MM: Sehr geehrter Herr Nehberg, es ist
sicherlich als ungewöhnlich zu bezeichnen, dass sich ein deutscher
Abenteurer gegen die Genitalverstümmelung von Frauen in Nordafrika einsetzt.
Wie kam es zu diesem Engagement?
Nehberg: Ich habe das Buch "Wüstenblume"
gelesen und war zutiefst von der menschenverachtenden Praxis geschockt. Als
ich las, dass der Brauch unrichtig mit dem Koran begründet wurde (von
Christen ebenso unrichtig mit der Bibel), kam mir spontan die Idee,
gemeinsam mit dem Islam klarzustellen: Der Islam lässt sich ein solches
kapitales Verbrechen nicht in die Schuhe schieben. Für mich war es
gleichzeitig die Chance, eine altes Dankesschuld beim Islam zu begleichen.
Vor langer Zeit haben mir zweimal muslimische Gastgeber bei Überfällen mit
ihren Körpern als lebende Schilde das Leben gerettet.
MM: Schon früh haben Sie erkannt, dass das
Thema in Kooperation mit Muslimen am besten lösbar ist, so dass Sie die
Pro-Islamische Allianz gegen Weibliche Genitalverstümmelung (PIA) gründeten.
Wir waren die Reaktionen von muslimischer Seite darauf?
Nehberg: Wie ich erhofft hatte:
ausschließlich positiv. Wir haben nur Partner, Brüder und Freunde gefunden.
Keinen einzigen Gegner. Das macht mich besonders stolz und glücklich. Das
ist der Islam, wie ich ihn schon als junger Mensch kennen gelernt habe, und
wie ich ihn wider den "westlichen" Zeitgeist der Welt präsentieren möchte. MM:
Gab es auch muslimische Geistliche, die sich gegen Ihren Einsatz gewehrt
haben? Nehberg: Nie. Stattdessen haben
sie mich beraten und die Aktionen mit uns gemeinsam durchgeführt. Zum
Beispiel die Wüstenkonferenzen, auf denen der Brauch schließlich zur Sünde
erklärt wurde. Oder mit der beispiellosen "Karawane der Hoffnung" durch
Mauretanien. Sie sollte auf Fahnen die neue Botschaft des Großmufti zu den
Nomaden tragen. MM:
Wie muss man sich die praktische Arbeit vor Ort vorstellen, konnten Sie
schon Genitalverstümmelungen verhindern?
Nehberg: Ja, in den Ländern Äthiopien und Djibuti beim Volk der Afar.
Und in Mauretanien. Natürlich setzt sich die neue Erkenntnis - trotz
Stammes- oder Religionsbeschluss - nicht sofort bei allen durch. Hier sind
Nachhaltigkeit gefordert und klare Worte der obersten Religionsführer, wie
sie jetzt in Kairo gesprochen wurden. Da waren die höchtgeachteten Männer
des Islam zusammen gekommen! Koryphäen wie der Großmufti Ägyptens, Prof. Ali
Goma'a, unser Schirmherr; da war der Großscheich der Azhar, Prof. Tantawi;
da war der ägyptische Religionsminister Prof. Zakzouk, und da war "das
lebende Islam-Lexikon", Scheich Yusuf Qaradawi, um nur einige zu nennen.
Dass diese und andere Autoritäten uns Fremden (Annette und mir) vertrauen,
liegt vielleicht daran, dass wir mit hohem Respekt, in Demut und als
'Freunde aus Überzeugung' kommen. Ich persönlich glaube, wie jeder Moslem,
an nur einen einzigen und einzigartigen gigantischen Schöpfer des Weltalls
und glaube, dass Mohammed und Jesus Propheten waren, aber Menschen und keine
Gottessöhne. Gottes Söhne und Töchter sind wir alle.
Das Vertrauen unserer muslimischen Partner, das wir
erleben, sehen wir als die größte Gnade, die wir je erfahren haben. Wir
empfinden dieses Geschenk des Vertrauens aber auch als eine Verpflichtung
und werden es in die größte Sympathie-Kundgebung verwandeln, die es für den
Islam je gegeben hat! Der Beschluss von Kairo ist dafür die Voraussetzung
gewesen. Er ist von historischer Dimension und ohne Beispiel in der gesamten
Weltreligionsgeschichte.
Wir möchten den Beschluss jetzt mehrere Millionen
mal in Form eines kleinen Büchleins und auf DVD herausgeben. In Arabisch,
Französisch und in Comic für die Analphabeten. Diese Exemplare werden wir an
alle Moscheen der Sahara verteilen. Ein Gesandter der Azhar wird uns
begleiten, wenn wir die Bücher, inscha'Allah, im nächsten Jahr in den
Hauptstädten bei den jeweiligen Religionsführern zur Verteilung abgeben.
Wenn das gelingt, und mit Allahs Hilfe wird es
gelingen, könnte der schlimmste "Krieg" beendet werden, den es je gegeben
hat: der 5000-jährige Krieg gegen die eigenen Frauen! Der Krieg, den in
vor-islamischer Zeit irgendwelche Geisteskranken begonnen haben. Der
schlimmste Krieg aller Zeiten, ein "Krieg", der täglich 8000 Opfer fordert,
zumeist muslimische Opfer, von denen viele sterben und die übrigen ihres
Gefühlszentrums, ihrer Ehre, Würde und Seele beraubt wurden und werden. Wenn
uns das gelingt, hat unser Schirmherr Prof. Dr. Ali Goma'a den größten
Friedensnobelpreis verdient, der je vergeben wurde. Dieser Mann und die
anderen Delegierten, die uns vertraut und den Beschluss mitgetragen haben,
sind für mich Männer, vor denen ich mich tief und in Dankbarkeit verneige.
MM: Ihr Lebenslaus
wirkt etwas "rastlos". Findet man denn nicht mit über 70 Jahren eine gewisse
"Beruhigung"? Nehberg: Ja,
wenn das letzte Buch verteilt ist und wenn ich mit allen Muslimen diesen
epochalen Moment feiern darf. Ich fürchte jedoch, dass ich diesen Moment vor
lauter Freude nicht überleben werde. Dann muss Muslim-Markt weiterkämpfen.
Danke im voraus! MM: Vielen Dank für
das Vertrauen, aber solch eine Verantwortung ist extrem groß. Aber Sie haben
ja eine Kampfgefährtin namens Annette Weber, welche Aufgaben übernimmt sie?
Nehberg: Sie ist mehr als 50% der "Firma"
TARGET. Sie arbeitet 35 Stunden pro Tag. Sie hat den Zugang zu den
muslimischen Frauen, ich zu den Männern. Ohne Annette wären wir noch nicht
dort, wo wir nun sind.
MM: Sie sprachen von einer Lebensrettung durch
Muslime. In Ihrer Biographie ist zudem ein Gefängnisaufenthalt in jungen
Jahren in der muslimischen Welt verzeichnet. Beides wird die Neugier unserer
Leser wecken. Wie kam es zu diesen beiden Ereignissen?
Nehberg: 1960 habe ich in Akaba (Jordanien)
unbefugt ein Boot benutzt. Damit wollte ich nach Bir Taba (Sinai) rudern.
Damals war die Grenze am Roten Meer geschlossen, und ich wollte unbedingt
ums Mittelmeer trampen, wandern, rudern. Auf jeden Fall wollte ich am Roten
Meer nicht umkehren. Ich hatte aber einen Mann mit, der das Boot
zurückgebracht hätte. Deshalb erhielt ich statt einem Jahr Gefängnis für
Diebstahl nur zwei Monate (Buch: "Im Mit dem Baumstamm über den Atlantik").
Die genannten Überfälle geschahen 1977 während meiner
4-monatigen Durchquerung der Danakilwüste (Äthiopien) . Dort herrschte
Bürgerkrieg. Wir waren zu Fuß und unbewaffnet unterwegs.
MM: Wollen Sie nicht einmal ein Buch über Ihre
so positiven Erfahrungen mit Muslimen und die Erfolge im Kampf gegen die
Genitalverstümmelung bei Frauen schreiben, ein 71-Jähriger muss doch auch
einmal sitzen bleiben können?
Nehberg: Das Buch ist letzte Woche erschienen.
Es heißt "Karawane der Hoffnung - Mit dem Islam gegen das Schreien und
Schweigen" . In der zweiten Auflage erscheint das Ergebnis der
Azhar-Konferenz.
Übrigens traf ich die ersten Muslime und deren
überwältigende Gastfreundschaft als junger Mann in der Türkei. Da stritten
sich Autofahrer, wer mich als Tramper befördern, wer den Tee bezahlen
dürfte, und Kinder schenkten mir ihr Eis, obwohl sie es gern selbst gegessen
hätten. Eine vergleichbare Ethik ist mir in keiner anderen Kultur begegnet.
Tesekür ederim! (Anm.: Dankeschön auf Türkisch)
MM: Herr Nehberg, wir danken für das Interview
und wünschen weiterhin viel Erfolg für TARGET. |