MM: Sehr geehrter Herr Galtung, Sie gelten
als einer der Gründungsväter der Friedens- und Konfliktforschung. Welche
Chancen sehen Sie, dass wir in absehbarer Zeit den "Clash of Cultures" oder
den "Krieg gegen Terror" überwinden?
Galtung: Also der Fall von Gewalt im Allgemeinen ist: Keine Kriege
dauern eine Ewigkeit. So gesehen ist "Clash of Cultures" nur ein Element von
ökonomischen, politischen und militärischen Ursachen. Es geht immer um eine
Mischung dieser Ursachen und Dimensionen. Und hier haben wir diese
komplizierte Mischung. Wenn sie z.B. über das Christentum reden, so ist hier
selbstverständlich die Kolonialgeschichte wichtig. Ich habe eine Liste der
28 wichtigsten christlichen Angriffe in Ihre muslimischen Länder, und
solche gab es selbstverständlich auch vom Islam in Spanien, und darüber
könnte man auch etwas sagen.
MM: Wir interessieren und vor allem für die
Gegenwart. Haben Sie denn keine Angst vor Islamisten?
Galtung: Nein. Ich habe nur Angst um die Leute, die niemals verstehen
werden, dass dies zu den wirklichen Konflikten heute gehört. Sagen wir zum
Beispiel Iran und USA. Bis heute gab es keine Entschuldigung von der
amerikanischen Seite für die Angelegenheit um Mossadeq und den Schah von
1953. Dafür hat sich niemand entschuldigt, das würde sehr viel helfen. Viele
Sachen stecken in der Geschichte und aus dieser heraus muss man etwas tun.
MM: Dann schauen wir auf etwas, wofür sich
vielleicht spätere Generationen werden entschuldigen müssen, betreffend
Europa: Wird Europa heute am Hindukusch verteidigt?
Galtung: Überhaupt nicht. Dies wird nur die Unsicherheit Deutschlands
fördern, nicht die Sicherheit. Denn es ist ja ganz klar; wenn man jemanden
tötet, dann gibt es für jeden Toten, sagen wir, zehn Verwandte, Freunde und
Bekannte, die die Täter hassen. So kann es zur Gefahr für Deutschland
kommen. Ich halte dies für eine außerordentlich dumme Politik.
MM: Wie lautet ihr Alternativvorschlag?
Galtung: Der Alternativvorschlag für Afghanistan wäre erstens Eins zu
verstehen: Afghanistan ist kein einheitlicher Staat, es könnte vielleicht
ein Bundesstaat sein. So sollte man nicht von Kriegsherren reden, sondern
die Unabhängigkeitsbestrebungen gegen Kabul ernst nehmen. Zweitens muss man
die Taliban in einer Koalitionsregierung haben, also benötigt man
Verhandlungen mit den Taliban. Drittens glaube ich, dass man mit den
islamischen Ländern im Umkreis Afghanistans, die teilweise innerhalb
Afghanistans repräsentiert sind, über einen Staatenbund reden könnte. Das
wäre eine gute Aufgabe für Europa dies zu fördern. Die Europäische
Gemeinschaft weiß eine Menge darüber, wie man einen Staatenbund kreiert.
Dafür müsste man also eine Friedenssicherung haben, aber dies muss nicht nur
in Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsrat, sondern auch in Zusammenarbeit mit
der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz) geschehen.
MM: Dann fragen wir gleich weiter. Wie kann
die Situation im Irak überwunden werden?
Galtung: Sehen Sie, es gab 1973-75 eine
Konferenz in Helsinki (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa) und da hat man ganz einfach die Karten auf dem Tisch gehabt, mit den
sog. "Körben". Es ging um ganz Europa und es war ein Riesenerfolg. So
glaube ich, man braucht eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Westasien und diskutiert dann alles aus, so dass es niemanden gibt, der
versucht den anderen zu beherrschen, sondern man fängt mit einer Entwicklung
an. 1975 ist es dazu gekommen, die Sowjets haben gesagt: "Wir nehmen die
Menschenrechte an, wenn ihr die Sicherheitslage garantiert und die festen
Grenzen akzeptiert." Und so hat es sich teilweise entwickelt. Und ich
glaube, man kann etwas Ähnliches für Westasien finden. Aber das kann nicht
von den USA oder von England diktiert werden. Es ist eine Frage der
Zusammenarbeit der Länder, die dort sind, und nicht eine Frage Iraks
alleine. Es ist nicht ein Irak-Problem, es ist selbstverständlich ein
Westasien-Problem - und meistens ein Washington-Problem.
MM: Der mit Abstand längste Konflikt ist die
Situation Palästinas. In wie weit können Sie nachvollziehen, dass manche
Menschen keinen Muslimstaat, keinen Christenstaat und keinen Judenstaat
wollen, sondern einen Staat gleichberechtigter Bürger?
Galtung: Es gab eine sehr gute Situation, und das war zur Zeit der
Osmanen. Bei den Osmanen gab es eine Gleichberechtigung unter den drei
Religionen, obwohl das Reich natürlich islamisch war. Aber ich glaube, dass
so etwas heute unrealistisch ist. Wichtig wäre ein Staatenbund von sechs
Staaten, Israel mit den fünf Nachbarstaaten, also mit Libanon, Syrien,
Jordanien, Ägypten und auch Palästina, anerkannt gemäß internationalem
Recht. Das könnte funktionieren, also noch einmal auf einen Erfolg zu bauen.
Helsinki war ein Erfolg und die Europäische Gemeinschaft ist ein Erfolg. Das
könnte man genauso ganz gut initiieren.
MM: Sie treten für eine Demokratisierung der
UN ein. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet jene Mächte, die sich als
Vorreiter der Demokratie verstehen, so sehr an ihrem undemokratischen
Vetorecht im Sicherheitsrat beharren.
Galtung: Dies ist selbstverständlich eine
alte historische Tradition und es hängt in einem gewissen Sinne mit dem
Wiener Kongress von 1815 zusammen, damals mit den fünf Großmächten, und es
geht weiter mit fünf Großmächten. Das muss man abschaffen, und ich glaube,
die Zeit ist reif dafür. Denn wir sehen etwas ganz interessantes, es kommen
neue Regionen hoch, und die kommen teilweise hoch, um das Vetorecht zu
vermeiden. Ich meine damit die Europäische Union, die Afrikanische Union,
Asien und jetzt kommt auch die Union der lateinamerikanischen Staaten -
genau um das zu vermeiden, was die UNO zu einer Machtkonzentration gemacht
hat. Ich halte es für eine Überlebensfrage das Vetorecht abzuschaffen.
MM: Was möchten sie den muslimischen Lesern
dieses Interview zum Abschluss noch mitgeben?
Galtung: Ich habe keine Ängste vor dem Islam, sowie ich auch keine vor
dem Christentum habe. Aber es gibt im Christentum und Islam
selbstverständlich eine gewisse Selbstgerechtigkeit, eine Fehde mit
Selbstgerechtigkeit. Die christliche Selbstgerechtigkeit war immer die
größere. Dass der Islam sich jetzt weigert, verstehe ich. Aber ich bin ganz
überzeugt davon, dass sie beide sich finden werden. Und wenn sie das tun,
werden sie sehen, dass sie sich gegenseitig bereichern können.
Ein Beispiel: Das Christentum kann aus 8:61 aus dem Koran lernen, also wenn
dein Gegner sich dem Frieden zuwendet, dann tue dasselbe.
Und der Islam könnte vielleicht etwas von der Trennung zwischen säkularen
und religiösen Dingen lernen, nicht so weit, wie das Christentum, aber
etwas. Und der Islam versucht das zu tun und findet entsprechende Formen:
Also Dialog, statt Bekehrung, und gegenseitiges Lernen.
MM: Herr Galtung, wir danken Ihnen ganz
herzlich für das Interview.
Galtung: Es war auch mir eine Freude, alles
Gute.
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