MM: Frau
Langer, seit über 40 Jahren engagieren Sie sich dafür, Brücken zu bauen
zwischen Israelis und Palästinensern für ein friedliches Miteinander
basieren auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Was empfinden Sie
angesichts der Ereignisse der letzten Tage?
Langer: Ich empfinde Empörung, sehr viel
Mitleid, so viel Mitleid, dass ich an die Grenzen meiner Kräfte komme.
Am meisten empfinde ich Empörung gegen die israelische Aggression, eine
mörderische Aggression, die bedauerlicherweise derart extrem geduldet
wird, dass selbst ich das Ausmaß der Duldung dieser Aggression nicht
erwartet habe. Und sicherlich trauere ich um jeden Toten, um die Toten
im Gaza und um die Toten, die auf israelischer Seite gefallen sind, und
das Wichtigste, wofür ich mich jetzt einsetze, ist, das zu stoppen. Das
muss man stoppen! Das bedeutete, dass man den Israelis klar macht, dass
es so nicht weiter geht, dass man wieder sprechen muss und nicht
bombardieren; das wäre der erste Schritt.
MM: Ist ein friedliches Miteinadern von
Palästinensern und Israelis angesichts der Ereignisse in den letzten
Tagen auf absehbare Zeit überhaupt denkbar?
Langer: Es erscheint fast undenkbar, so
wie es derzeit aussieht, aber man muss sich dennoch bemühen; wie ich es
in meinem neusten Buch mit dem Titel "Um Hoffnung kämpfen" geschrieben
habe. Man muss um Hoffnung kämpfen, dass es doch zu einem friedlichen
Miteinander kommt. In Israel haben mehr als 1000 Menschen demonstriert
gegen den Krieg, gegen die israelische Aggression. Das ist nicht
hinreichend, es sind zu wenige, viel zu wenige, aber dennoch ist es ein
Zeichen. Und die öffentliche Meinung der Welt hat auch etwas zu sagen.
Das ist eine kolossale Macht. Die Politiker sind eine kolossale
Enttäuschung, aber die Weltmacht der öffentlichen Meinung hat etwas zu
sagen, und diese Weltmacht sagt bereits jetzt: Genug!
MM: Sie sind auch Rechtsanwältin und
haben an mehreren deutschen Hochschulen gelehrt. Können Sie sich
vorstellen, dass eines Tages irgendjemand für dieses Massaker zur
rechtlichen Verantwortung gezogen wird oder gezogen werden muss?
Langer: Ich habe schon seit langem
gesagt, noch lange vor den aktuellen Ereignissen, dass viele unserer
führenden Persönlichkeiten in Israel und die Generäle und auch der
(Verteidigungsminister) Barak, ja insbesondere der Barak, an den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehören. Sie sollte dort
angeklagt und abgeurteilt werden für ihre Kriegsverbrechen, das vertrete
ich schon seit langem. Denn schließlich ist die ungesetzliche Tötung
nichts anderes als Mord und das ist rechtswidrig. Sie haben es verdient
angeklagt zu werden. Und gemäß dem, wie ich das Völkerrecht verstehe,
und wie ich es auch in Bremen und Kassel unterrichtet habe, handelt es
sich hier eindeutig um völkerrechtwidrige Handlungen. Selbst wenn man
über das Recht auf Selbstverteidigung spricht - und ich will and dieser
Stelle betonen, dass ich gegen die Raketen bin, die man aus dem Gaza
abfeuert - aber selbst wenn man über Selbstverteidigung spricht, so gibt
es so etwas wie eine Verhältnismäßigkeit. Und hier wurden allein in den
ersten neun Stunden 100 Tonnen an Bomben abgeworfen auf Gaza. Das ist
ein Gemetzel, das ist ein Massaker, dass kann man nicht anders nennen.
Und für ein Massaker muss jemand die Verantwortung tragen. Ich hoffe,
dass selbst wenn ich es nicht mehr miterleben sollte, eines Tages jemand
zur Rechenschaft gezogen wird. Das wichtigste ist, dass man seine Schuld
bekennt, und das allerwichtigste ist, dass man jetzt aufhört, denn das
Blut fließt weiter, während wir hier sprechen.
MM: Manche Schreiber in der Presse geben
alleine der Hamas die Schuld an dem Massaker. Was entgegen sie denen,
die möchten, dass Israelis ohne Angst vor Raketenbeschuss im Süden
Israels leben können?
Langer: Wenn man ohne Angst leben will,
dann muss man Frieden schließen, muss man die Besatzung beenden, muss
man die Unterdrückung beenden, muss man diese schreckliche Blockade des
Gaza beenden, die eineinhalb Millionen Menschen stranguliert. Erst dann
kann man in Frieden leben. Man kann nicht in Frieden leben, wenn die
anderen nicht einmal die Luft zum Atmen haben. Jedes Land hat das Recht
auf Frieden. Alles, was sich gegen Zivilisten richtet, ist rechtswidrig,
auch diese Raketen aus dem Gaza; das sage ich auch. Aber wenn man
Menschen in solch einem Käfig hält, in einem kolossalen Gefängnis, in
einem kolossalen Ghetto, für Monate und länger, total blockiert, ohne
geeignete medizinische Hilfe - noch vor den Bomben sind 260 Menschen
gestorben, weil sie keine adäquate medizinische Hilfe bekommen haben -
muss man sich nicht wundern. Denn die Menschen im Gaza wollen etwas tun,
auch wenn es kontraproduktiv ist und für mich sind jene Raketen aus dem
Gaza auch nicht legitim. Aber hierbei muss man verstehen, das Israel die
Kontrolle hat, dass Israel die kolossale Militärmacht ist. Israel hat
diesen Waffenstillstand gebrochen, mindestens seit November, hat
angefangen zu töten, einen nach dem anderen, sechs Palästinenser, und
hat die Palästinenser provoziert. Hamas war doch bereit zu dem
Waffenstillstand, aber eine Bedingung war doch auch, dass man die
Übergänge öffnet. Was ist das für ein Waffenstillstand, wenn die
Übergänge nicht geöffnet sind, obwohl das eine Bedingung des
Waffenstillstandes und vereinbart war? Man hätte durchaus verhandeln
können, und man hätte zu einem vernünftigen Schluss kommen können. Aber
sie wollten das nicht. Sie wollen nur die Hamas besiegen, sie wollen
vollendete Tatsachen schaffen. Sie wollen eine vollständige Kapitulation
des Volkes in Palästina erreichen. Diese israelische Regierung will
keinen Frieden.
MM: Aber der israelische
Verteidigungsminister Barak vergleicht Hamas mit al-Qaida und der RAF in
Deutschland und will daher mit ihnen nicht verhandeln. Was antworten sie
darauf?
Langer: Das ist derart unsinnig, dass es
sich bereits als kolossale Lüge im Irak erwiesen hat. Sie wollen die
gleiche Legitimierung und gleiche Täuschung wiederholen, was schon ein
wenig primitiv ist. Jeder, der etwas von Politik versteht, weiß, wie
weit al-Qaida und auch RAF von Hamas entfernt ist. Man darf nicht
übersehen, dass die Hamas das so genannte Papier der palästinensischen
Gefangenen in israelischen Gefängnissen unterschrieben hat, und darin
ist von der Zwei-Staaten-Lösung die Rede. Es gibt viele Menschen in der
Hamas, die pragmatisch denken. Man muss mit den Menschen reden. Aber die
israelischen Verantwortlichen wollen nicht sprechen, und daher wäre es
total unsinnig die alleinige Verantwortung der Hamas zuzuschreiben.
MM: Kommen wir nach Deutschland. Sowohl
Bundeskanzlerin Merkel als auch der Außenminister Steinmeier haben sich
uneingeschränkt hinter die Aktionen Israels gestellt. Ist das eine Hilfe
für Israel?
Langer:
Nein, auf keinen Fall. Denn wer ein Freund Israels ist, muss jetzt
warnen, muss jetzt aufschreien, muss Israel dazu bewegen, dass die
Offensive beendet wird. Denn das Ganze erweckt einen abgrundtiefen Hass
in der gesamten arabischen und islamischen Welt. Das ist doch etwas
Schreckliches. Wenn man sich schon gegen Extremismus wendet, dann muss
man doch feststellen, dass die gegenwärtigen israelischen Aktionen den
Extremismus nur verschärfen. Deshalb muss man Israel warnen, muss man
Israel verurteilen, muss man Israel abbringen von diesen Taten.
Schließlich ist Israel die viertgrößte Militärmacht der Welt. Und diese
bedingungslose, verblendet Unterstützung ist auch ein Fluch für uns
Israelis und auch eine Katastrophe für Israel, nicht nur für die
Palästinenser.
MM: Liegt hier nicht auch eine große
Gefahr für das deutsche Rechtssystem vor, wenn die obersten
Repräsentanten des Staates derart massiv und einseitig Verbrechen an der
Menschlichkeit befürworten?
Langer: Ich äußere mich nicht zur
Beurteilung innerhalb des deutschen Rechtssystems, aber es liegt
eindeutig ein israelischer Verstoß gegen das Völkerrecht vor, und die
deutsche Unterstützung ist ebenfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
MM: Unsere Wahrnehmung aus hunderten von
Mails und viele Gesprächen der letzten Tage verdeutlicht, dass die
Bevölkerung in Deutschland anders denkt als ihre politische Elite und
ihrer Schreiber in den Massenmedien. Wie aber kann die Volksmeinung
deutlicher ausgedrückt werden?
Langer: Ja, ich stimme vollständig mit
Ihnen überein, weil ich an vielen Veranstaltungen aufgetreten bin, auch
vor diesem Angriff, und dabei festgestellt habe, dass die Bevölkerung
anders denkt als die Politiker und viel kritischer ist. Man muss Briefe
an Politiker und die Medien schreiben, man muss an Mahnwachen
teilnehmen, man muss klar und unmissverständlich gegenüber den
Politikern ausdrücken, dass so etwas nicht zu unterstützen ist, dass es
weder zugunsten von Deutschland noch zugunsten von Israel und schon gar
nicht zugunsten von Palästinensern ist, was dort geschieht. Man muss den
Weltfrieden schützen. Und Deutschland ist ein Unterzeichner der vierten
Genfer Konventionen in dem eine Klausel darauf hinweist, dass man sich
für ihre Einhaltung einsetzen muss. Wo ist die Bemühung zur Einhaltung
der Genfer Konvention, wenn man solche Dinge, die Israel jetzt macht,
befürwortet? Bis heute morgen gibt es ca. 360 Tote und über tausend
Verletzte. Man attackiert Universitäten, man zerstört alles, was man
zerstören kann. Das ist doch total sinnlos und unmenschlich!
MM: Noch einmal zurück nach Palästina.
Dort fällt es der zumeist verarmten Bevölkerung mit geringer Bildung
immer schwerer zwischen Juden, Israelis, Zionisten und Antizionisten zu
unterscheiden, so dass sie zuweilen pauschal ihren Hass gegen Juden
ausdrücken. Was kann man tun, um diese Gefahr des Antisemitismus zu
überwinden?
Langer: Das ist eine wichtige Frage.
Sicher ist das, was Israel macht, kontraproduktiv und erweckt Hass,
einen abgrundtiefen Hass. Daher muss man auch das andere Israel zeigen,
das andere Gesicht von Juden und es gibt solche! Es gibt sie in Israel,
in Österreich in den USA, auch hier in Deutschland. Ich bin auch eine
Jüdin und bin Israelin. Ich akzeptiere nicht, dass man nicht versteht,
dass solche Aktionen zwangsläufig Antisemitismus erwecken, es erweckt
antijüdische Gefühle, das ist doch klar. Für mich ist und bleibt das
Wichtigste, die Besatzung zu beenden. Denn die Besatzung der Gebiete,
die nach 1967 besetzt wurden, und die Besiedlung der Gebiete und die
Blockade des Gaza-Streifens und die israelische Herrschaft über die
Menschen in Gaza, als wenn sie Gefangene oder Geiseln wären, ist so eine
eklatante Verletzung der Menschenrechte, dass es nur Empörung
hervorrufen kann. Das muss man stoppen. Und falls wir Frieden wollen,
und die Bevölkerung in Israel hat ein Recht auf Frieden, dann muss man
auch die Rechte der anderen respektieren.
MM: In jeder Krise steckt auch eine
Chance und eine Hoffnung, welche Hoffnungen haben Sie heute?
Langer: Es ist jetzt in diesen
Momenten schwer eine Hoffnung zu erkennen, während man von einer
Invasion spricht. Und heute habe ich gehört, dass sehr ernsthaft über
den Einsatz von Bodentruppen nachgedacht wird. Aber es könnte sein, dass
die Wahrheit, die traurige Wahrheit über die israelische Übermacht, den
Menschen die Augen öffnen wird, und dadurch eine Bewegung zustande
kommt, die Druck auf Israel ausübt. Ich plädiere für solch eine Bewegung
der Solidarität mit den Palästinensern und den israelischen
Friedenskräften gemeinsam in der ganzen Welt, wie einstmals gegen die
Apartheid in Südafrika. Es könnte sein, dass diese schreckliche
Tragödie, die wir jetzt erleben, den Menschen verdeutlicht, dass solch
eine Bewegung die einzige Lösung ist, um dieses grausame Blutvergießen
zu beenden und die Gewaltspirale zu durchbrechen.
MM: Das hoffen wir mit Ihnen Frau
Langer, und vielen Dank für das Interview.
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