M: Sehr geehrter Herr Prof. Geitmann, der
Verein "Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) e.V." tritt für ein
anderes Wirtschaftssystem ein. Was sind die Eckpfeiler jenes Systems und
worin unterschiedet es sich vom Kapitalismus?
Geitmann: Die Christen für gerechte
Wirtschaftsordnung wollen dazu beitragen, die „Marktwirtschaft vom
Kapitalismus zu befreien“. Die Marktwirtschaft als freies Für- und
Miteinanderarbeiten ist kapitalistisch verzerrt durch Privilegien an
Gemeinschaftsgütern, nämlich an der Erde, am Geld und am Wissen. Deswegen
treten wir ein:
- für eine Eigentumsordnung, die an
Naturressourcen nur (zumeist entgeltliche) Nutzungsrechte gewährt,
- für ein Geld, das sich z. B. durch eine Liquiditätsabgabe dienend
anbietet, statt sich bei wenigen Reichen anzuhäufen,
- und (durch ein freies Bildungswesen und Einschränkungen des Patent-
und Urheberrechts) für gleichen Zugang aller Menschen zum Wissen.
MM: Viele Menschen - darunter auch Christen
- denken beim Zinsverbot zunächst an den Islam, obwohl das Zinsverbot
bereits im alten Testament verankert ist und von Jesus nicht bekannt ist,
dass er jenes Verbot aufgehoben hätte. Warum werden Zinsen von den
christlichen Kirchen heute toleriert, hingegen von Ihrem Verein nicht?
Geitmann: Das Zinsverbot der Thora und des
Koran erinnert uns daran, dass wir die uns von Gott geschenkte Zeit nicht zu
Geld machen dürfen. Bloßes Zuwarten darf keinen Lohn erwarten; die Tatsache,
früher geboren zu sein, begründet keinen Leistungsanspruch gegen
Nachgeborene. Konsumaufschub durch Leihen und Sparen löst in Wirklichkeit
beiden Seiten kein Problem.
Die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung
wollen allerdings den Zins nicht abschaffen; denn er erfüllt wichtige
marktwirtschaftliche Funktionen, indem er Angebot und Nachfrage in
Einklang bringt, Risiken und Vermittlungskosten abdeckt und Inflation
ausgleicht. Aber wir wollen das Sinken des Zinses ermöglichen, so dass
der Realhabenzins um Null pendelt und nicht um 3 oder 4 %. Das könnte
vermutlich durch eine Liquiditätsabgabe erreicht werden oder auch durch
allmähliches Abschmelzen von Guthaben.
Im Kern geht es uns darum, Zinseszinseffekte zu
vermeiden, welche die Wirtschaft unter zerstörerischen Wachstumszwang
setzen und Reich und Arm auseinanderdriften lassen. Diese fatalen
Auswirkungen unseres Geldsystems hatte Martin Luther noch im Blick; auf
protestantischer Seite wurden sie seit etwa 1600, auf katholischer Seite
seit dem 19. Jahrhundert zunehmend verdrängt, wohl weil auch Kirchen zum
Teil von Kapitaleinkünften leben.
MM: Und wie wäre es, wenn es in einem
zinslosen System auch keine Inflation gäbe? Das Zinssystem als
Geldmengenregulator tritt ja dann ein, wenn es Geld gibt, was keinen
Gegenwert besitzt. Wenn aber Geld auf das reduziert wird, was es ist,
nämlich ein normierter Schuldschein, könnten Sie sich dann auf ein absolutes
Zinsverbot vorstellen bzw. würde es nicht ihrer Vorstellung eines Realzinses
von Null entsprechen?
Geitmann: Es gibt sicher mehrere Wege, um
die verheerenden Auswirkungen des Zinseszinssystems loszuwerden. Ein
Wettbewerb vielfältiger Suchbewegungen kann dabei nur nützlich sein. Wir
Christen jedenfalls beobachten mit großem Interesse und Sympathie die von
islamischen Banken praktizierten Formen der Gewinn- und Verlustbeteiligung,
wie wir uns auch durch die Netze zinsloser Leihe im Umfeld von Synagogen zu
ähnlichen Leihgemeinschaften anregen lassen.
MM: Im bestehenden Wirtschaftssystem wird
die zumeist von Frauen geleistete sehr umfangreiche, komplexe und
verantwortungsvolle Erziehungs- und Familienarbeit, die mehr als ein
Vollzeitjob ist, nicht im geringsten so honoriert wie die einfachste
Tätigkeit außer Haus. Ihr Verein tritt für eine angemessene Entlohnung und
Absicherung ein. Muslime, die das lesen, sind fasziniert und überrascht
zugleich, zumal die Forderung genau dem islamischen Modell in diesem Bereich
entspricht. Wie begründen Sie Ihre Forderung und woher nehmen Sie die Kraft
und den Mut gegen den so genannten Zeitgeist zu schwimmen?
Geitmann: Füreinander zu arbeiten ist ein
Grundbedürfnis des Menschen. Arbeit sollte der Sache und der Menschen wegen
geschehen, ist keine Ware und kann deswegen eigentlich auch nicht bezahlt
und "entlohnt", sondern nur ermöglicht und angemessen gewürdigt werden.
Die vorwiegend von Frauen geleistete
Erziehungs- und Familienarbeit ist die allerwichtigste und bedeutsamste.
Diese nachhaltigste, weil dem Werden der nächsten Generation dienende
Arbeit sollte finanziell dadurch abgesichert werden, dass für
Kindererziehungszeiten bis zum 18. Lebensjahr eine staatlich garantierte
Rente gezahlt wird. Die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung haben
hierzu die Idee des Sozialreformers Silvio Gesell aufgegriffen, wonach
diese Rente aus den Bodennutzungsentgelten zu finanzieren sei.
MM: Sie erinnern damit an ein biblisch
verankertes und auch im Islam bekanntes Bodennutzungsentgelt und fordern
eine Art Quasiverstaatlichung von Gütern, die allen Menschen gemeinsam gehören,
wie z.B. Bodenschätze, Energiequellen und Wasser. Stoßen Sie hierbei nicht
auf entschiedenen Widerstand der regierenden christlichen Partei?
Geitmann: Die Erkenntnis, dass die Erde in
gleicher Weise allen Menschen zusteht, ist in der Tat Grundwissen aller
Religionen und verbindet uns. Soweit wir Teile der Erdoberfläche, Wasser,
Rohstoffe und Energie in Anspruch nehmen oder die Atmosphäre durch Abgase
und Lärm belasten, wären in einer gerechten Weltwirtschaftsordnung Entgelte
zu leisten, die wiederum an alle Menschen pro Kopf zurückverteilt werden und
für die bescheidener Lebenden ein Grundeinkommen bilden. Wasserknappheit und
Klimaprobleme werden uns diese Einsichten zunehmend ins Bewusstsein bringen.
Um Mandate und Macht ringende Parteien können
dem schwerlich vorauseilen, nicht einmal diejenigen, die sich (eher
irreführend) "christlich" nennen und mit ihrem Ahlener Programm von 1947
schon einmal weiter waren. Bestenfalls bilden sie ab, was in der
Gesellschaft lebt. Wichtiger wäre deshalb, dass die Kirchen und
Religionsgemeinschaften zu den Fragen gerechter und nachhaltiger
Wirtschaftsordnung klar Stellung beziehen. Dies ist in einigen
Entschließungen des Reformierten und des Lutherischen Weltbundes und
ansatzweise auch durch Sozialenzykliken der katholischen Kirche
geschehen, aber in Äußerungen etwa der EKD (Evangelischen Kirchen in
Deutschland) kaum präsent.
MM: Bei den "Quellen" Ihrer Erkenntnis
nennen Sie offenbar unbeeinflusst vom aktuellen Feindbild neben den
biblischen Propheten und erwartungsgemäß Jesus Christus auch Mohammed. Haben
Sie denn keine Angst vor dem Islam?
Geitmann: Nichts wäre irriger als ein
"Feindbild Islam". Ganz im Gegenteil: Der Islam hält uns westlichen
Industrienationen einen heilsamen Spiegel vor die Augen, in dem wir
erschreckt erkennen, dass wir mit dem Raubtierkapitalismus das Gegenteil
unseres christlichen Anspruchs verwirklicht haben, und das auf dem Feld der
arbeitsteiligen Wirtschaft, die eigentlich auf tätige Liebe, auf ein Für-
und Miteinander, angelegt ist. Deswegen ist die Begegnung mit dem Islam für
uns Europäer eine welthistorische Chance, uns auf die eigenen und mit dem
Islam gemeinsamen Grundlagen zu besinnen, damit künftiges Leben auf dieser
Erde möglich bleibt.
MM: Von einem islamischen Bankwesen
schreiben derzeit auch deutsche Medien. Ist denn auch schon einmal ein in
Ihrem Sinn akzeptables christliches Bankenwesen angedacht worden?
Geitmann: Wichtig ist nicht das Etikett, ob
islamisch oder christlich, sondern ob das Bankwesen sachgemäß und
menschendienlich ist. Dafür gibt es auch im mitteleuropäischen Kulturraum
mancherlei Ansätze, z. B. die (anthroposophisch geprägte) GLS
Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken.
MM: Sie Verbreiten Ihre Thesen u.a. auch
durch Referate. Welche Erfahrungen machen Ihre Referenten mit dem Publikum,
das mit einer ihm zumeist unbekannt deutlichen Ablehnung des real
existierenden Kapitalismus konfrontiert wird, noch dazu von bekennenden
Christen?
Geitmann: Wer zu einer solchen Veranstaltung
geht, ist in der Regel selbst schon auf dem Weg und reagiert positiv.
Problematischer sind deswegen das Beharrungsvermögen der Amtskirchen, die
Vernebelung durch Wissenschaft, Medien und am derzeitigen System
interessierte Kreise und die Stummheit der ausgebeuteten
Bevölkerungsmehrheit.
MM: Das kapitalistische System ist gekoppelt
an eine materialistische Weltanschauung. In wie weit spielt die spirituelle
Dimension des Manschen eine Rolle bei Ihren Überlegungen zum
Wirtschaftssystem?
Geitmann: Wir betonen die Notwendigkeit, die
Rahmenordnung für die Wirtschaft zu verändern, weil sie derzeit das Mieseste
im Menschen, materialistisches Gewinnstreben auf Kosten anderer, aktiviert
und alle Versuche Einzelner um sozial-ökologisch verantwortliche Lebensweise
letztlich unterläuft. Aber wirksam werden Bemühungen um systemische
Veränderungen nur durch Menschen, die selbst schon ein Stück
vorangeschritten sind, sich den scheinbaren Sachzwängen des
Wirtschaftslebens entziehen und ihre Energien aus spirituellen Seinsebenen
beziehen.
In dieser Gemeinsamkeit liegen das Befruchtende
der Begegnung zwischen Christentum und Islam und die Aufgabe, nach der
Sklerose der staatlichen Planwirtschaft nun auch die andere
materialistische Erkrankung der Gesellschaft, den kapitalistischen
Krebs, zu überwinden und eine solidarische Ökonomie zu entwickeln.
MM: Was bedeutet das konkret an Beispielen?
Geitmann: Dank des täglichen
Energiezustroms der Sonne reichen die Ressourcen dieser Erde aus, um
auch 10 oder 12 Milliarden Menschen zu ernähren. Hungertote und
materielle Not müsste es nicht geben. Wenn wir die eingangs erwähnten
Privilegien abschaffen, können alle Menschen eine Existenzgrundlage
finden. Wenn die Sorge um die nackte Existenz schwindet, erwacht das in
jedem Menschen schlummernde Bedürfnis, sich für andere Menschen nützlich
zu machen und von ihnen anerkannt zu werden. Diese Neigung und die sich
dabei entfaltenden Fähigkeiten der Menschen würden uns und allen
künftigen Generationen erlauben, "in Fülle" zu leben.
MM: Herr Prof. Geitmann, Sie werden dieser
Tage - so Gott will - zum vierten Mal Großvater. Was erhoffen Sie sich für
Ihre Enkel in unserer Gesellschaft?
Geitmann: Wir hinterlassen unseren
Enkeln einen Planeten mit durch uns verschlechterten, gefährdeten und
ungerecht verteilten Lebensbedingungen. Meine Hoffnung ist, dass die
nächsten Generationen noch Möglichkeiten finden und diese ausschöpfen,
um zu einem gedeihlichen und nachhaltigen Miteinanderwirtschaften
beizutragen, und dafür in den Religionen eine gemeinsame
Inspirationsquelle der Menschheit finden.
MM: Herr Prof. Geitmann, wir danken für
das Interview. |