MM: Sehr geehrter Herr Dr. Blüm, bevor wir
uns ihrem neuen Buch widmen, erlauben Sie uns einige Fragen zu früheren
Zeiten, da sie im Zusammenhang mit dem Buch stehen könnten. Bereits 1977
hatten Sie eine Konfrontation mit Pinochet in Chile und 1987 mit Botha in
Südafrika. In wie weit hat sie der Wunsch nach Gerechtigkeit sowohl in der
Innen- wie auch in de Außenpolitik des Landes all die Jahre begleitet?
Dr. Blüm: Friede ist auf Dauer nur
möglich, wenn die Menschenrechte anerkannt werden. Die Menschenrechte
sind unabhängig von Staats- und Religionszugehörigkeit. Sie stehen
jedem Menschen gleichermaßen zu. Der Mensch hat Anspruch auf
Unversehrtheit. Unterdrückung und Gewalt sind kein Mittel der
Friedenssicherung.
MM: Wir kamen Sie zu dem Spitznamen
„Herz-Jesu-Marxist“ und wer hat Ihnen diesen Spitznamen verpasst?
Dr. Blüm: Meines Wissens hat mir den
Spitznamen „Herz-Jesu-Marxist“ Franz-Josef Strauß verpasst. Er war wohl
satirisch gemeint. Mich hat er nicht getroffen, weil Jesus und Marx nicht
zusammenpassen. Für Jesus sind alle Menschen Ebenbild Gottes. Für Karl Marx
sind sie nach dem Bild der Gesellschaft erschaffen und Produkt ihrer Umwelt.
MM: Ihr neues Buch hat den heutzutage
geradezu provokativen Titel "Gerechtigkeit". Während die Begriffe "Freiheit
und Demokratie" in aller Munde sind, wird das Wort "Gerechtigkeit" seltener
in der Politik verwendet. Wie kann Gerechtigkeit als Basis für "Freiheit und
Demokratie" besser in der Gesellschaft aber auch in der Politik vermittelt
werden?
Dr. Blüm: Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
ist dem Menschen angeboren. Der Elementarsatz der Gerechtigkeit ist: „Jedem
das Seine“. Das Seine verlangt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich
behandelt wird. Deshalb steht die Gerechtigkeit immer in der Spannung
zwischen Gleichheit und Differenzierung. Gerechtigkeit ohne Freiheit ist
undenkbar, weil ohne Freiheit die Gerechtigkeit eine Form der Unterdrückung
wäre. Freiheit ohne Gerechtigkeit allerdings ist durchaus denkbar. Wenn die
Starken auf Kosten der Schwachen leben, ist das vergleichbar der Freiheit im
Tierreich, in dem der große Fisch den kleinen Fisch frisst. Die menschliche
Gesellschaft kommt mit der tierischen Freiheit nicht zurecht. Sie bedarf der
Zähmung der Freiheit durch die Gerechtigkeit.
MM: Erlauben Sie uns in diesem Zusammenhang
eine religiöse Frage: Ist Gerechtigkeit ohne einen Bezug zum Schöpfer in
einer Gesellschaft überhaupt möglich?
Dr. Blüm: Der Glaube, dass alle Menschen
Kinder Gottes sind, ist das stärkste Fundament der Menschenwürde, auf deren
Achtung die Gerechtigkeit basiert. Die Menschenwürde ist nicht vom Staat
verliehen, sondern von Gott gegeben. Deshalb kann auch kein Staat und keine
politische Macht dem Menschen seine Würde nehmen, denn die Würde des
Menschen ist nicht von einer Macht verliehen.
MM: Heute scheinen Sie eine sehr kritische
Einstellung zu dem zu haben, was ein deutscher Politiker
"Raubtierkapitalismus" genannt hat und stellen in Ihrem Buch den Menschen
und seine Sehnsucht nach Glück in den Vordergrund, wofür Wirtschaften nur
ein Mittel nicht aber ein Ziel sein kann. In wie weit sehen Sie es als
realistisch an, solche Gedanken politisch umzusetzen?
Dr. Blüm: Weder der Kommunismus noch der
Kapitalismus entsprechen der Natur des Menschen. Der Kommunismus hat die
individuellen Seiten des Menschen übersehen und sein Bedürfnis nach
personaler Verantwortung unterschätzt. Der Kapitalismus unterschätzt die
soziale Verflochtenheit des Menschen. Der Mensch wird nur "Ich" über ein
"Du" und ein "Wir". Als atomisierter Einzelner ist der Mensch nicht
überlebensfähig. Er ist wie kein anderes Lebewesen auf Sozialität
angewiesen.
MM: Stammzelle einer gottesehrfürchtigen
Gesellschaft ist die Familie. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der
zunehmenden Verarmung an familiärer Wärme gepaart mit der Abnahme an Kindern
in der Gesellschaft auch im Zusammenhang mit Gerechtigkeit?
Dr. Blüm: Wenn der Egoismus stärker wird,
leidet die Familie, denn die Familie ist keine Summe von Einzelinteressen,
sondern sie ist nur überlebensfähig, indem die Starken für die schwachen
Verantwortung übernehmen. Und da alle Menschen nie nur stark sind, sind alle
Menschen auf andere angewiesen. Die Schule dieser Solidarität ist die
Familie.
MM: Erlauben Sie uns ausgehend von Ihrem
Buch einen gemeinsamen Blick auf das heutige Deutschland. Ihr Name ist
unweigerlich mit dem Begriff "Rente" verbunden. Die zukünftigen
Renteneinzahler in Deutschland sind - und da braucht man nur die
Geburtskliniken zu besuchen - zunehmend mehr Muslime; Muslime mit einer
deutschen Staatsangehörigkeit. Wie beurteilen Sie als bekennender Katholik
die sehr weit reichenden gesellschaftlichen Probleme und Chancen in diesem
Zusammenhang?
Dr. Blüm: Der Rentenanspruch ist an
Beitragszahlung gebunden. Wer rechtmäßig Beitrag zahlt, hat auch rechtmäßig
Anspruch auf Rente. Das ist unabhängig von Staats- und
Religionszugehörigkeit.
Die Religionen können friedlich miteinander
co-existieren, wenn Toleranz zwischen ihnen herrscht. Toleranz verlangt
nicht Billigung der Religion des Anderen, aber ihre Duldung. Toleranz ist
ein mühsames Erziehungsprogramm, dem sich Christen wie Muslime unterziehen
müssen. Eine starke Hilfe für diese Erziehung ist die Trennung von Staat und
Religion.
MM: Könnten Sie sich einen zukünftigen Tag
in Deutschland vorstellen, in dem eine Lehrerin in Nonnentracht im Gymnasium
das Fach "Deutsch" unterrichtet und ihre Kopftuch tragende muslimische
Kollegin das Fach "Erdkunde", und beide im Rahmen des Grundgesetzes auch
gemeinsam und einander ergänzend den Wert "Gerechtigkeit" vermitteln?
Dr. Blüm: Im Rahmen des Grundgesetzes kann
ich mir alles vorstellen. Das Kopftuch wie die Ordenstracht dürfen
allerdings nicht das Symbol von religiösem Fanatismus sein.
MM: Abschließende Frage: Welche zukünftige
Projekte treiben Sie an?
Dr. Blüm: Hass und Gewalt zurückdrängen. Der
Toleranz einen Weg bahnen und dem friedlichen Zusammenwirken der Religionen
die Bahn brechen. In der Zukunft, für die ich kämpfe, gibt es weder Folter
noch Selbstmordattentäter.
MM: Sehr geehrter Herr Dr. Blüm. Wir danken
Ihnen für das Interview. |