von grundlegender politischer Bedeutung ist die in der
Neuzeit nach leidvollen Erfahrungen gewonnene Einsicht, dass keine einzelne
Religion oder Weltanschauung in der Lage ist und beanspruchen kann, der
gesamten Gesellschaft das geistige Fundament und die rechtliche Ordnung
vorzugeben, dass vielmehr unser Zusammenleben dann am ehesten friedfertig
sein kann, wenn wir uns auf ein unverzichtbares Minimum von Spielregeln und
Werten verpflichten in Grundrechten kodifiziert und alles darüber
Hinausgehende den Entscheidungen des politischen Kräftespiels und der
individuellen Lebensgestaltung anheim stellen. Dies schließt
Religionsfreiheit als individuelles Selbstbestimmungsrecht ein.
Faktisch hat dies bei uns jedoch auch dazu geführt, dass Religion weitgehend
ins Private zurückgezogen oder gar verflüchtigt erscheint. Dementsprechend
wird die bei uns gültige Trennung von Staat und Kirche (im Blick auf den
Islam hieße dies etwa: von staatlicher Rechtsordnung und religiösen
Weisungen) häufig missverstanden als Trennung von Religion und Politik
und so vor allem vom Islam gefordert. Doch diese Forderung muss mit dem
Widerspruch nicht nur von muslimischer, sondern auch von christlicher Seite
rechnen; denn sie verlangt eine Selbstamputation der Religionen. Das
Gegenteil sollte der Fall sein: ein politisches Handeln der
Religionsgemeinschaften und ihrer Mitglieder zum Wohl des Gemeinwesens unter
Wahrung der genannten Spielregeln, die auf eine gleichberechtigte
Beteiligung aller ausgerichtet sind. Die Verantwortung dafür, dass dies auch
im Blick auf Musliminnen und Muslime gelingt, kann nicht allein diesen
aufgelastet werden.
MM:
Nun könnten sich
Christen und Muslime beispielsweise auf Basis der Zehn Gebote einigen. Fakt
ist aber, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich so ziemlich von allen
Zehn Geboten zunehmend weg entfernt. Sind hier die Unterschiede zwischen
praktizierenden Muslimen und Christen nicht viel geringer als der
Unterschied zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung?
Zirker:
In der Tat stimmen Koran und Bibel im Blick auf die Zehn Gebote weitgehend
überein. In der Christentumsgeschichte, in der religiösen Bildung und
Erziehung, spielten diese von Anfang an eine große Rolle. Aber es ist auch
bezeichnend, dass sie dabei wechselnde Deutungen und Anwendungen erfahren
haben. So hat z.B. das Gebot der Sabbatruhe bald nicht mehr seine
ursprüngliche Geltung behalten, und das Verbot der Anfertigung von
Gottesbildern wurde nach heftigen Auseinandersetzungen mit theologischen
Argumenten außer Kraft gesetzt. Dadurch sah man die Hochschätzung der Zehn
Gebote insgesamt nicht geschmälert. Sie sollten Ihre Bedeutung und Kraft
gerade unter den wechselnden religiösen Voraussetzungen und
alltagsweltlichen Verhältnissen behalten.
Anders jedoch ist die heutige Situation, die Sie ansprechen. Unsere
Gesellschaft ist zwar in vielem von christlicher Tradition geprägt, aber bei
weitem nicht als ganze christlich. Ich kann deshalb auch nicht erwarten,
dass die Zehn Gebote von allen als verbindlich, gar als Gottes Gebote
anerkannt werden. Wie weit dies geschieht, ist also zunächst eine Sache der
persönlichen Lebensgestaltung. Dabei kann sich selbstverständlich jeder
unter uns, ob Jude, Muslim oder Christ, nach Kräften darum bemühen, dass die
in den Zehn Geboten grundgelegten Orientierungen weiterhin geachtet bleiben.
Die Möglichkeiten dazu sind freilich jeweils anders in der Familie, in
Moschee, Kirche und Synagoge, in der Schule, hier vor allem im
Religionsunterricht, recht anders gar im politischen Leben, vor allem in der
staatlichen Gesetzgebung.
Ob wir dabei die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt so misslich sehen
müssen, wie es Ihre Frage nahelegt, kann ich nicht entscheiden. Dabei müsste
ich ja Vergleiche mit früheren Zeiten oder kulturell anderen Regionen
unserer Welt ziehen. Das würde zu fragwürdigen Ergebnissen führen.
Sicher aber ist es gut, wenn sich Muslime, Christen und Juden immer wieder
darauf besinnen, dass sie in ihren religiösen Weisungen einen grundlegend
gleichen Bestand haben. Dies stärkt die wechselseitige Achtung und die
gemeinsame moralische Verantwortung.
MM:
Neben der
gesellschaftlichen Herausforderung haben Sie auch eine theologische
Herausforderung gesehen. Worin besteht sie?
Zirker:
Ich beschränke mich auf zwei Gesichtspunkte, die mir am wichtigsten
scheinen. Der erste betrifft vor allem das Christentum, der zweite auch den
Islam.
1. Mit der Verkündigung des Koran tritt in der Weltgeschichte eine Religion
auf, die von Anfang an die Christen (zusammen mit den Juden) wahrnimmt, sie
von Gott her angesprochen sieht, im Blick auf ihren Ursprung anerkennt,
letztlich aber auch schwerwiegend verurteilt. Auf christlicher Seite hat man
dies traditionell als religiöse Verirrung abgetan. Doch übersah man dabei,
wie viel religionsgeschichtliche Erfahrung dem zugrunde liegt; denn der
Koran blickt auf die tiefen Zerwürfnisse von Juden und Christen und
schließlich auch der verschiedenen christlichen Kirchen in ihren
dogmatischen Streitigkeiten: sie spalteten sich in ihrer Sache
untereinander nach Schriften, jede Partei erfreut über das, was sie hat
(23,53). Auf diese und ähnliche Weise hält der Koran den Christen mehrfach
und nachdrücklich vor, dass es ihnen nicht gelungen ist, bei der
theologischen Darlegung und verbindlichen Formulierung ihres Glaubens die
kirchliche Gemeinschaft zu wahren. Auch wenn Christen diese in mancher
Hinsicht unheilvolle Geschichte nicht rückgängig machen können, so haben sie
den Einspruch des Koran doch ernst zu nehmen und theologisch zu verarbeiten.
2. Wie keine anderen Religionen dieser Welt erheben Islam und Christentum
gleicherweise den Anspruch, dass sie die endgültige und unüberbietbare
Offenbarung Gottes verkünden, zur Verpflichtung aller Menschen. Zugleich
haben aber auch beide Religionen erfahren müssen, dass sie diesen doppelten
Anspruch der Endgültigkeit und Universalität faktisch nicht einlösen können.
Die Welt ist und bleibt auf unabsehbare Zukunft hin religiös plural und
widersprüchlich. Dies theologisch zu verstehen, die Grenzen der eigenen
Mitteilungs- und Überzeugungsfähigkeit realistisch anzunehmen und zu
verarbeiten, ist für beide Religionen eine unausweichliche Aufgabe.
MM:
Ist nicht die
Pluralität eine Chance, um sich selbst zu hinterfragen und dadurch
weiterzuentwickeln? Beide Religionen haben immerhin gemeinsam die
Erwartung auf die Rückkehr eines Erlösers, der das durch fehlbehaftete
Menschen nicht verwirklichbare Ideal realisieren wird. Könnte nicht das
gemeinsame Warten ein konstruktives Element der Kooperation sein, bei dem
dann der Erlöser - sobald er erscheint - uns über die Unterschiede aufklären
wird?
Zirker:
Sie legen mir einen Gedanken nahe, der mir sehr wichtig scheint und
dem ich gern nachgehe. Die christliche Theologie spricht vom eschatologischen
Vorbehalt, d.h. dem Vorbehalt, dass all unsere Lebensverhältnisse nicht
das Letzte (eschaton) sind. All unsere Wünsche und Pläne, unser Handeln,
besonders auch das politische, unsere Institutionen, ob Staat oder Kirche,
schließlich auch die Religionen in ihrer jeweiligen geschichtlichen und
kulturellen Gestalt können keine absolute Geltung beanspruchen und uns nicht
endgültig zufrieden stellen. Ihr Gelingen steht nicht in unserer Hand.
Dieses Bewusstsein soll unser Bemühen nicht lähmen, sondern uns im Gegenteil
bei all dem, was wir nur vorläufig und bruchstückhaft zustande bringen,
darin bestärken, dass wir unseren Weg unbeirrt und zuversichtlich
weitergehen auf eine Zukunft hin, die wir uns in zahlreichen mächtigen
Bildern vergegenwärtigen (darunter auch dem von der Wiederkunft des
Erlösers), eine Zukunft aber, die all unsere Vorstellungen übersteigt; denn
auch unsere Sprache mit ihren Begriffen und Bildern steht unter dem
Vorbehalt, dass sie dem Endgültigen gegenüber unzulänglich ist.
MM:
Wenn man die aktuellen
Ereignisse in Deutschland betrachtet, so wundern sich viele Muslime - auch
aus theologischer Sicht - insbesondere über die katholische Kirche, die beim
so genannten Kopftuchkonflikt so schweigsam war, obwohl die Tracht einer
Nonne sich in keiner Weise von der Kleidung einer Muslima unterscheidet. Um
mehrere Fragen miteinander zu verbinden: Darf Fatima sich nicht bedecken,
Maria aber schon, obwohl Maria in Fatima erschienen ist?
Zirker:
Der Kopftuchstreit ist auch für mich von Anfang an eine ärgerliche Sache.
Dabei muss man freilich sehen was häufig nicht beachtet wird -, dass es
bei uns (anders als in Frankreich) um die Kleidung von Lehrerinnen an
staatlichen Schulen geht (und nicht etwa auch um das Kopftuch von
Schülerinnen). Zwar gibt es in unserer Gesellschaft vermutlich nicht wenige
Menschen, die am liebsten das islamische Kopftuch überhaupt aus der
Öffentlichkeit verbannt sähen, doch diese Unvernunft hat keine politische
Chance. Also darf sich bei uns von bestimmten beruflichen Situationen
abgesehen selbstverständlich Fatima wie Maria kleiden. Aber damit sind
wir beim strittigen Punkt.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September 2003 hätten die
Bundesländer zwei alternative Entscheidungsmöglichkeiten gehabt:
1. Die Schulen sind ein besonders geeigneter Ort, um das Zusammenleben von
Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Traditionen
verständnisvoll einzuüben. Dass eine muslimische Lehrerin die Kleidung
trägt, zu der sie sich verpflichtet glaubt, sollte als eine Chance dazu
angesehen werden.
Wenn Lehrerinnen oder Lehrer, welcher Religion auch immer, in den Verdacht
geraten, dass sie den Voraussetzungen ihres Berufs nicht entsprechen, ist
dies im Einzelfall zu prüfen, um dann eventuell die erforderlichen
rechtlichen Konsequenzen zu ziehen.
Diese Entscheidung hätte mich im Blick auf die Aufgaben der Schule und
unsere gesellschaftliche Situation am meisten überzeugt.
Oder 2. Alle Lehrerinnen und Lehrer an staatlichen Schulen sind
Repräsentanten des Staates, der zur Neutralität gegenüber allen Religionen
und Weltanschauungen verpflichtet ist. Dementsprechend sollten sie ob
Christen, Muslime, Juden oder Angehörige anderer Religionen in ihrer
staatlichen Funktion keine Symbole ihres Glaubens tragen. Wer unbedingt
meint, auf seine Ordenstracht, sein Priestergewand, seine jüdische Kippa,
sein muslimisches Kopftuch nicht verzichten zu können, kann nicht in den
staatlichen Schuldienst.
Diese Entscheidung wäre wenigstens konsequent. Außerdem bezöge sie sich auf
Männer wie Frauen.
Die jetzigen Gesetze oder Gesetzesinitiativen einzelner Bundesländer (nicht
aller), die sich im Grund nur gegen das Kopftuch muslimischer Frauen
richten, erscheinen mir aber ich bin kein Jurist als nicht
verfassungsgemäß. Ich warte gespannt auf ein erstes Verfahren beim
Bundesverfassungsgericht.
Die deutschen Kirchen, evangelische und katholische, haben uneinheitlich
reagiert. Die katholischen Bischöfe äußerten sich nicht mit einer Stimme.
Das Gespür für die Bedeutung, die eine bestimmte Kleidung für Menschen
anderer Religionen haben kann, ist offensichtlich auch hier unterschiedlich
ausgeprägt. Ich verstehe, dass Muslime, vor allem muslimische Frauen
enttäuscht sind.
MM:
Letztendlich betrifft
die Enttäuschung ja nicht das Kopftuch allein. In periodischen Abständen
wiederholte Moscheerazzien, die Stigmatisierung der Muslime an sich, die
journalistische Behandlung mancher Ereignisse (bis hin zu den "islamistischen
Drogenhändlern", die man laut Journalisten vor wenigen Wochen in Hessen
gefunden haben will), all das drängt praktizierende Muslime faktisch an den
Rand der Gesellschaft. Dabei empfinden Muslime eine besondere Schweigsamkeit
der "offiziellen" Christen. Ist das nur ein subjektiver aus Ihrer Sicht
nicht gerechtfertigter Eindruck, oder könnte es nicht sein, dass Teile der
Kirchen die Gelegenheit nutzen, um sich von einer ernst zu nehmenden
Konkurrenz zu
befreien?
Zirker:
Ich nehme Ihre Erfahrungen sehr ernst und stelle selbst entsprechende
diskriminierende Verhaltensweisen fest. Vor allem fällt mir auf, wie schnell
die Medien bei Vorfällen, an denen Musliminnen und Muslime beteiligt sind,
deren Religion mitnennen, während ich noch nie von christlichen
Drogenhändlern, gewaltbereiten christlichen Schülern usw. gelesen habe.
Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als solche Erscheinungen in unserer
Gesellschaft anzuprangern, wo immer man dazu die Gelegenheit findet. Ich
beteilige mich daran nach meinen Möglichkeiten.
Ihren Eindruck, dass sich die offiziellen Christen, das heißt die
kirchlichen Amtspersonen, in Schweigsamkeit hüllen, sich gar von
Konkurrenzangst leiten lassen, kann ich allerdings nicht teilen. Im
Gegenteil sehe ich ein vielfältiges Bemühen, das interreligiöse Verständnis
zu fördern. Ich nenne drei recht unterschiedliche und letztlich zufällige
Beispiele von katholischer Seite (auf evangelischer ließen sich ähnliche
anführen): Die nur kurz zurückliegende Begegnung des Papstes mit Muslimen
bei seinem Besuch in Köln wurde zu Recht als ein Zeichen der Verbundenheit
von Christen und Muslimen beachtet. Die Ansprache des Papstes war deutlich
von der Wertschätzung des islamischen Glaubens geprägt. Das Sekretariat
der Deutschen Bischofskonferenz verbreitet schon seit vielen Jahren und in
überarbeiteten Auflagen eine Schrift Christen und Muslime in Deutschland,
die ein verständnisvolles und kooperationsbereites Zusammenleben fördern
soll. Die katholischen Akademien haben in ihren Programmen regelmäßig
Veranstaltungen zum Islam, bei denen häufig auch muslimische Referentinnen
und Referenten beteiligt sind. Die Vorträge, Seminare und Gesprächskreise
richten sich an eine interessierte Öffentlichkeit und finden guten Zuspruch.
Eine besondere Initiative ist das Theologische Forum Christentum Islam
der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hier treffen
sich Fachleute aus beiden Religionen, um spezifisch theologische Fragen zu
erörtern. Die Beiträge und Ergebnisse werden publiziert.
Es ist freilich nicht zu leugnen, dass all diese Bemühungen nicht dieselbe
Aufmerksamkeit erlangen, wie sensationell aufgemachte und auf
Emotionalisierung angelegte Medienberichte. Doch hoffe ich, dass sie dennoch
auf Dauer wirksamer sind.
MM:
Was ist Ihre
Empfehlung an das zukünftige Zusammenleben von Christen und Muslimen in
diesem Land?
Zirker:
Zunächst müssen wir uns wohl alle immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass
die Wirklichkeit vielfältiger ist als die Klischees, die sich uns
aufdrängen, ja sogar als die Erfahrungen, die uns gerade bewegen. Je mehr
wir die Gelegenheiten, einander zu begegnen, nutzen, einander in den
jeweiligen Situationen und Lebensweisen wahrnehmen, aufeinander hören, vor
allem wo es um Sorgen geht, uns aber auch das Erfreuliche mitteilen, desto
eher werden wir für uns selbst und miteinander weiterkommen.
Bezeichnenderweise sind Menschen, die keine Musliminnen und Muslime kennen,
in ihren abwertenden und abwehrenden Urteilen über den Islam oft am
schroffsten.
Deshalb scheint es mir wichtig, dass wir dort, wo Christen und Muslime
nebeneinander leben, wo Moscheen und Kirchen in den Straßen einander nahe
sind, zu Nachbarschaften kommen. Dies erfordert nicht nur die grundsätzliche
Bereitschaft, sondern auch praktische Phantasie. Es gibt Beispiele dafür,
dass solche Nachbarschaften in gutem Geist gelingen; es gibt auch
Enttäuschungen. Zur Entmutigung sollte es jedoch keinen Grund geben.
MM:
Abschließende Frage:
Auch das Christentum hat ja seinen Ursprung im Orient. Können Sie sich
vorstellen, dass eines Tages der Islam in Deutschland und deutsche Muslime
genau so selbstverständlich sind, wie heute Christen und Christentum in
Deutschland?
Zirker:
Für nicht wenige Menschen ist es wie für mich jetzt schon
selbstverständlich, dass in Deutschland nicht nur Christinnen und Christen,
sondern auch Musliminnen und Muslime leben (aber auch noch viele, die weder
das eine noch das andere sein wollen). Dann muss es auch ebenso
selbstverständlich sein, dass es in unseren Städten Minaretts wie Kirchtürme
gibt, in unseren Schulen islamischen Religionsunterricht, wenn er gewollt
wird, in unseren Parlamenten muslimische Abgeordnete usw.
Eine andere Frage ist freilich, wie die Zukunft der Religionen überhaupt in
unserer Gesellschaft sein wird. Das lässt sich nicht langfristig vorhersagen
und hängt nicht allein von unseren Wünschen und Bestrebungen ab. Sicher bin
ich nur, dass keine Religionsgemeinschaft unverändert durch die Zeit geht.
Zum einen wirkt manches auf sie ein, das nicht in ihrer Verfügung steht; zum
anderen aber sind Religionen auch Lerngemeinschaften; sie verändern sich
angesichts der jeweiligen Erfordernisse ihrer Lebenswelt. Auf diese
Perspektive dürfen sich Christen und Muslime zuversichtlich einlassen.
MM:
Herr Prof.
Zirker, wir danken für das Interview.