MM: Sehr geehrter Herr Prof. v. Weizsäcker.
Immer wieder ist von Ihnen zu hören, dass bei gerechterer Verteilung und
geeigneter wissenschaftlich-technischen Umsetzung die Erde weitaus mehr als
die heutige Bevölkerung versorgen könnte. Was antworten Sie dann den 30.000
täglich am Hungertod sterbenden, warum sie dennoch sterben müssen?
Prof. v. Weizsäcker: Die globalisierte
Marktwirtschaft hat zwar den Gesamtwohlstand vermehrt, aber zugleich die
Verhandlungsposition der Schwachen weiter geschwächt. Wir brauchen das
Korrektiv des Staates und der solidarischen Gemeinschaft, um auch
Gerechtigkeit durchsetzen zu können. Wir Deutschen haben nach dem Krieg, als
es uns schlecht ging, die Großzügigkeit des Marshall-Plans genossen. Es ist
an der Zeit, dass wir heutigen Reichen einen weltweiten Marshall-Plan
aufsetzen und finanzieren.
MM: Um einmal an einem konkreten Beispiel
einzuhaken. Was soll aus dieser Erde werden, wenn alle Chinesen und Inder
darauf bestehen, genau so viel Auto zu fahren, wie wir es in Deutschland tun
oder drauf bestehen, genau so viel Energie verbrauchen zu dürfen, wie der
durchschnittliche US-Amerikaner tut?
Prof. v. Weizsäcker: China ist aufgewacht
und hat dem Umweltschutz und der Erhöhung der Energieeffizienz höchste
Priorität eingeräumt. Vielleicht kann Deutschland China technisch helfen,
die ökologischen Ziele auch zu erreichen. Aber wir müssen mit gutem Beispiel
voran gehen und Autos bauen und nutzen, die nur noch halb so viel Sprit
brauchen.
MM: Ein weiteres sicherlich nicht zu
unterschätzendes Problemfeld stellt die Wasserversorgung der Weltbürger dar.
Gibt es hier nicht neben der allgemein zunehmenden weltweiten Verschmutzung
auch das Problemfeld, dass das Bewusstsein diesbezüglich selbst in einem so
reichen Land wie Deutschland abhängig vom wirtschaftlichen Wohlstand ist?
Prof. v. Weizsäcker: Deutsche
Abwassertechnik ist vorbildlich. Mit Abwasserreinigung lässt sich das Wasser
mehrfach nutzen, bevor es ins Meer fließt. Vielen Gemeinden in
Entwicklungsländern fehlt das Geld, um eine Wasserversorgung und
Abwasserreinigung in den Armenvierteln zu finanzieren. Privatkonzerne haben
nur noch begrenztes Interesse, den Ausbau zu finanzieren, weil es schwierig
ist, kostendeckende Tarife durchzusetzen. Deutschland kann helfen und tut
das auch, aber selbst unsere Mittel reichen hinten und vorne nicht aus.
MM: Sie sind nicht der einzige
Wissenschaftler - aber sicher einer der renommiertesten in Deutschland - der
sinngemäß behauptet, dass die Privatisierung Grenzen hat und eine
Wirtschaft, die auf Wachstum und mehr Konsum ausgerichtet ist, wie z.B. eine
privatisierte Energiewirtschaft, nicht alle Belange der angestrebten
Energieverbrauchsreduktion optimal erfüllen kann. Warum setzen sich solche
wissenschaftlich begründbaren Erkenntnisse kaum in der Politik durch?
Prof. v. Weizsäcker: Bei der Strom- und
Gasversorgung sind Privatkonzerne durchaus in Ordnung. Schöner wäre es noch,
wenn nicht so viele Kommunen ihre Stadtwerke oder Beteiligungen in den
1990er Jahren verkauft hätten. Dann hätten wir jetzt nicht so ein mächtiges
Oligopol, das die staatliche Regulierung nur schwer kontrollieren kann. Es
gibt andere Bereiche, wo die Privatisierung noch mehr Schaden angerichtet
hat. Etwa bei der britischen Bahn oder bei der deutschen
Gebäudeversicherung, wo die Privaten die Tarife gewaltig in die Höhe gejagt
haben. Auch die Privatisierung der Flugsicherung - etwa in der Schweiz
- war ein Fehler. Unser Buch „Grenzen der Privatisierung gibt gut 30
Beispiele, - auch einige positive.
MM: Als Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe
"Nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag" haben Sie sich für die
Vereinbarkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem eingesetzt. Glauben Sie,
dass diese drei Aspekte der Nachhaltigkeit mit der derzeitigen Auffassung
und Umsetzung von Kapitalismus realisierbar ist?
Prof. v. Weizsäcker: In der Marktwirtschaft
hat das Kapital die mit Abstand stärkste Verhandlungsposition. Soziale und
ökologische Belange sind oft nur schwer durchzusetzen. Andererseits war das
mit der Umwelt im früheren Kommunismus noch viel schlimmer. Was in der
Marktwirtschaft möglich ist und durch Transparenzverpflichtungen erleichtert
werden muss, ist der Einfluss des Konsumenten auf die Hersteller. Wenn ich
als Verbraucher weiß, dass der Konzern X in Vietnam Kinder arbeiten lässt
oder in Peru wertvollste Wälder zerstört oder im Sudan mitschuldig am Elend
der Minderheiten ist, dann möchte ich seine Waren boykottieren. Wenn
Millionen das tun, hat das entscheidende Wirkung.
MM: Wenn man dem Kapital freien Lauf lässt,
wie in manchen muslimischen Ländern sichtbar, dann gibt es offenbar
Skipisten wie auch Eishockeyhallen in der Wüste und Monumentalbauten in
reichen Ölländern, die angesichts einer völlig fehlenden Isolation in einer
hier kaum vorstellbaren Art und Weise die gesamte Umwelt kühlen. Ist
angesichts einer globalisierten Weltwirtschaft so etwas überhaupt
kontrollierbar?
Prof. v. Weizsäcker: Wenn reiche Europäer
oder Amerikaner als Touristen so einen Unsinn honorieren, dann ist die
Schuld gleichverteilt. Wenn es mehr und mehr zum moralischen Gebot wird,
dass man das Klima schützt und Energie nicht verplempert, dann müssen sich
auch autoritäre Regimes daran halten, um sich nicht völlig zu isolieren
MM: Während das derzeit dominierende
Wirtschaftssystem ursprünglich von einem quantitativen Wachstum als
unabdingbare Voraussetzung für ihren Bestand ausgegangen ist, wechselte
diese Einstellung vor wenigen Jahrzehnten zu einem qualitativen Wachstum.
Können Sie sich angesichts einer schrumpfenden Gesellschaft auch eine
funktionierende Wirtschaft vorstellen, die überhaupt nicht mehr wächst?
Prof. v. Weizsäcker: Ja, das ist sehr wohl
möglich. In der Natur sind stabile, nicht wachsende Systeme die Regel.
Politisch ist das aber sehr schwierig. Weil am Wachstum Staatsfinanzen und
Arbeitsplätze hängen; und daran hängt oft der soziale Friede.
MM: Bei all ihren wissenschaftlichen und
politischen Engagement sind Sie gleichzeitig auch religiös engagiert. Worin
glauben Sie besteht die Verantwortung des Menschen vor Gott im Umgang mit
der Umwelt?
Prof. v. Weizsäcker: Der Mensch soll sich
nicht anmaßen, alles zu bestimmen, zu manipulieren. Die großen Religionen
haben alle auch Gebote der Friedfertigkeit, die wir nicht übertreten sollen.
Durchsetzbar ist die Friedfertigkeit allerdings meist nur, wenn ein
genügendes Maß an Gerechtigkeit herrscht. Die Umwelt in dem Sinne, wie wir
es heute verstehen, kommt in den Aussagen der Religionsstifter kaum vor.
Aber man kann einen verschwenderischen und zerstörerischen Umgang mit der
Umwelt in keiner Religion rechtfertigen.
MM: Und warum sollte ein Mensch, der nicht
an Gott glaubt und auch keine Nachkommen hat, denen er eine nicht
verschlimmerte Welt hinterlassen möchte, sich dennoch derart
verantwortungsbewusst verhalten?
Prof. v. Weizsäcker: Die moralischen Gebote
sind nicht auf Gläubige und Menschen mit eigenen Kindern beschränkt. Der
Staat hat in der Regel durch Verfassung und Gesetze das Wichtigste
verbindlich für alle gemacht.
MM: Abschließende Frage: Glauben Sie an die
Vernunft der Menschen und das Gute im Herzen der Menschen?
Prof. v. Weizsäcker: Vernunft ist jedem
Menschen zugänglich. Das Gute im Herzen der Menschen ist jedem mitgegeben.
Aber manchmal werden schon Kinder durch Krieg, Terrorismus, gemeinste
Ausbeutung oder durch Misshandlung durch ihre Eltern oder Mitschülern so
verzweifelt, dass sie die Hoffnung auf das Gute im Menschen verlieren. Hier
sollten wir schützend und tröstend eingreifen.
MM: Sehr geehrter Herr Prof. v. Weizsäcker,
wir danken für das Interview.
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