MM: Sehr geehrter Herr Annen. Sie leiten die
"Initiative Nie Wieder! e.V.". Was hat Sie zu solch einem Engagement
geführt? Was war der Auslöser?
Annen: Ende der Achtziger Jahre kam eine
Zeit, in der ich mehr und mehr über den Sinn des Lebens nachdachte. Ich
lebte damals auch so wie die Mehrheit der Bevölkerung und war nur auf dem
Papier Christ. Damals wurde mir klar, dass man Gottes Gebote einzuhalten
hat. Und was sah ich: Auch Vorzeigechristen pervertierten die Gebote
Gottes oder versuchten, ihr Fehlverhalten zu rechtfertigen. Ich möchte hier
nur sehr schwerwiegende Bereiche nennen: Scham- und Zügellosigkeit, Sex
bereits vor der Ehe, Abtreibungsmord, Homosexualität, Euthanasie.
Nächstenliebe klingt in vielen Ohren wie ein Fremdwort. Damals kam ich mit
einer Lebensrechtsorganisation in Kontakt, in der ich 15 Jahre arbeitete.
Nachdem sich die Wege getrennt hatten, gründete ich den Verein Initiative
Nie Wieder! e.V.
MM: Worin bestehen die Schwerpunkte Ihrer
Arbeit in der "Initiative Nie Wieder! e.V." und wie wird das finanziert?
Annen: Den Schwerpunkt meiner Arbeit sehe
ich in der Öffentlichkeitsarbeit, d.h. das Durchführen von Infoständen und
sonstigen Aktionen. Ich möchte die heißen Themen in die Öffentlichkeit
bringen und die Leute für die Lebensrechtsarbeit gewinnen. Außerdem möchte
ich verstärkt den Kampf gegen die Pornographie und den Menschenhandel
aufnehmen. Was die Finanzierung meiner Initiative Nie Wieder angeht, bin
ich ausschließlich auf Spenden angewiesen.
MM: Im Frühjahr 2006 sind Sie vom
Bundesverfassungsgericht wegen Beleidigung verurteilt worden, weil sie
einen namentlich genannten Arzt, der Abtreibungen durchführt, mit dem Begriff
Babycaust in Verbindung gebracht haben. Warum haben Sie das getan,
angesichts der Tatsache, dass es Tausende solcher Ärzte gibt?
Annen: Zunächst müssen Sie wissen, dass
dieser Vorfall auf das Jahr 1997 zurückgeht. Wir führten damals Mahnwachen
vor Krankenhäusern und Arztpraxen durch, in denen ungeborene Kinder ermordet
wurden: Zwei namentlich genannte Ärzte, einer in Stuttgart und München und
der andere in Nürnberg haben reine Tötungspraxen. Wenn einer davon 1991
von 40.000 Embryonen (ungeborenen Kindern) sprach, die er bis dahin
abgetrieben hatte und der andere mit jährlich 3.000 - 4.000
abgetriebenen Embryonen prahlte, lag da nicht das Wort Embryo-caust oder Baby-caust
nahe, um auf dieses niederträchtige, massenhafte Verbrechen hinzuweisen?
Seitdem habe ich leider nur vor einigen wenigen Arztpraxen demonstrieren und
den Arzt namentlich nennen können, um auf das Verbrechen der Neuzeit
hinzuweisen. Ich würde mir wünschen, dass vor jedem Abtreibungsarzt
Mahnwachen für die ungeborenen Kinder stattfinden. Leider fehlen dazu die
Leute. Aber vielleicht darf ich noch erleben, dass die Menschen aufwachen
und eine Änderung im Sinne einer Kultur des Lebens stattfindet.
Übrigens: Es ist wichtig, Ross und Reiter zu
nennen, wie Kardinal Graf von Galen ("der Löwe von Münster")
es mal sagte. Nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches wollte keiner von den
Verbrechen gewusst und keiner dabei mitgemacht haben. Ich nenne die Namen
und Orte, wo der neue Holocaust stattfindet. Die Geschichtsschreiber
sollen es einmal einfacher haben.
MM: So grausam die Abtreibung ist, was
bezwecken Sie mit der Namensgebung, die einen Vergleich mit dem Holocaust
darstellt?
Annen: Unter dem Begriff "Holocaust" werden
die damaligen Verbrechen des Hitler-Regimes verstanden. Damals wurden
Millionen von Menschen ermordet: Alte, Kranke, Behinderte, Sintis, Romas,
Andersdenkende, Priester, kath. und evang. Christen und zum Großteil Juden.
Alle sind sich einig, dass das ein großes Verbrechen war. Denn jeder Mensch
hat ein Recht auf Leben. Der Holocaust ist Vergangenheit und Teil deutscher
Geschichte. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern, aber die
Gegenwart. Deshalb ist eine Vergangenheitsbewältigung wichtig, um daraus zu
lernen.
Aber was geschieht in Deutschland? Lt. offizieller
Statistik leisten wir uns im "demokratischen" Deutschland" die Ermordung von
ca. 150.000 ungeborenen Menschen (Dunkelziffer 3 mal so hoch), die auch ein
Recht auf Leben haben. Und kein Mensch hat das Recht, diesen ungeborenen
unschuldigen Menschen das Leben zu nehmen. Seit Ende des 2. Weltkrieges
haben wir alleine in Deutschland die Ermordung von mindestens 9 Millionen
ungeborener Menschen zu verantworten. Weltweit werden jährlich ca. 60-80
Millionen ungeborene Menschen ermordet. Angesichts solcher Zahlen kann man
sich schon die Frage stellen: Was war da der Holocaust?
Der "Babycaust" ist viel schlimmer und
heimtückischer, weil es diesmal die wehrlosesten und unschuldigsten Menschen
trifft, die ungeborenen Kinder! Wir sprechen von einem christlichen
Deutschland, einer christlichen Regierung oder von christlichen Staaten, die
heute noch viel schlimmer als Hitler sind! Wir haben aus unserer Geschichte
nichts gelernt. Die Ermordung der ungeborenen Menschen ist die größte
Beleidigung Gottes. Gott allein ist Herr über Leben und Tod ist. Die Länder, die
dieses Verbrechen des "Babycaust" verantworten, werden sich der gerechten
Strafe Gottes nicht entziehen können.
MM: Deutschland stellt staatlicherseits aber
nicht den Anspruch "christlich" zu sein. Und das Bekenntnis zu Gott wird aus
dem Staatswesen verdrängt und ist wohl auch in der Gesellschaft rückläufig.
Wie wollen Sie die mehrheitliche Gesellschaft erreichen, die eine
individuelle Freiheit höher wertet als das Leben des ungeborenen Lebens,
wenn Sie Ihre Argumentation hauptsächlich auf Gott und nicht dem Grundgesetz
aufbauen?
Annen: Sie haben recht! Dass Deutschland ein
christliche Land war und Politik und Gesellschaft sich an den Geboten Gottes
ausrichteten, gehört längst der Vergangenheit an. Daran ändert auch nichts,
dass wir eine christliche Partei an der Regierungsspitze haben. Ich habe
die Erfahrung gemacht, dass Politiker, nachdem sie in entsprechende
Positionen in der Politik aufgestiegen waren, viele ihrer wichtigen
Grundsätze aufgegeben haben. Man wollte das beruflich Erreichte nicht
verlieren, aber hat damit die Sache Gottes verraten. Wenn es keine
politischen Größen gibt, die ein Vorbild für unsere Jugend sind, dann geht
es in der Gesellschaft bergab und eine Veränderung zu erreichen ist fast
aussichtslos!
Es wird behauptet, alles Gute kommt aus
Amerika. Die Befürworter der Abtreibung in Amerika wussten mit Sicherheit,
warum sie auf ihre Fahnen Pro Choice (= Selbstentscheidung), schrieben. Das
heißt, die individuelle Entscheidung des Einzelnen, auch über das Leben
eines anderen (z.B. eines ungeborenen Kindes), wurde gefordert und
schließlich durchgesetzt. Und das Schlagwort Selbstentscheidung finden Sie
in vielen Bereichen unseres Lebens. Ein Chaos steht vor der Tür, wenn die
Selbstentscheidung (über was auch immer) zum Maßstab aller Dinge
geworden ist.
Die meisten Staaten halten sich in ihrer
Ausrichtung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens teilweise noch an das von
Gott gegebene Naturgesetz. Die Gebote Gottes waren den meisten Staaten
dieser Erde Vorgabe für ihre Verfassung bzw. Gesetzgebung. Dies muss man den
Menschen wieder ins Bewusstsein bringen. Ein Gesetz, das sich nicht an
den Geboten Gottes orientiert, kann niemals die Würde des Rechts erreichen,
weil es keine Gerechtigkeit bewirkt.
MM: Erlauben Sie uns noch eine Nachfrage
dazu. Der Holocaust war die systematische Vernichtung von Menschen von oben
angeordnet. Die Ausführenden waren - wenn auch mitverantwortliche -
Vollstrecker. Bei der Abtreibung gibt es ja keinen Befehl von oben sondern
es ist jeweils eine Individuelle Entscheidung der einzelnen Mutter, selbst
wenn es Millionenfach erfolgt. Und die ausführenden Ärzte sind ja nicht die
Befehlsgeber sondern "lediglich" diejenigen, die sich damit etwas dazu
verdienen, so mörderisch deren Tat aus einer gottesehrfürchtigen Sicht aus
ist. Wäre es im Sinn des Kampfes zum Schutz des Lebens nicht besser, man
würde diesen Massenmord am ungeborenen Leben nicht vermengen mit dem
Holocaust, weil hier auch missverständliche Verbindungen hergestellt werden
können?
Annen: Das ungeborene Kind möchte nur eins:
leben! Das ungeborene Kind möchte die gleichen Chancen und Rechte zum Leben
haben, wie Milliarden Menschen vor ihm. Den Todeskampf, die Angst - und
Todesschreie wird niemand, auch nicht die eigene Mutter hören.
Die Hintergründe seines eigenen Todes wird das Kind
nie erfahren. Es zählt nicht das Warum (Warum wurde es getötet?) oder das
Wie (Mit welcher Methode?) sondern alleine die Tatsache, dass es getötet
wurde.
Ermordet werden die ungeborenen Kinder in
Deutschland:
- Nach Vorgabe des Gesetzes: rechtswidrig, aber
straffrei!
- Der Staat sorgt für ausreichende Bereitstellung der
Tötungsstätten!
- Der Staat bezahlt über 90 % der Tötungen!
- Die Tötungen sind vorerst noch auf die Gruppe
der ungeborenen Kinder beschränkt.
Wenn ich den Leuten die Verbrechen vom Holocaust
vor Augen führe und auf die Verbrechen unserer Tage hinweise, werden sie es
einfacher verstehen können. Damals: ein Verbrechen. Heute: auch ein
Verbrechen.
Aber:
Damals kann ich nichts mehr ändern.
Heute kann ich noch etwas verändern.
Und das müssen die Menschen begreifen!
MM: Aus Ihren Publikationen ist zu erkennen,
das Ihr Engagement aus einer Gottesehrfurcht mit christlichem Hintergrund
geprägt ist. In wie weit wird Ihre Initiative von den Kirchen unterstützt?
Annen: Leider muss ich sagen, dass die
Kirchen die Lebensrechtsgruppen in Deutschland wenig oder gar nicht
unterstützen. Die Kirchen scheuen die harte Auseinandersetzung, obwohl es um
ein zentrales Anliegen geht. Sobald es um klare Bekenntnisse in der
Öffentlichkeit geht, ist der Rückzug bereits vorprogrammiert. Aber gerade
von den Bischöfen und Priestern, also den offiziellen Vertretern beider
großen christlichen Bekenntnisse müsste man klare Worte hören. Man will
offensichtlich einen bequemen Schmusekurs in Sachen Glauben fahren und
dabei sind die Hardliner Störenfriede. Ich dachte immer, auch die Kirchen
hätten aus Auschwitz etwas gelernt, aber scheinbar ist es nicht so. Es ist
sonst nicht erklärbar, dass kaum Widerstand gegen ein menschenverachtendes
und gottloses Gesetz geleistet wird. Und die Regelung des § 218 StGB ist
gottlos!
MM: Wenn wir als juristische Laien das
deutsche Gesetz diesbezüglich halbwegs verstanden haben, dann ist Abtreibung
in Deutschland zwar rechtswidrig aber erlaubt. Können sie uns das so
erklären, dass ein Nichtjurist das verstehen kann?
Annen: Unter den deutschen Juristen gibt es
seltsame Rechtsauffassungen: Die Volksvertreter beschließen im Bundestag das
Gesetz Fristenlösung = Abtreibung innerhalb einer Frist von 12 Wochen ist
erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht prüfte das Gesetz über die
Fristenlösung auf seine Verfassungsmäßigkeit und verkündete: Die
Abtreibung ist rechtswidrig. Ein rechtswidriges Gesetz aber ist nichtig
und darf daher in einem Rechtsstaat nicht angewendet werden. Im Grundgesetz,
Art 1. heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Bundesverfassungsgericht verkündet: Jede
Abtreibung ist rechtswidrig"
.Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat
schließlich auch, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im
allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben. Deshalb müssen Organe
des Staates in Bund und Ländern erkennbar für den Schutz eintreten
Diese starken Worte haben leider in der Bundesrepublik kaum Realität.
Und schauen Sie sich den § 218 StGB an: Hier wird
Straffreiheit nach der Ermordung eines ungeborenen Menschen per Gesetz
zugesichert. Ein solches Gesetz hatten wir nicht einmal im 3. Reich!
MM: Nun kann es ja sicherlich auch Ihrer
Auffassung nach Fälle geben, in denen es für eine Mutter extrem schwer ist,
das eigene Kind zu bekommen, sei es, weil ihr eigenes Leben gefährdet ist,
oder als Folge einer Vergewaltigung. Was schlagen Sie in solchen Fällen vor?
Annen: Allgemein kann man sagen, dass in der
Bundesrepublik großzügig vom Staat, teilweise auch kirchlichen
Organisationen Hilfe angeboten wird. Solche Unterstützung finden Sie in
keinem anderen Land der Welt und trotzdem ist Deutschland Weltmeister im
Abtreiben. Wenn eine Gefährdung der Gesundheit oder des Lebens bei der Frau
vorliegt - das ist übrigens nach Angaben von Ärzten heutzutage sehr selten
der Fall - , dann hat der Arzt zwei Patienten, für deren beider Leben er
verantwortlich ist. Er muss dann alles versuchen, um das Leben von beiden zu
retten. Der Arzt darf nie direkt den Tod des ungeborenen Kindes
herbeiführen. Das heißt: Um das Leben der Mutter z.B. bei Gebärmutterkrebs
zu retten, muss er die Gebärmutter entfernen. In der Gebärmutter befindet
sich das ungeborene Kind. Dieses wird sterben. Die Absicht des Arztes war
nicht, das Kind zu töten, sondern er musste, um wenigstens das Leben der
Mutter zu retten, die Gebärmutter entfernen. Das ist ethisch erlaubt und mit
Gottes Geboten vereinbar.
Bei der Vergewaltigung sollte man fragen: Was kann
das Kind dafür, dass der Vater ein Verbrecher ist? Warum das Kind bestrafen
und töten? Nein, das wäre ebenso eine schwere Sünde wie die Vergewaltigung! Das Kind hat bereits
eine Würde und ein Recht auf Leben. Wenn Gott zulässt, dass eine Frau ein Kind
empfängt, dann hat er auch einen Plan, für das Kind und für die Frau. Wir
müssen Gott vertrauen und natürlich der Mutter Hilfe und Unterstützung
geben. Sollte die Mutter tatsächlich mit der sicher schwierigen Situation
nicht zurechtkommen, so kann sie das Kind zur Adoption freigeben. Gläubige
und gottesfürchtige Menschen aber wissen: Wem Gott eine Prüfung und Last
auferlegt, den lässt er nicht alleine. Unser Vater im Himmel ist allmächtig
und wird helfen!
MM: Können Sie sich vorstellen im Rahmen des
Schutzes des Lebens mit Muslimen im konstruktiven Dialog zu kooperieren?
Annen: Ich habe bei meinen Info-Ständen
schon immer gute Gespräche mit Muslimen geführt. Auch konnte ich
feststellen, dass wir in vielen Punkten übereinstimmten, was Mode,
Sexualität, Familie und Abtreibung anbelangt. Natürlich gibt es auch unter
den Muslimen Gläubige, Liberale und Ungläubige aber das ist auch bei
Christen zu berücksichtigen.
Mit anderen Worten: Eine Zusammenarbeit mit
gläubigen Muslimen kann ich mir gut vorstellen und da habe ich auch keine
Berührungsängste.
MM: Herr Annen, wir danken für das
Interview.
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