MM: Sehr geehrter Herr Prof. Poirier. Wie
kommt ein Franzose dazu ausgerechnet deutsche Philosophie in Tunesien zu
lehren?
Prof. Poirier: Als ich mich entschloss, in
Tunesien die deutsche Philosophie zu unterrichten, erschien die Situation
des Abendlands mir seit bereits einigen Jahren derart: Es gab chronologisch
zuerst einen geistlichen bzw. spirituellen Zusammenbruch, dann einen
moralischen Zusammenbruch - Ende der Solidaritäten, zwischen jungen Leuten
und Erwachsenen, alten Leuten und Jüngeren, zwischen Armen und Reichen,
Gesunden und Kranken - und letztendlich auch einen intellektuellen
Zusammenbruch. Und Mitte der neunziger Jahre ist mir der Gedanke gekommen,
dass es viel interessanter sein würde, in armen Ländern zu unterrichten, wo
die Studenten noch nicht gesättigt sind, noch einen großen Appetit auf
Wissen und Lektüre haben, mehr als bei uns "den Westlichen", wo alles als
Spiel degradiert wird. Hier gibt es unheimlich viele Bücher - obwohl es
immer weniger gute Bücher gibt - die weder gekauft noch gelesen werden, dort
eine große Leselust, aber viel zu teure Bücher und keine anständige
Bibliotheken. Ich war mit meiner kleinen Arbeitsbibliothek gekommen, und die
Studenten haben meine Bücher fotokopiert, obwohl ich ganz genau wusste, dass
es dem Verlagswesen schadet. "Le photocopillage tue le livre" sagte zurecht
ein französischer Verleger. Das ist ein Wortspiel über "photocopiage"
(Fotokopieren) und "pillage" (Plünderung).
Warum deutsche Philosophie? Philosophie scheint mir
immer das beste Fach, um sich zu bemühen zu denken vergleichbar dem
Idschtihad im Islam. Philosophie steht für mich überhaupt nicht im Konflikt
zur Religion. Und die deutsche Philosophie ist die europäische Philosophie,
die am meisten das Thema Modernität bearbeitet hat, und auch die Gefahren
der Modernität erblickt hat. Und es ist nicht ein Zufall, dass es
hauptsächlich Philosophen jüdischer Abstammung waren, wie Georg Simmel,
Georg Lukacs, Ernst Bloch, Walter Benjamin, um einige Namen zu zitieren, die
meine Lieblingsphilosophen sind, und die ich immer wieder übersetzt habe und
versucht habe, durch Vorträge und Artikel in Frankreich bekannt werden zu
lassen. Sie alle haben sehr gut verstanden, dass die Modernität sich
gegenüber dem Geistes- und Kulturleben feindlich verhält, und dass die
größte Gefahr darin besteht, dass der Geist erniedrigt und Kultur zur Ware
herabgewürdigt wird, weil dann die Barbarei an ihre Stelle tritt.
Was ich auch sehr schnell in Tunesien verstanden
habe, ist, dass ich mich nicht nur in einer ehemaligen Kolonie Frankreichs
befand, sondern auch in einer aktuellen Kolonie, in der Frankreich nicht
mehr als die einzige Kolonialmacht seine Herrschaft ausübt, sondern im Fall
Tunesiens seinen Einfluss mit den USA, Israel und der italienischen Mafia
teilen muss. Die lokale Macht besteht aus "Wachhunden", wie manche sie
nennen, die für ihre Bevollmächtigten arbeiten. Da es Konkurrenz zwischen
den verschiedenen Bevollmächtigen gibt, wurde Frankreich damals, als ich da
war, unter Druck gesetzt wegen der Veröffentlichung eines Buches von zwei
Journalisten namens N. Beau et J.-P. Tuquoi : "Notre ami Ben Ali". Dieser
Zusammenhang erklärt zum großen Teil, dass ich sehr schnell aus Tunesien
ohne die geringste Erklärung ausgewiesen wurde. Die Behörden haben sogar
behauptet, ich hätte das Land freiwillig verlassen.
MM: Nun hat ihr Engagement in Tunesien für
Menschenrechte dazu geführt, dass Sie ausgewiesen wurden. Das Ereignis hat
aber nicht Ihre Abneigung gegenüber dem Islam bestärkt sondern im Gegenteil
ihr Interesse und ihre Sympathie. Wie ist das zu verstehen?
Prof. Poirier: Das herrschende System
in Tunesien zeigt, obwohl es in der Verfassung steht, dass der Islam die
Religion des Landes sei, größte Abneigung gegen den Islam. Seit 1992 sitzen
viele Leute, die Mitglied der islamischen Partei "Nahda" waren, im
Gefängnisse unter unmenschlichen Bedingungen. Die Moscheen sind außer der Zeit
der Gebete geschlossen, damit die Moslem sich nicht treffen können. Wenn der
tunesische Staat einen Gott hat, dann ist es das Geld, und wenn sie ein
Ritual haben, dann die Vetternwirtschaft. Die Politiker sind Heuchler, sie
tun so als ob sie Moslem wären, aber in der Wirklichkeit haben sie mit dem
Islam nichts zu tun. Sie fragen mich, wie trotz meiner Erfahrung in Tunesien
mein Interesse an Islam immer größer wurde, ich würde sagen, gerade deswegen
habe ich Islam als die einzige Macht erkannt, die so einem Volk die
Standhaftigkeit geben konnte, nach Gerechtigkeit zu verlangen.
MM: Wie kam es zu ihrer Reise nach Palästina
und was haben sie dort erlebt?
Prof. Poirier: Ende des Jahres 2000 hat man
mir vorgeschlagen eine Dienstreise mit dem berühmten Krebsarzt Léon
Schwartzenberg zu unternehmen, der mir als Mitglied einer Vereinigung für
die Unterstützung der politisch Verfolgten in Tunesien geholfen hatte, als
ich aus Tunesien ausgewiesen wurde. Professor Léon Schwartzenberg wurde
damals schon als schlechter Jude diffamiert wegen seiner Unterstützung für
das palästinensischen Volk. Eine israelische Sängerin und zugleich
Offizieren des Tzahal (israelische Armee) hatte sogar die Unverschämtheit
gehabt, ihn in einem konfessionellen Sender mit dem Konzentrationslagerarzt
Mengele, der Experimente mit Gefangenen ausübte, zu vergleichen, obwohl
seine beiden Brüder durch die Gestapo zu Tod gefoltert wurden, und obwohl er
selbst 1941, mit 17, sich dem französischen Widerstand anschloss.
Was wir da gesehen haben, war kaum zu glauben. In
einem Krankenhaus neben dem Flüchtlingslager Chan Yunis sahen wie gegen
Mittag, als die Schüler die Schule verließen, einen Krankenwagen nach dem
anderen, mit heulender Sirene, die die Kinder brachten, auf welche
israelische Soldaten geschossen hatten. Der beindruckvollste Moment dieser
Reise war, wie es Léon Schwartzenberg und ich erst nachträglich festgestellt
hatten, ein Besuch des Friedhofs von Ramallah, obwohl er nur eine
symbolische Bedeutung hatte, oder vielleicht gerade deswegen: Der Bereich
des Friedhofs, in dem die Intifadisten begraben sind, die dort Märtyrer
genannt werden, ist Zielscheibe der Schüsse von Siedlern, die von der Höhe
eines Hügel schießen - die Siedlungen lassen sich immer auf den Höhen
nieder, um Kontrolle über die Ebene zu haben. Jede Nacht schießen sie auf
die Gräber der Kämpfer oder allgemein der Opfern und sie hatten sogar
Märtyrergräber durch ihre Geschosse zerstört. Der Professor meinte, solche
Taten seien nicht ein Fall für die Politik sondern für die Psychiatrie.
MM: In Deutschland wird nahezu jeder, der
sich gegen Israel wendet, als "Antisemit" stigmatisiert und diskriminiert,
ist die Lage in Frankreich ähnlich?
Prof. Poirier: Wenn Juden die gegen die
Nazis gekämpft haben oder ein weltbekannter Soziologe jüdischer Abstammung wie Edgar Morin, der
auch der "Résistance" während des Krieges angehörte, als Antisemiten oder
kranke sich selbst hassende Juden diffamiert werden, oder sogar von einem
"französischem" Gericht verurteilt werden, weil sie Kritik gegen den Staat
Israel erhoben haben, wie es jüngst der Fall war für Edgar Morin, dann
können Sie sich leicht vorstellen, wie es den Nichtjuden ergeht. Léon
Schwartzenberg, der nicht selten einen militärischen Ton auflegte, den er
von seiner Erfahrung im französischen Widerstand geerbt hatte, sagte
üblicherweise, wenn man ihn mit solche Angriffen konfrontierte, das berühmte Zitat aus dem Goetz von Berlichingen. Er hatte mir geraten, falls es mir
auch passierte, dasselbe zu tun. Ich habe dann immer seinem Ratschlag
befolgt.
MM: Wie sieht ihr heutiges Engagement gegen
die Unterdrückung der Palästinenser aus?
Prof. Poirier:
Um Ihre Frage richtig zu beantworten, soll man sich
an den zweiten Krieg gegen den Irak erinnern. Dieser Krieg wurde von unserem
Staatspräsidenten nicht unterstützt und der Krieg war in Frankreich sehr
unpopulär. Eine Antikriegsbewegung fing an, sich zu organisieren, und sie
fand einigen Zuspruch bei vielen Franzosen. Diese Bewegung wurde Opfer einer
heimtückischen und systematischen Sabotage. "Antizionistische"
Organisationen haben die Bewegung von Innen zerstört. Man sollte hier
erwähnen, dass der Sinn der Begriffe sich in der letzter Zeit verändert hat.
Der mutige Verleger Eric Hazan, der den Verlag "La Fabrique" leitet, hat von
Amira Hass "Boire la mer à Gaza", von Norman Finkelstein "L'Industrie de
l'holocauste", von Tanya Reinhart, "Détruire la Palestine ou comment
terminer la guerre de 1948" und "Lhéritage de Sharon - Détruire la
Palestine, suite" veröffentlicht. Der Verleger hat auch selbst als Autor ein
Buch geschrieben, das die genannte heutige Verdrehung der Sprache behandelt
: "LQR", Abkürzung von "Lingua Quintae Republicae", eine Hommage für das
Buch von Victor Klemperer, LTI, Lingua Tertii Imperii (von 1947), das
zeigte, wie die Nazis die deutsche Sprache verzerrt hatten. In Frankreich
kann man Zionist, und sogar fanatischer Zionist sein und
Saint-Germain-des-Prés nur verlassen, um sein Riad in Marrakesch zu
besuchen, und man kann auch Antizionist sein und die besten Beziehungen zum
Staat Israel haben und Pressekonferenzen in dem Salon des Hotels "Colony" in
Jerusalem geben. Infiltrierte Elemente haben eine Kampagne von
Denunziationen eingeleitet: Der da, ist er nicht zufällig Antisemit und
nicht nur Antizionist? In einem solchen Verdachtklima ist zum Beispiel "Europalestine"
zugrunde gegangen und die Liste, die sie in den letzten Wahlen für das
Europarlament aufgestellt hatte, ist wegen dieser tüchtigen Sabotage ohne
den Erfolg geblieben, den man hätte erwarten können. Die Demonstrationen
wurden mit "antisemitischen Zwischenfällen" befleckt. Die von manchen als
"zionistischen Milizen" bezeichneten, "Betar" und "Ligue de Défense Juive",
in meinen Augen eher gewalttätige, nicht verbotene Gruppen, haben dabei auch
eine provokatorische Rolle gespielt.
Ich glaube Deutschland hat diese Milizen nicht
nötig, der "Teutsche Michel" hat sogar seine eigene zionistische Miliz im
eigenen Kopf. Am 4. Juni 2006 wurde eine Demonstration zu einem Meeting
gegen Israel von der Polizei eingeschränkt und schließlich verboten. Da wie
nicht gehen wollten, wurden wir wie Rowdies gefilzt und zum Polizeirevier
geschleppt. Die antizionistischen Organisationen, die genehmigte
Demonstrationen organisieren, sind nicht mehr glaubwürdig und versammeln nur
wenige Leute, die antirassistischen Organisationen auch nicht. Ein
Innenminister kann nach den Novemberunruhen sagen, dass die Schwarzen noch
böser seien als die Araber, Proteste werden nur geflüstert. Wir, echte
Antizionisten, können nur weiter versuchen das Recht zu bewahren, auf der
Straße zu protestieren, den Boykott der Waren, der Universitäten von Israel
usw. zu organisieren. Dabei versuchen die Zionisten den Eindruck zu
erwecken, als ob ein solcher Boykott etwas ähnliches wäre, wie ein Boykott
der Juden in der Nazizeit. Die deutschen Juden hätten aber damals ihren
natürlichen Platz in Deutschland erhalten müssen, der ihnen verweigert
wurde. Die jüdischen Siedler aus der ganzen Welt aber haben überhaupt nicht
ihren Platz in Palästina. Und das wichtigste ist vielleicht zudem, die
gesamte zionistische Ideologie abzubauen, die Ursache des Konfliktes ist.
MM: Der Konflikt im Nahen Osten war lange
Zeit regional begrenzt. Seit dem 11. September 2001 besteht die Gefahr eines
weltweiten Flächenbrandes? Wie wird die französische Gesellschaft mit dem
künstlich forcierten "Clash of Cultures" fertig, schließlich haben Sie eine
wachsende Zahl von Muslimen im eigenen Land?
Prof. Poirier: Der Ausdruck "Clash of
Cultures" klingt bei uns besonders ironisch und hinterlässt bei uns einen
bitteren Geschmack im Mund, da wir überhaupt keine Kultur mehr haben,
weder im Sinn der Bildung - das Niveau des Fernsehens, des Radios, der
Künste, der Literatur, der Studien sind im solchen Umfang gesunken, dass man
sagen kann, es wird bei uns auf milde Art und Weise das gemacht, was man mit
schrecklichen gewaltigen Mitteln im Irak gemacht hat: Die große Bibliothek
von Bagdad und das Museum wurden zerbombt. Viele Schullehrer wurden
ermordet, jetzt werden viele Wissenschaftler und Universitätsprofessoren
systematisch verfolgt, manche behaupten, der Mossad
stecke dahinter.
Die Gefahr kommt nicht von der
Verschiedenheit der Kulturen sondern von der Beherrschung des sozialen
Lebens durch eine einzige Nicht-Kultur oder Antikultur. Ich glaube, dass nur
die Religion eine Wiederauferstehung der Kulturen veranlassen kann. Bei den
jungen Nordafrikanern, die in Frankreich leben, merkt man schon, wenn sie
aus einer frommen Familie stammen. Ein Freund von mir, jüdischer Abstammung,
sagte mir dass, obwohl er sich als Atheist bekennt, er zugeben muss, dass
unter den Kindern seiner Familie, die einzigen, die gut erzogen sind,
religiöse Eltern haben. Viele junge muslimische Freunde von mir erwidern der
berühmten Parole der Anarchisten "Weder Gott noch Herr": "Gerade
weil ich ein Gott habe, habe ich keinen anderen Herrn." Nur freie
Menschen können eine Kultur haben, und wirklich frei kann man nur sein, wenn
man Gott verinnerlicht hat.
MM: In Frankreich gibt es ein striktes
Kopftuchverbot für Schülerinnen. Gibt es überhaupt keinen Widerstand gegen
die Benachteiligung von Muslimas oder hören wir nur nicht davon?
Prof. Poirier: Die meisten Schülerinnen, die
das Kopftuchverbot nicht akzeptieren, schreiben sich in dem CNED ein (eine
Art Fernschule über das Internet). Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass
man mit einem Kopftuch weder in die Schule noch zu den meisten
Arbeitsstellen gehen kann. Die Tochter von einem Mitglied des "Conseil des
imâms de France", auch Mitbegründer des "Comité Cheikh Yassine", dessen
Mitglied ich bin, führt ihr Studium dieser Art durch. Und das Niveau des
Unterrichtes ist hoch, wie ich es festgestellt habe, so dass die Hoffnung
besteht, dass unsere islamischen Schülerinnen zu der zukünftigen Elite
Frankreichs gehören werden. Ich habe mit ihr manchmal über ihre Klausuren
gesprochen aber auch über die ganze Affäre des Kopftuches. Wir konnten nur
staunen und darüber lachen, dass Mädchen sich fast nackt zur Schule begeben
dürfen, auch mit grünem Haar durch Gel verunstaltet, mit diversen
Metallstücken in verschiedenen weichen Teilen des Körpers, ohne mit der
Wimper zu zucken, und dass plötzlich ein Kopftuch, ganz ähnlich dem
Kopftuch, das meine Mutter trug, als sie in die Kirche ging, zum Gegenstand
eines riesigen Skandals wird. Als ich Kind war, sagte eine sehr alte
Nachbarin meiner Großmutter ihrem Dienstmädchen : "Falls es klingelt,
wenn es "une femme en cheveu" ist (das heißt ohne Kopfbedeckung), dann
machen Sie die Tür nicht auf." Es war in der Nähe von Paris vor fünfzig
Jahren.
MM: Welche Zukunftsvision haben Sie für
Frankreich und Europa für das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen?
Prof. Poirier: Ich möchte Ihre Frage
geschichtlich beantworten, obwohl ich kein Historiker bin. In dem Fall bin
ich "doctus cum libro" (belehrt aber nur mit dem Buch in der Hand). Zwei
wichtige Bücher sind in Frankreich 2004 und 2006 erschienen. Eines von einem
Engländer, Jack Goody, Mitglied des St. John's College in Cambridge,
Honorarprofessor für soziale Anthropologie in der Universität von Cambridge,
"L'islam en Europe, histoire, échanges conflits" bei den "éditions la
découverte" (Islam in Europe, Polity, 2004), das zweite von einem
Amerikaner, William Bulliet, Professor in der Universität Columbia, "La
Civilisation islamo-chrétienne, son passé, son avenir" bei Flammarion (The
case for Islamo-Christian-Civilization", 2004 by Columbia University Press).
Es gibt, soweit ich es weiß, keine Übersetzung ins Deutsche, was wirklich
schade ist. Jack Goody behauptet energisch in seinem mit Schwung
geschriebenen Essay, dass man zuerst erkennen sollte, dass Moslem sich nicht
erst neulich in Europa niedergelassen haben, und dass sie schon immer da
waren, er meint seit dem Anfang des Islams. Die drei "großen Wege", die
Moslems gegangen sind, sind erstens derjenige Weg der Araber, der vom
Maghreb ausging und der durch Spanien lief und bis zur nördlicher Seite des
Mittelmeeres reichte. Die zweite Strasse brachte die Türken durch
Griechenland in den Balkan. Und die dritte Strasse hat die Regionen des
südlichen Russlands, in der die Mongolen wohnten, und Polen und Litauen
verbunden. Und jedes Mal hat der Islam die Kultur der entsprechenden Länder
tief geprägt. Das Buch von Richard B. Bulliet geht in die selbe Richtung,
die schon ein anderer Amerikaner gebahnt hatte: Marshall G. S. Hodgson in
seinem Buch (nach seinem frühen Tod zusammengestellt) "Rethinking World
History: Essays on Europe, Islam and World History (Studies in Comparative
World History)" (1977). Ich sehe im Internet, dass von diesem Haupt- und
Meisterwerk keine Übersetzung ins Deutsche angefertigt wurde, was ich
unheimlich schade in einem Lande finde, in dem es so viele vortreffliche
Orientalisten einstmals gab - im gutem Sinn des Wortes, ja das Wort hat auch
einen guten Sinn, ich bereite mit einem Freund ein kleines Essay darüber vor
- Islamologen, Sprachwissenschaftler, Archäologen. Heutzutage müssen sich
die armen deutschen Leser mit den traurigen Texten von so genannten
Orientalisten begnügen, die ich teilweise als Islamhetzer bezeichnen würde.
Die These von Hodgson und von Bulliet widerspricht ganz der klassische These
des belgischen Historikers Henri Pirenne, Verfasser des klassischen
Standartwerks "Mahomet et Charlemagne" (1935), dieses Buch ist übersetzt
worden, "Mahomet und Karl der Grosse" von Henri Pirenne (Paul Egon Hübinger
Fischer Bücherei 1963) und die interessieren Leser können es sogar günstig
erwerben, wie ich es im Internet gesehen hbe. Pirenne meinte, der Islam wäre
schuld an der Trennung zwischen Orient und Okzident. Im Gegenteil zeigen
sowohl Hodgson wie Bulliet, dass überall wo der Islam als Religion
angenommen wurde, die anderen Religionen beziehungsweise Kulturen intakt
blieben, was man bei dem Mosaik von Kulturen und Religionen im fernen Asien
exemplarisch bemerken kann, bis der westliche Imperialismus künstliche
Trennungen zwischen den "ethnischen" Gruppen schuf, um besser seine
Herrschaft aufzudrücken. Bulliet betont nachdrücklich, dass die Legende
eines militärischen Islam, der die Bevölkerungen "mit Schwert und Degen" zum
Islam bezwingt, wirklich nur eine Legende ist. Fast überall, wo ein
islamischer Chef versucht hat, Völker durch Gewalt zu bekehren, ist er
gescheitert. Dabei erwähnt er im Gegensatz die Rolle der friedlichen
Bruderschaften der Mystiker, die, weil sie ein vorbildliches, bescheidenes
und hochspirituelles Leben führten, sehr viele Leute dazu gebracht haben,
den Islam als Religion anzunehmen.
Es geht heute auch gar nicht anders: In den
Ländern, in denen die Regierungen sich weder um die Versorgung der
Bevölkerungen noch um das Schul- oder Gesundheitswesen kümmern, werden
diese Aufgaben von den moslemischen Organisationen übernommen. In diesen
Büchern erfährt man mehr als in tausend Jahren TV-Programmen. Man lernt,
dass das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen einst in der
Vergangenheit möglich war. Wenn es einmal möglich war, dann sollte es auch
in der Zukunft möglich sein.
MM: Prof. Poirier, wir danken für das
Interview.
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