MM: Sehr geehrte Frau Prof. Albertini, Ihr
Lebenslauf erscheint wie eine Wandern zwischen den Welten und Religionen.
Was bewegt eine jüdische Philosophin dazu evangelische Theologie zu
studieren und eine Habilitationsschrift im Zusammenhang mit islamischer
Philosophie einzureichen?
Prof. Albertini:
Ihre Frage würde alle jüdische Philosophen von Philon von Alexandria bis
Emmanuel Lévinas verwundern. Von der Antike hat sich das jüdische Denken mit
allen unterschiedlichen religiösen und philosophischen Strömungen der Zeit
beschäftigt: Die Neoplatoniker waren die Gesprächspartner der jüdischen
Intellektuellen in Alexandria; Platon, Aristoteles, Al-Gazzali, Al-Farabi
und Thomas von Aquin u.a. waren die Gesprächspartner der jüdischen
Philosophen im Mittelalter; in der Moderne hat sich die jüdische Philosophie
mit Hegel, Kant, Heidegger und Gadamer u.a. auseinandergesetzt. In diesem
Sinne halte ich mich für keine besondere Ausnahme: Ich gehöre einfach zur
jüdischen intellektuellen Tradition.
MM: Glauben Sie dass es einen Frieden von
Juden, Christen und Muslimen in Jerusalem geben kann?
Prof. Albertini:
Trotz der Enttäuschungen in unserer Geschichte glaube ich an den
menschlichen Willen, für eine bessere und gerechte Gesellschaft zu kämpfen.
Der Friede ist im Nahen-Osten möglich, wenn alle Beteiligten mit Toleranz,
Respekt und Vernunft für die Gegenseite bereit sind, sich an den selben
Tisch zu setzen. Ich bin davon überzeugt, dass kein Konflikt unlösbar ist.
Selbstverständlich wird der Weg lang und holperig sein, aber jede
Entwicklung bewährt sich an der Lösung großer Schwierigkeiten.
MM: Sie erscheinen in der so genannten "Self-Hating
and/or Israel-Thretening Liste" im Internet. Hassen Sie ihre eigene Religion
oder sind Sie gar eine Bedrohung für den Staat Israel in seiner heutigen
Form?
Prof. Albertini:
Im Januar 1948 wurde Mahatmah Gandhi von einem politischen Fanatiker
ermordet: War Gandhi vielleicht eine Bedrohung für Indien? Oder war der
Philosoph Giordano Bruno eine Gefahr für den vatikanischen Staat, als er am
17. Februar 1600 in Rom verbrannt wurde?
Ich weiß nicht, wer diese List im Internet
(www.masada2000.org) hergestellt hat; ich weiß nur, dass sie alle
israelischen Friedensaktivisten und sogar die Mehrheit der israelischen
Universitätsdozenten enthält.
Mein Leben ist nicht auf die emotionalen Kategorien
von Liebe und Hass ausgerichtet. Ich beschäftige mich mit Philosophie,
mithin einer Disziplin, die mich gelehrt hat, die Realität nur mit der
Sachlichkeit des kritischen Denkens zu betrachten. Eine Liebe, die sich von
jedeweder Kritik am geliebten Objekt freihält, ist m. E. gefährlicher als
der Hass. Ich bin eine gläubige Jüdin, und das ist mein Privatleben. Meine
Tätigkeiten als politischer Mensch sind davon zu unterscheiden.
MM: Dürfen wir Sie dennoch als gläubige
Jüdin fragen, ob Sie es verstehen können, wenn ein Muslim gleichzeitig
behauptet, dass er Israel hasst und dennoch das Judentum respektiert und
Antisemitismus verabscheut?
Prof. Albertini:
Es ist mir sehr schwierig, Hass zu verstehen. Meines Erachtens ist er keine
Denkkategorie. Jedoch verstehe ich alle Kritiken an der israelischen Politik
gegenüber den Palästinensern. Eine Sache ist Israel als politischer Staat,
eine andere ist Israel als Gelobtes Land. Alle vernünftigen Juden müssen mit
dieser Differenz zurecht kommen, und es handelt sich um keine einfache
Aufgabe. Während meines zweijährigen Aufenthalts in Israel (vom Sept. 2002
bis Sept. 2004) habe ich mich häufig geschämt, Jüdin zu sein, da ich die
israelische Politik verabscheute. Mein Scham war mit meiner Hoffnung auf
Israel eng verbunden.
MM: Verzeihen Wie wenn wir noch einmal
einhaken. Würden Sie sich als gläubige Jüdin verletz fühlen, wenn wir offen
zugeben, dem Zionismus ideologisch entgegen zu treten und gleichzeitig offen
bekennen, jeden in Not geratenen Juden vor Nazis oder anderen Rassisten
schützen würden, wenn es sein müsste! Ist solch ein Haltung der Muslime aus
Ihrer Sicht auch deutschen Juden erklärbar?
Prof. Albertini:
Wenn Sie unter Zionismus eine nationalistische Ideologie verstehen, die in
der Bibel lediglich eine Art von "Immobilienvertrag" sieht, kann ich Ihre
Position wohl begreifen. Inwieweit diese Position den deutschen Juden
erklärbar ist, hängt davon ab, wie tief diese nationalistische Ideologie
die, G-tt sei Dank, nur eine der unterschiedlichen Formen von Zionismus ist
im deutschen Judentum vertieft ist. Auch in Deutschland gibt es
konservative, orthodoxe und liberale jüdische Gemeinden, die sehr
differenzierte Positionen zum Zionismus auszeichnen.
MM: Als politischer Mensch in Deutschland,
bleiben Sie zwangläufig nicht unberührt von so mancher Diskussion bezüglich
Andersgläubiger und haben die Kopftuchdiskussion sicherlich nicht übersehen.
Haben Sie keine Sorge, dass eines Tages auch der praktizierenden Jüdin ihre
Perücke streitig gemacht wird?
Prof. Albertini:
Wenn man bereit ist, in einem Staat zu leben, muss man seine Regeln
akzeptieren. Dank der Aufklärung wird in Deutschland jede Form von
Religiosität respektiert, wenn sie die Laizität des Staates nicht in Frage
stellt oder angreift. Wenn ich z. B. unterrichte, verzichte ich auf jedwedes
religiöses Symbol, während ich zugleich versuche, meine Studentinnen und
Studenten mit unterschiedlichen religionsphilosophischen Konzeptionen
bekannt zu machen.
MM: Zurück zur Philosophie. Das
Allgemeinwissen über Philosophie ist geprägt durch das Vorurteil, dass durch schon
seit Jahrhunderten bzw. schon seit Jahrtausenden verstorbenen Menschen
geprägt wird. Warum kommt die Stimme des lebenden Philosophen nur so leise
herüber?
Prof. Albertini:
Heutzutage haben die Menschen nicht aufgehört, zu denken, jedoch wird die
Stimme der lebendigen Philosophen (z. B. Jürgen Habermas, Gianni Vattimo,
Cohen-Benedikt) von dem Galimathias der aktuellen Kommunikationsmitteln zum
Verstummen gebracht. Unsere Gesellschaft favorisiert nicht die Stille und
die Konzentration, die für die Vermittlung des kritischen Denkens notwendig
sind.
MM: Abschließende Frage: Können Sie unseren
Lesern einen kurzen prägnanten Einblick in jüdische Philosophie geben?
Prof. Albertini:
Ich kann die folgenden Werke u. a. empfehlen:
Karl Erich Grözinger, "Jüdisches Denken. Vom Gott
Abrahams zum Gott des Aristoteles", Bd. I, Darmstadt 2004
Norbert M. Samuelson, "Jewish Philosophy: an
Historical Introduction", London: Continuum 2003
Andreas B. Kilcher (Hrsg.), "Metzler-Lexikon
jüdischer Philosophen: philosophisches Denken des Judentums von der Antike
bis zur Gegenwart", Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003
Julius Guttmann, "Die Philosophie des Judentums",
mit einer Standortbestimmung von Esther Seidel, Berlin: Jüdische
Verl.-Anstalt, JVB 2000
Werner Stegmeier (Hrsg.), "Die philosophische
Aktualität der jüdischen Tradition", Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000
Raphael Jospe (Hrsg.), "Paradigms in Jewish
Philosophy", publ. in conjunction with the International Center for
University Teaching of Jewish Civilization, Madison (NJ) 1997
Emil L. Fackenheim/Michael L. Morgan, "Jewish
Philosophers and Jewish Philosophy", Bloomington (Ind.) 1996
Nathan Rotenstreich, "Essays in Jewish Philosophy
in the Modern Era", ed. by Reinier Munk, Amsterdam: Gieben 1996
MM: Frau Prof. Albertini, wir danken Ihnen
für das Interview.
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