Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. Norbert Blüm
 

Muslim-Markt interviewt 
Dr. Norbert Blüm, ehemaliger Bundesminister und Autor des Buches: "Gerechtigkeit - Eine Kritik des Homo oeconomicus"

23.2.2007

Dr. Norbert Blüm ist einer der bekanntesten deutschen Minister der Kohl-Ära und erfolgreicher Buchautor.

Dr. Blüm (Jahrgang 1935) ist groß geworden in einem katholischen Elternhaus, der Vater war KfZ-Schlosser, die Mutter Busfahrerin.

Er absolvierte nach der Volksschule zunächst eine Lehre als Werkzeugmacher bei der Adam Opel AG und trat bereits als 14-jähriger der IG-Metall bei. Als 20-jähriger folgte der Eintritt in die CDU. Schon bald zeigte sich sein soziales Engagement als Mitglied der Betriebsjugendvertretung der Adam Opel AG, deren Vorsitzender er später wurde. In einem Abendgymnasium holte er sein Abitur nach und finanzierte dabei sein Leben durch Tätigkeiten als Hilfsarbeiter im Baugewerbe und als Lastkraftwagenfahrer. Sein durch Stipendien finanziertes Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie (u.a. bei dem heutigen Papst Benedikt XVI.) und Soziologie krönte er 1967 mit der Promotion in Philosophie zum Thema „Willenslehre und Soziallehre bei Ferdinand Tönnies – ein Beitrag zum Verständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft“.

Es folgten Tätigkeiten als Redakteur (bei "Soziale Ordnung"), als Hauptgeschäftführer der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) bis hin zu seinem Aufstieg in den Bundesvorstand der CDU (1969–2000) deren stellvertretender Bundesvorsitzender er war (1981–2000). Nebenbei erhielt er einen Lehrauftrag der Katholischen Fachhochschule für Sozialarbeit Mainz.

Unter Bundeskanzler Helmut Kohl war er von 1982 bis zum Regierungswechsel 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und einziger Minister, der in der gesamten Regierungszeit Kohls dem Kabinett angehörte.

Darüber hinaus besuchte mehrmals den Irak und engagiert sich auch heute noch für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Es würde den Rahmen zur Einleitung in ein solchen Interviews sprengen, alle Ämter, Ehrungen (u.a. Menschenrechtspreis und Preis für "Besonderes Engagement für Frieden und Gerechtigkeit im Südsudan") und Veröffentlichungen (allein sieben Bücher nach der Zeit als Minister, Kinderbücher nicht mitgezählt) einer solchen Persönlichkeit der deutschen Geschichte aufzulisten. Daher beschränken wir uns auf den Hinweis, dass er in 2006 das Buch "Gerechtigkeit - Eine Kritik des Homo oeconomicus" veröffentlicht hat, was der Anlass zu diesem Interview ist.

Dr. Norbert Blüm lebt in Bonn, ist seit 43 Jahren verheiratet und hat drei Kinder.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Blüm, bevor wir uns ihrem neuen Buch widmen, erlauben Sie uns einige Fragen zu früheren Zeiten, da sie im Zusammenhang mit dem Buch stehen könnten. Bereits 1977 hatten Sie eine Konfrontation mit Pinochet in Chile und 1987 mit Botha in Südafrika. In wie weit hat sie der Wunsch nach Gerechtigkeit sowohl in der Innen- wie auch in de Außenpolitik des Landes all die Jahre begleitet?

Dr. Blüm: Friede ist auf Dauer nur möglich, wenn die Menschenrechte anerkannt werden. Die Menschenrechte sind unabhängig von Staats- und Religionszugehörigkeit. Sie stehen jedem Menschen gleichermaßen zu. Der Mensch hat Anspruch auf Unversehrtheit. Unterdrückung und Gewalt sind kein Mittel der Friedenssicherung.

MM: Wir kamen Sie zu dem Spitznamen „Herz-Jesu-Marxist“ und wer hat Ihnen diesen Spitznamen verpasst?

Dr. Blüm: Meines Wissens hat mir den Spitznamen „Herz-Jesu-Marxist“ Franz-Josef Strauß verpasst. Er war wohl satirisch gemeint. Mich hat er nicht getroffen, weil Jesus und Marx nicht zusammenpassen. Für Jesus sind alle Menschen Ebenbild Gottes. Für Karl Marx sind sie nach dem Bild der Gesellschaft erschaffen und Produkt ihrer Umwelt.

MM: Ihr neues Buch hat den heutzutage geradezu provokativen Titel "Gerechtigkeit". Während die Begriffe "Freiheit und Demokratie" in aller Munde sind, wird das Wort "Gerechtigkeit" seltener in der Politik verwendet. Wie kann Gerechtigkeit als Basis für "Freiheit und Demokratie" besser in der Gesellschaft aber auch in der Politik vermittelt werden?

Dr. Blüm: Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist dem Menschen angeboren. Der Elementarsatz der Gerechtigkeit ist: „Jedem das Seine“. Das Seine verlangt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Deshalb steht die Gerechtigkeit immer in der Spannung zwischen Gleichheit und Differenzierung. Gerechtigkeit ohne Freiheit ist undenkbar, weil ohne Freiheit die Gerechtigkeit eine Form der Unterdrückung wäre. Freiheit ohne Gerechtigkeit allerdings ist durchaus denkbar. Wenn die Starken auf Kosten der Schwachen leben, ist das vergleichbar der Freiheit im Tierreich, in dem der große Fisch den kleinen Fisch frisst. Die menschliche Gesellschaft kommt mit der tierischen Freiheit nicht zurecht. Sie bedarf der Zähmung der Freiheit durch die Gerechtigkeit.

MM: Erlauben Sie uns in diesem Zusammenhang eine religiöse Frage: Ist Gerechtigkeit ohne einen Bezug zum Schöpfer in einer Gesellschaft überhaupt möglich?

Dr. Blüm: Der Glaube, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, ist das stärkste Fundament der Menschenwürde, auf deren Achtung die Gerechtigkeit basiert. Die Menschenwürde ist nicht vom Staat verliehen, sondern von Gott gegeben. Deshalb kann auch kein Staat und keine politische Macht dem Menschen seine Würde nehmen, denn die Würde des Menschen ist nicht von einer Macht verliehen.

MM: Heute scheinen Sie eine sehr kritische Einstellung zu dem zu haben, was ein deutscher Politiker "Raubtierkapitalismus" genannt hat und stellen in Ihrem Buch den Menschen und seine Sehnsucht nach Glück in den Vordergrund, wofür Wirtschaften nur ein Mittel nicht aber ein Ziel sein kann. In wie weit sehen Sie es als realistisch an, solche Gedanken politisch umzusetzen?

Dr. Blüm: Weder der Kommunismus noch der Kapitalismus entsprechen der Natur des Menschen. Der Kommunismus hat die individuellen Seiten des Menschen übersehen und sein Bedürfnis nach personaler Verantwortung unterschätzt. Der Kapitalismus unterschätzt die soziale Verflochtenheit des Menschen. Der Mensch wird nur "Ich" über ein "Du" und ein "Wir". Als atomisierter Einzelner ist der Mensch nicht überlebensfähig. Er ist wie kein anderes Lebewesen auf Sozialität angewiesen.

MM: Stammzelle einer gottesehrfürchtigen Gesellschaft ist die Familie. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der zunehmenden Verarmung an familiärer Wärme gepaart mit der Abnahme an Kindern in der Gesellschaft auch im Zusammenhang mit Gerechtigkeit?

Dr. Blüm: Wenn der Egoismus stärker wird, leidet die Familie, denn die Familie ist keine Summe von Einzelinteressen, sondern sie ist nur überlebensfähig, indem die Starken für die schwachen Verantwortung übernehmen. Und da alle Menschen nie nur stark sind, sind alle Menschen auf andere angewiesen. Die Schule dieser Solidarität ist die Familie.

MM: Erlauben Sie uns ausgehend von Ihrem Buch einen gemeinsamen Blick auf das heutige Deutschland. Ihr Name ist unweigerlich mit dem Begriff "Rente" verbunden. Die zukünftigen Renteneinzahler in Deutschland sind - und da braucht man nur die Geburtskliniken zu besuchen - zunehmend mehr Muslime; Muslime mit einer deutschen Staatsangehörigkeit. Wie beurteilen Sie als bekennender Katholik die sehr weit reichenden gesellschaftlichen Probleme und Chancen in diesem Zusammenhang?

Dr. Blüm: Der Rentenanspruch ist an Beitragszahlung gebunden. Wer rechtmäßig Beitrag zahlt, hat auch rechtmäßig Anspruch auf Rente. Das ist unabhängig von Staats- und Religionszugehörigkeit.

Die Religionen können friedlich miteinander co-existieren, wenn Toleranz zwischen ihnen herrscht. Toleranz verlangt nicht Billigung der Religion des Anderen, aber ihre Duldung. Toleranz ist ein mühsames Erziehungsprogramm, dem sich Christen wie Muslime unterziehen müssen. Eine starke Hilfe für diese Erziehung ist die Trennung von Staat und Religion.

MM: Könnten Sie sich einen zukünftigen Tag in Deutschland vorstellen, in dem eine Lehrerin in Nonnentracht im Gymnasium das Fach "Deutsch" unterrichtet und ihre Kopftuch tragende muslimische Kollegin das Fach "Erdkunde", und beide im Rahmen des Grundgesetzes auch gemeinsam und einander ergänzend den Wert "Gerechtigkeit" vermitteln?

Dr. Blüm: Im Rahmen des Grundgesetzes kann ich mir alles vorstellen. Das Kopftuch wie die Ordenstracht dürfen allerdings nicht das Symbol von religiösem Fanatismus sein.

MM: Abschließende Frage: Welche zukünftige Projekte treiben Sie an?

Dr. Blüm: Hass und Gewalt zurückdrängen. Der Toleranz einen Weg bahnen und dem friedlichen Zusammenwirken der Religionen die Bahn brechen. In der Zukunft, für die ich kämpfe, gibt es weder Folter noch Selbstmordattentäter.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Blüm. Wir danken Ihnen für das Interview.

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