Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. v. Weizsäcker
 

Muslim-Markt interviewt 
Prof. Dr. Ernst Ulrich Freiherr von Weizsäcker, Naturwissenschaftler und Politiker

11.4.2007

Ernst Ulrich von Weizsäcker (Jahrgang 1939) ist der Sohn des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker und Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Nach seinem Abitur 1958 in Göttingen und Studium der Chemie und Physik in Hamburg mit dem Abschluss eines Physikdiploms promovierte er 1968 an der Universität Freiburg im Breisgau im Bereich der Biologie.

Es folgten Stellungen als wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, Professor für Biologie and der Universität-GH Essen, Präsident der Universität Kassel, Direktor am UNO-Zentrum für Wissenschaft und Technologie in New York, Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik Bonn, Paris, London und Präsident des Instituts für Klima, Umwelt, Energie in Wuppertal. Seit Anfang 2006 ist er Dekan der Bren School of Environmental Science and Management an der University of California in Santa Barbara.

Prof. von Weizsäcker ist seit 1966 Mitglied der SPD und gehörte dem SPD-Landesvorstand von Baden-Württemberg an. Von 1998 bis 2005 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und dabei auch u.a. Vorsitzender der Enquête-Kommission "Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderung und Antworten" und später Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zuletzt war er auch Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe "Nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag". Zur Bundestagswahl 2005 trat er nicht mehr an.

Zudem war er u.a. auch Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und ist Mitglied des Club of Rome, des Fördervereins Ökologische Steuerreform, Deutschen Zoologischen Gesellschaft, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der World Academy of Art and Science (die beiden Letztgenannten als Ehrungen). Von 1997 bis 2005 gehörte er dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages an.

Zu seinen zahlreichen Ehrungen gehören u.a.: Duke of Edinburgh-Goldmedaille des WWF International, Ehrenprofessur der Technischen Universität Universität Valparaiso, Ehrendoktorwürde der Soka-Universität in Japan, Takeda-Preis. Es würde den Rahmen einer solche Einleitung zum Interview sprengen, sämtliche Positionen und Ehrungen aufzuzählen.

Zu seinen Veröffentlichungen und Büchern gehören „Erdpolitik“ (Primus-Verlag 1992), „Faktor Vier; doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch“ (Droemer Knaur 1995) und "Grenzen der Privatisierung“ Hirzel (2006).

Ernst Ulrich von Weizsäcker ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt derzeit in Santa Barbara, Kalifornien.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. v. Weizsäcker. Immer wieder ist von Ihnen zu hören, dass bei gerechterer Verteilung und geeigneter wissenschaftlich-technischen Umsetzung die Erde weitaus mehr als die heutige Bevölkerung versorgen könnte. Was antworten Sie dann den 30.000 täglich am Hungertod sterbenden, warum sie dennoch sterben müssen?

Prof. v. Weizsäcker: Die globalisierte Marktwirtschaft hat zwar den Gesamtwohlstand vermehrt, aber zugleich die Verhandlungsposition der Schwachen weiter geschwächt. Wir brauchen das Korrektiv des Staates und der solidarischen Gemeinschaft, um auch Gerechtigkeit durchsetzen zu können. Wir Deutschen haben nach dem Krieg, als es uns schlecht ging, die Großzügigkeit des Marshall-Plans genossen. Es ist an der Zeit, dass wir heutigen Reichen einen weltweiten Marshall-Plan aufsetzen und finanzieren.

MM: Um einmal an einem konkreten Beispiel einzuhaken. Was soll aus dieser Erde werden, wenn alle Chinesen und Inder darauf bestehen, genau so viel Auto zu fahren, wie wir es in Deutschland tun oder drauf bestehen, genau so viel Energie verbrauchen zu dürfen, wie der durchschnittliche US-Amerikaner tut?

Prof. v. Weizsäcker: China ist aufgewacht und hat dem Umweltschutz und der Erhöhung der Energieeffizienz höchste Priorität eingeräumt. Vielleicht kann Deutschland China technisch helfen, die ökologischen Ziele auch zu erreichen. Aber wir müssen mit gutem Beispiel voran gehen und Autos bauen und nutzen, die nur noch halb so viel Sprit brauchen.

MM: Ein weiteres sicherlich nicht zu unterschätzendes Problemfeld stellt die Wasserversorgung der Weltbürger dar. Gibt es hier nicht neben der allgemein zunehmenden weltweiten Verschmutzung auch das Problemfeld, dass das Bewusstsein diesbezüglich selbst in einem so reichen Land wie Deutschland abhängig vom wirtschaftlichen Wohlstand ist?

Prof. v. Weizsäcker: Deutsche Abwassertechnik ist vorbildlich. Mit Abwasserreinigung lässt sich das Wasser mehrfach nutzen, bevor es ins Meer fließt. Vielen Gemeinden in Entwicklungsländern fehlt das Geld, um eine Wasserversorgung und Abwasserreinigung in den Armenvierteln zu finanzieren. Privatkonzerne haben nur noch begrenztes Interesse, den Ausbau zu finanzieren, weil es schwierig ist, kostendeckende Tarife durchzusetzen. Deutschland kann helfen und tut das auch, aber selbst unsere Mittel reichen hinten und vorne nicht aus.

MM: Sie sind nicht der einzige Wissenschaftler - aber sicher einer der renommiertesten in Deutschland - der sinngemäß behauptet, dass die Privatisierung Grenzen hat und eine Wirtschaft, die auf Wachstum und mehr Konsum ausgerichtet ist, wie z.B. eine privatisierte Energiewirtschaft, nicht alle Belange der angestrebten Energieverbrauchsreduktion optimal erfüllen kann. Warum setzen sich solche wissenschaftlich begründbaren Erkenntnisse kaum in der Politik durch?

Prof. v. Weizsäcker: Bei der Strom- und Gasversorgung sind Privatkonzerne durchaus in Ordnung. Schöner wäre es noch, wenn nicht so viele Kommunen ihre Stadtwerke oder Beteiligungen in den 1990er Jahren verkauft hätten. Dann hätten wir jetzt nicht so ein mächtiges Oligopol, das die staatliche Regulierung nur schwer kontrollieren kann. Es gibt andere Bereiche, wo die Privatisierung noch mehr Schaden angerichtet hat. Etwa bei der britischen Bahn oder bei der deutschen Gebäudeversicherung, wo die Privaten die Tarife gewaltig in die Höhe gejagt haben. Auch die Privatisierung der Flugsicherung  - etwa in der Schweiz - war ein Fehler. Unser Buch „Grenzen der Privatisierung gibt gut 30 Beispiele, - auch einige positive.

MM: Als Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe "Nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag" haben Sie sich für die Vereinbarkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem eingesetzt. Glauben Sie, dass diese drei Aspekte der Nachhaltigkeit mit der derzeitigen Auffassung und Umsetzung von Kapitalismus realisierbar ist?

Prof. v. Weizsäcker: In der Marktwirtschaft hat das Kapital die mit Abstand stärkste Verhandlungsposition. Soziale und ökologische Belange sind oft nur schwer durchzusetzen. Andererseits war das mit der Umwelt im früheren Kommunismus noch viel schlimmer. Was in der Marktwirtschaft möglich ist und durch Transparenzverpflichtungen erleichtert werden muss, ist der Einfluss des Konsumenten auf die Hersteller. Wenn ich als Verbraucher weiß, dass der Konzern X in Vietnam Kinder arbeiten lässt oder in Peru wertvollste Wälder zerstört oder im Sudan mitschuldig am Elend der Minderheiten ist, dann möchte ich seine Waren boykottieren. Wenn Millionen das tun, hat das entscheidende Wirkung.

MM: Wenn man dem Kapital freien Lauf lässt, wie in manchen muslimischen Ländern sichtbar, dann gibt es offenbar Skipisten wie auch Eishockeyhallen in der Wüste und Monumentalbauten in reichen Ölländern, die angesichts einer völlig fehlenden Isolation in einer hier kaum vorstellbaren Art und Weise die gesamte Umwelt kühlen. Ist angesichts einer globalisierten Weltwirtschaft so etwas überhaupt kontrollierbar?

Prof. v. Weizsäcker: Wenn reiche Europäer oder Amerikaner als Touristen so einen Unsinn honorieren, dann ist die Schuld gleichverteilt. Wenn es mehr und mehr zum moralischen Gebot wird, dass man das Klima schützt und Energie nicht verplempert, dann müssen sich auch autoritäre Regimes daran halten, um sich nicht völlig zu isolieren

MM: Während das derzeit dominierende Wirtschaftssystem ursprünglich von einem quantitativen Wachstum als unabdingbare Voraussetzung für ihren Bestand ausgegangen ist, wechselte diese Einstellung vor wenigen Jahrzehnten zu einem qualitativen Wachstum. Können Sie sich angesichts einer schrumpfenden Gesellschaft auch eine funktionierende Wirtschaft vorstellen, die überhaupt nicht mehr wächst?

Prof. v. Weizsäcker: Ja, das ist sehr wohl möglich. In der Natur sind stabile, nicht wachsende Systeme die Regel. Politisch ist das aber sehr schwierig. Weil am Wachstum Staatsfinanzen und Arbeitsplätze hängen; und daran hängt oft der soziale Friede.

MM: Bei all ihren wissenschaftlichen und politischen Engagement sind Sie gleichzeitig auch religiös engagiert. Worin glauben Sie besteht die Verantwortung des Menschen vor Gott im Umgang mit der Umwelt?

Prof. v. Weizsäcker: Der Mensch soll sich nicht anmaßen, alles zu bestimmen, zu manipulieren. Die großen Religionen haben alle auch Gebote der Friedfertigkeit, die wir nicht übertreten sollen. Durchsetzbar ist die Friedfertigkeit allerdings meist nur, wenn ein genügendes Maß an Gerechtigkeit herrscht. Die Umwelt in dem Sinne, wie wir es heute verstehen, kommt in den Aussagen der Religionsstifter kaum vor. Aber man kann einen verschwenderischen und zerstörerischen Umgang mit der Umwelt in keiner Religion rechtfertigen.

MM: Und warum sollte ein Mensch, der nicht an Gott glaubt und auch keine Nachkommen hat, denen er eine nicht verschlimmerte Welt hinterlassen möchte, sich dennoch derart verantwortungsbewusst verhalten?

Prof. v. Weizsäcker: Die moralischen Gebote sind nicht auf Gläubige und Menschen mit eigenen Kindern beschränkt. Der Staat hat in der Regel durch Verfassung und Gesetze das Wichtigste verbindlich für alle gemacht.

MM: Abschließende Frage: Glauben Sie an die Vernunft der Menschen und das Gute im Herzen der Menschen?

Prof. v. Weizsäcker: Vernunft ist jedem Menschen zugänglich. Das Gute im Herzen der Menschen ist jedem mitgegeben. Aber manchmal werden schon Kinder durch Krieg, Terrorismus, gemeinste Ausbeutung oder durch Misshandlung durch ihre Eltern oder Mitschülern so verzweifelt, dass sie die Hoffnung auf das Gute im Menschen verlieren. Hier sollten wir schützend und tröstend eingreifen.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. v. Weizsäcker, wir danken für das Interview.

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