Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Felicia Langer
 

Muslim-Markt interviewt
Felicia Langer, Menschenrechtsanwältin, Trägerin des alternativen Nobelpreises und Ehrenbürgerin Nazareths

30.12.2008

Felicia Langer (geb. 1930 in Tarnów, Polen als Felicia Weit) musste als Jüdin 1939 mit ihren Eltern vor der Besatzung durch die Nazis in die Sowjetunion fliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg heiratete sie 1949 Mieciu Langer und wanderte im Jahr darauf mit ihm zusammen in das noch junge Israel aus. Mieciu Langer hatte fünf Konzentrationslager durchlitten und war 1945 bei Kriegsende mehr tot als lebendig gerettet worden.

1959, als ihr Sohn Michael sechs Jahre alt war, begann Felicia Langer an der Hebräischen Universität von Jerusalem Rechtswissenschaften zu studieren. Ab 1965 begann sie ihre Tätigkeit als Anwältin. Zunächst sah sie ihre Aufgabe darin, die Unterprivilegierten in Israel zu verteidigen. Der Sechs-Tage-Krieg 1967 war der Wendepunkt in ihrem Leben. Sie begann, Palästinenser vor israelischen Militärgerichten zu vertreten, kämpfte gegen Enteignung, Häuserzerstörung, Deportation und Folter. Aus ihren Tagebuchnotizen entstanden ihre ersten Bücher. Sie engagierte sich für Frieden und Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte in einem gleichberechtigten Miteinander von Israelis und Palästinensern. Dabei vertrat sie immer Palästinenser aus den besetzten Gebieten, weshalb sie von Zionisten angefeindet wurde. Während der Ersten Intifada 1990 schloss sie ihre Anwaltskanzlei aus Protest; ihrer Meinung nach war das israelische Justizsystem zur Farce geworden.

Sie zog zusammen mit ihrem Ehemann nach Deutschland und nahm Lehraufträge an der Universität Bremen und Kassel an. Für ihren unermüdlichen Einsatz für einen auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung basierenden Frieden zwischen Palästinensern und Israelis erhielt sie 1990 den alternativen Nobelpreis (The Right Livelihood Award) und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Nazareth. 1991 erhielt sie den Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Staates Israel wurde sie 1998 von der israelischen Zeitschrift ’’You“ zu einer der 50 bedeutendsten Frauen der israelischen Gesellschaft gewählt. 2005 folgte der Erich-Mühsam-Preis der Erich-Mühsam-Gesellschaft für „Personen und Gruppen, die sich mit Zivilcourage und Idealismus für soziale Gerechtigkeit und verfolgte Minderheiten einsetzen“ und 2006 der Menschenrechtspreis der Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde (Berlin).

Sie ist Schirmfrau des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon e.V. zur Unterstützung palästinensischer Flüchtlingsfamilien im Libanon mit Sitz in Pfullingen. Sie hat nicht aufgegeben zu versuchen, eine Brücke zwischen Israelis und Palästinensern zu bauen. Inzwischen hat sie ein Dutzend Bücher geschrieben, schreibt weiterhin Bücher und Artikel, hält Lesungen und Vorträge, gibt Interviews und beteiligt sich an Diskussionen. Außerdem engagiert sie sich in Vereinen und Stiftungen, die das Ziel haben, Palästinensern zu helfen.

Frau Langer lebt heute in Tübingen.

(Foto mit freundlicher Genehmigung von arbeiterfotografie.com)

MM: Frau Langer, seit über 40 Jahren engagieren Sie sich dafür, Brücken zu bauen zwischen Israelis und Palästinensern für ein friedliches Miteinander basieren auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse der letzten Tage?

Langer: Ich empfinde Empörung, sehr viel Mitleid, so viel Mitleid, dass ich an die Grenzen meiner Kräfte komme. Am meisten empfinde ich Empörung gegen die israelische Aggression, eine mörderische Aggression, die bedauerlicherweise derart extrem geduldet wird, dass selbst ich das Ausmaß der Duldung dieser Aggression nicht erwartet habe. Und sicherlich trauere ich um jeden Toten, um die Toten im Gaza und um die Toten, die auf israelischer Seite gefallen sind, und das Wichtigste, wofür ich mich jetzt einsetze, ist, das zu stoppen. Das muss man stoppen! Das bedeutete, dass man den Israelis klar macht, dass es so nicht weiter geht, dass man wieder sprechen muss und nicht bombardieren; das wäre der erste Schritt.

MM: Ist ein friedliches Miteinadern von Palästinensern und Israelis angesichts der Ereignisse in den letzten Tagen auf absehbare Zeit überhaupt denkbar?

Langer: Es erscheint fast undenkbar, so wie es derzeit aussieht, aber man muss sich dennoch bemühen; wie ich es in meinem neusten Buch mit dem Titel "Um Hoffnung kämpfen" geschrieben habe. Man muss um Hoffnung kämpfen, dass es doch zu einem friedlichen Miteinander kommt. In Israel haben mehr als 1000 Menschen demonstriert gegen den Krieg, gegen die israelische Aggression. Das ist nicht hinreichend, es sind zu wenige, viel zu wenige, aber dennoch ist es ein Zeichen. Und die öffentliche Meinung der Welt hat auch etwas zu sagen. Das ist eine kolossale Macht. Die Politiker sind eine kolossale Enttäuschung, aber die Weltmacht der öffentlichen Meinung hat etwas zu sagen, und diese Weltmacht sagt bereits jetzt: Genug!

MM: Sie sind auch Rechtsanwältin und haben an mehreren deutschen Hochschulen gelehrt. Können Sie sich vorstellen, dass eines Tages irgendjemand für dieses Massaker zur rechtlichen Verantwortung gezogen wird oder gezogen werden muss?

Langer: Ich habe schon seit langem gesagt, noch lange vor den aktuellen Ereignissen, dass viele unserer führenden Persönlichkeiten in Israel und die Generäle und auch der (Verteidigungsminister) Barak, ja insbesondere der Barak, an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehören. Sie sollte dort angeklagt und abgeurteilt werden für ihre Kriegsverbrechen, das vertrete ich schon seit langem. Denn schließlich ist die ungesetzliche Tötung nichts anderes als Mord und das ist rechtswidrig. Sie haben es verdient angeklagt zu werden. Und gemäß dem, wie ich das Völkerrecht verstehe, und wie ich es auch in Bremen und Kassel unterrichtet habe, handelt es sich hier eindeutig um völkerrechtwidrige Handlungen. Selbst wenn man über das Recht auf Selbstverteidigung spricht - und ich will and dieser Stelle betonen, dass ich gegen die Raketen bin, die man aus dem Gaza abfeuert - aber selbst wenn man über Selbstverteidigung spricht, so gibt es so etwas wie eine Verhältnismäßigkeit. Und hier wurden allein in den ersten neun Stunden 100 Tonnen an Bomben abgeworfen auf Gaza. Das ist ein Gemetzel, das ist ein Massaker, dass kann man nicht anders nennen. Und für ein Massaker muss jemand die Verantwortung tragen. Ich hoffe, dass selbst wenn ich es nicht mehr miterleben sollte, eines Tages jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Das wichtigste ist, dass man seine Schuld bekennt, und das allerwichtigste ist, dass man jetzt aufhört, denn das Blut fließt weiter, während wir hier sprechen.

MM: Manche Schreiber in der Presse geben alleine der Hamas die Schuld an dem Massaker. Was entgegen sie denen, die möchten, dass Israelis ohne Angst vor Raketenbeschuss im Süden Israels leben können?

Langer: Wenn man ohne Angst leben will, dann muss man Frieden schließen, muss man die Besatzung beenden, muss man die Unterdrückung beenden, muss man diese schreckliche Blockade des Gaza beenden, die eineinhalb Millionen Menschen stranguliert. Erst dann kann man in Frieden leben. Man kann nicht in Frieden leben, wenn die anderen nicht einmal die Luft zum Atmen haben. Jedes Land hat das Recht auf Frieden. Alles, was sich gegen Zivilisten richtet, ist rechtswidrig, auch diese Raketen aus dem Gaza; das sage ich auch. Aber wenn man Menschen in solch einem Käfig hält, in einem kolossalen Gefängnis, in einem kolossalen Ghetto, für Monate und länger, total blockiert, ohne geeignete medizinische Hilfe - noch vor den Bomben sind 260 Menschen gestorben, weil sie keine adäquate medizinische Hilfe bekommen haben - muss man sich nicht wundern. Denn die Menschen im Gaza wollen etwas tun, auch wenn es kontraproduktiv ist und für mich sind jene Raketen aus dem Gaza auch nicht legitim. Aber hierbei muss man verstehen, das Israel die Kontrolle hat, dass Israel die kolossale Militärmacht ist. Israel hat diesen Waffenstillstand gebrochen, mindestens seit November, hat angefangen zu töten, einen nach dem anderen, sechs Palästinenser, und hat die Palästinenser provoziert. Hamas war doch bereit zu dem Waffenstillstand, aber eine Bedingung war doch auch, dass man die Übergänge öffnet. Was ist das für ein Waffenstillstand, wenn die Übergänge nicht geöffnet sind, obwohl das eine Bedingung des Waffenstillstandes und vereinbart war? Man hätte durchaus verhandeln können, und man hätte zu einem vernünftigen Schluss kommen können. Aber sie wollten das nicht. Sie wollen nur die Hamas besiegen, sie wollen vollendete Tatsachen schaffen. Sie wollen eine vollständige Kapitulation des Volkes in Palästina erreichen. Diese israelische Regierung will keinen Frieden.

MM: Aber der israelische Verteidigungsminister Barak vergleicht Hamas mit al-Qaida und der RAF in Deutschland und will daher mit ihnen nicht verhandeln. Was antworten sie darauf?

Langer: Das ist derart unsinnig, dass es sich bereits als kolossale Lüge im Irak erwiesen hat. Sie wollen die gleiche Legitimierung und gleiche Täuschung wiederholen, was schon ein wenig primitiv ist. Jeder, der etwas von Politik versteht, weiß, wie weit al-Qaida und auch RAF von Hamas entfernt ist. Man darf nicht übersehen, dass die Hamas das so genannte Papier der palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen unterschrieben hat, und darin ist von der Zwei-Staaten-Lösung die Rede. Es gibt viele Menschen in der Hamas, die pragmatisch denken. Man muss mit den Menschen reden. Aber die israelischen Verantwortlichen wollen nicht sprechen, und daher wäre es total unsinnig die alleinige Verantwortung der Hamas zuzuschreiben.

MM: Kommen wir nach Deutschland. Sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch der Außenminister Steinmeier haben sich uneingeschränkt hinter die Aktionen Israels gestellt. Ist das eine Hilfe für Israel?

Langer: Nein, auf keinen Fall. Denn wer ein Freund Israels ist, muss jetzt warnen, muss jetzt aufschreien, muss Israel dazu bewegen, dass die Offensive beendet wird. Denn das Ganze erweckt einen abgrundtiefen Hass in der gesamten arabischen und islamischen Welt. Das ist doch etwas Schreckliches. Wenn man sich schon gegen Extremismus wendet, dann muss man doch feststellen, dass die gegenwärtigen israelischen Aktionen den Extremismus nur verschärfen. Deshalb muss man Israel warnen, muss man Israel verurteilen, muss man Israel abbringen von diesen Taten. Schließlich ist Israel die viertgrößte Militärmacht der Welt. Und diese bedingungslose, verblendet Unterstützung ist auch ein Fluch für uns Israelis und auch eine Katastrophe für Israel, nicht nur für die Palästinenser.

MM: Liegt hier nicht auch eine große Gefahr für das deutsche Rechtssystem vor, wenn die obersten Repräsentanten des Staates derart massiv und einseitig Verbrechen an der Menschlichkeit befürworten?

Langer: Ich äußere mich nicht zur Beurteilung innerhalb des deutschen Rechtssystems, aber es liegt eindeutig ein israelischer Verstoß gegen das Völkerrecht vor, und die deutsche Unterstützung ist ebenfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.

MM: Unsere Wahrnehmung aus hunderten von Mails und viele Gesprächen der letzten Tage verdeutlicht, dass die Bevölkerung in Deutschland anders denkt als ihre politische Elite und ihrer Schreiber in den Massenmedien. Wie aber kann die Volksmeinung deutlicher ausgedrückt werden?

Langer: Ja, ich stimme vollständig mit Ihnen überein, weil ich an vielen Veranstaltungen aufgetreten bin, auch vor diesem Angriff, und dabei festgestellt habe, dass die Bevölkerung anders denkt als die Politiker und viel kritischer ist. Man muss Briefe an Politiker und die Medien schreiben, man muss an Mahnwachen teilnehmen, man muss klar und unmissverständlich gegenüber den Politikern ausdrücken, dass so etwas nicht zu unterstützen ist, dass es weder zugunsten von Deutschland noch zugunsten von Israel und schon gar nicht zugunsten von Palästinensern ist, was dort geschieht. Man muss den Weltfrieden schützen. Und Deutschland ist ein Unterzeichner der vierten Genfer Konventionen in dem eine Klausel darauf hinweist, dass man sich für ihre Einhaltung einsetzen muss. Wo ist die Bemühung zur Einhaltung der Genfer Konvention, wenn man solche Dinge, die Israel jetzt macht, befürwortet? Bis heute morgen gibt es ca. 360 Tote und über tausend Verletzte. Man attackiert Universitäten, man zerstört alles, was man zerstören kann. Das ist doch total sinnlos und unmenschlich!

MM: Noch einmal zurück nach Palästina. Dort fällt es der zumeist verarmten Bevölkerung mit geringer Bildung immer schwerer zwischen Juden, Israelis, Zionisten und Antizionisten zu unterscheiden, so dass sie zuweilen pauschal ihren Hass gegen Juden ausdrücken. Was kann man tun, um diese Gefahr des Antisemitismus zu überwinden?

Langer: Das ist eine wichtige Frage. Sicher ist das, was Israel macht, kontraproduktiv und erweckt Hass, einen abgrundtiefen Hass. Daher muss man auch das andere Israel zeigen, das andere Gesicht von Juden und es gibt solche! Es gibt sie in Israel, in Österreich in den USA, auch hier in Deutschland. Ich bin auch eine Jüdin und bin Israelin. Ich akzeptiere nicht, dass man nicht versteht, dass solche Aktionen zwangsläufig Antisemitismus erwecken, es erweckt antijüdische Gefühle, das ist doch klar. Für mich ist und bleibt das Wichtigste, die Besatzung zu beenden. Denn die Besatzung der Gebiete, die nach 1967 besetzt wurden, und die Besiedlung der Gebiete und die Blockade des Gaza-Streifens und die israelische Herrschaft über die Menschen in Gaza, als wenn sie Gefangene oder Geiseln wären, ist so eine eklatante Verletzung der Menschenrechte, dass es nur Empörung hervorrufen kann. Das muss man stoppen. Und falls wir Frieden wollen, und die Bevölkerung in Israel hat ein Recht auf Frieden, dann muss man auch die Rechte der anderen respektieren.

MM: In jeder Krise steckt auch eine Chance und eine Hoffnung, welche Hoffnungen haben Sie heute?

Langer: Es ist jetzt in diesen Momenten schwer eine Hoffnung zu erkennen, während man von einer Invasion spricht. Und heute habe ich gehört, dass sehr ernsthaft über den Einsatz von Bodentruppen nachgedacht wird. Aber es könnte sein, dass die Wahrheit, die traurige Wahrheit über die israelische Übermacht, den Menschen die Augen öffnen wird, und dadurch eine Bewegung zustande kommt, die Druck auf Israel ausübt. Ich plädiere für solch eine Bewegung der Solidarität mit den Palästinensern und den israelischen Friedenskräften gemeinsam in der ganzen Welt, wie einstmals gegen die Apartheid in Südafrika. Es könnte sein, dass diese schreckliche Tragödie, die wir jetzt erleben, den Menschen verdeutlicht, dass solch eine Bewegung die einzige Lösung ist, um dieses grausame Blutvergießen zu beenden und die Gewaltspirale zu durchbrechen.

MM: Das hoffen wir mit Ihnen Frau Langer, und vielen Dank für das Interview.

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