Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Hermann Scheer
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Hermann Scheer, Träger des Alternativen Nobelpreises

22.8.2008

Hermann Scheer (Jg. 1944) ging nach dem Abitur als Soldat auf Zeit zur Bundeswehr und wurde 1966 Leutnant. Es folgte ein Studium der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie der Politikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Freien Universität Berlin, eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Stuttgart und als Wissenschaftlicher Mitarbeit am Kernforschungszentrum Karlsruhe. 1979 erfolgte an der FU Berlin seine Promotion zum Dr. rer. pol..

Scheer ist seit 1965 Mitglied der SPD und gehört seit 1993 dem Bundesvorstand an. Seit 1980 ist der Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 1983 gehört er der Parlamentarischen Versammlung des Europarates an.

Im Deutschen Bundestag fiel er vor allem als Initiatoren vieler Gesetze zur Förderung erneuerbarer Energien auf. Er ist zudem Vorsitzender des Internationalen Parlamentarier Forums für Erneuerbare Energien.

Seit Juni 2001 ist Scheer ehrenamtlicher Vorsitzender des neu gegründeten Weltrats für Erneuerbare Energien (World Council for Renewable Energy, WCRE).

Sein Engagement in diesem Bereich brachte ihm zahlreiche Auszeichnungen ein, darunter der Weltpreis für Solarenergie (1998), der Weltpreis für Bio-Energie (2000), der Weltpreis für Windenergie, der Global Renewable Energy Leadership Award (alle 2004) und der Solar World Einstein Award (2005). Seine größte Auszeichnung aber dürfte der 1999 erhaltene Right Livelihood Award sein, der so genannte "Alternative Nobelpreis".

Seine zahlreichen Schriften drehen sich neben seinem Spezialthema Energiepolitik auch um Fragen des Friedens, der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs. Er ist zudem Herausgeber der Zeitschriften Zeitschrift für Neues Energierecht (ZNER) und Solarzeitalter (SZA) sowie des Yearbook of Renewable Energies.

Hermann Scheer ist verheiratet, hat ein Kind und lebt in Baden-Württemberg.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Scheer, ihre Dissertation vor fast 30 Jahren trägt den Titel "Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie". Waren Sie ein Hellseher, oder war die Situation bereits damals so wie heute?

Dr. Scheer: Für mich war sie voraussehbar, wie das Buch ja belegt. Ich habe die wachsende Entfremdung zwischen Bürgern und Parteien beschrieben, die alle Parteien erfasst, wenn sie sich alle nur unzureichend den absehbaren existenziellen Herausforderungen stellen, etwa der Energie- und Umweltkrise.

MM: Eines der Themen, mit denen sich fast alle Bevölkerungsgruppen aller Nationen in Europa wenig anfreunden können ist die europäische Verfassung. Sie selbst haben sich bei der entsprechenden Abstimmung im Bundestag enthalten, warum?

Dr. Scheer: Ich habe mich enthalten, weil ich dagegen war, das neoliberale Wirtschaftsprinzip – die uneingeschränkte Freiheit von Waren, Kapital und Dienstleistungen – zum obersten Verfassungsgrundsatz zu machen.

MM: Ein weiteres Thema der Diskrepanz zwischen Volk und politischen Verantwortungsträger ins die "Bürgerbahn statt Börsenbahn". Was haben Sie gegen Privatisierung?

Dr. Scheer: Infrastrukturen zur Daseinsvorsorge aller gehören nicht in die private Hand. Hier dürfen nicht nur Renditeüberlegungen eine Rolle spielen.

MM: Damit gelangen wir dann zu Ihrem Spezialfach, der Energiepolitik. Da die Welt es kaum verkraften würde, wenn alle Menschen so viel Ressourcen verbrauchen, wie wir es in Deutschland tun, müssten dann nicht verantwortungsvolle Politiker uns langsam aber sicher darauf vorbereiten, dass wir in einer gerechteren Welt etwas von unserem Wohlstand einbüßen werden müssen?

Dr. Scheer: Das wäre nur der Fall, wenn wir an den erschöpflichen und zugleich umweltschädigenden atomaren und fossilen Energien kleben bleiben. Dann wird alles knapper und teurer, und am Ende steht die soziale, wirtschaftliche, ökologische und damit gesamtpolitische Katastrophe.

Wenn wir zu erneuerbaren Energien wechseln, und das schnell und umfassend, ist Wohlstand für alle Erdenbürger möglich.

MM: Ist der Verbrauch von Ressourcen nicht auch eine Frage des Wirtschaftssystems. Kann eine Energiewirtschaft, die auf Gewinnmaximierung und Wachstum ausgerichtet ist, sich realistischerweise jemals dafür einsetzen, dass Energie gespart und damit weniger Energie "verkauft" wird?

Dr. Scheer: Dafür wird dann Technik verkauft, mit der wir die erneuerbaren Energien nutzen. Es kommt ein umfassender Strukturwandel der Wirtschaft.

MM: Ihr ehemaliger Bundestagskollege Heiner Geißler von der CDU hat jüngst in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung behauptet, dass der Kapitalismus genau so falsch sei, wie der Kommunismus. Müssen Sie jetzt befürchten, neben der Linken auch noch von der CDU links überholt zu werden? Oder anders ausgedrückt: Welche Konzepte hat die SPD grundlegender Art, um der zunehmend empfundenen Ungerechtigkeit in der Gesellschaft entgegen zu wirken?

Dr. Scheer: Geißler hat Recht. Aber er spricht längst nicht mehr für die CDU. Die ist von einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft – einem sozialen und ökologischen Kapitalismus – weiter weg als die SPD – wenn auch nicht ganz so weit weg wie die FDP.

MM: Sprechen Sie denn für die SPD, und müsste es nicht eine über starre Parteigrenzen hinwegreichende Koalition der Vernünftigen bezüglich Energiepolitik geben?

Dr. Scheer: Ich spreche nur bedingt für die SPD, aber ich spreche als Sozialdemokrat. Mit meinen Vorschlägen rege und treibe ich an, um sie zu SPD-Beschlüssen werden zu lassen. Viele Vorschläge haben sich durchgesetzt, manche früher, manche später. Aber einige auch (noch) nicht – oder außerhalb der SPD. Eine Koalition der Vernünftigen ist erstrebenswert und auch erreichbar, aber ein Konsens unter allen sicher nicht, weil massive Interesse dagegen stehen.

MM: Energiepolitik könnte auch gleichzeitig Friedenspolitik sein, wie an aktuellen Negativbeispielen erkennbar; warum findet dieser Aspekt der Energiepolitik so wenig Resonanz in der deutschen Politik?

Dr. Scheer: Das ist nichts als Verdrängung, weil man der Wahrheit nicht ins Auge sehen will. Man will Ressourcen ohne schlechtes Gewissen verbrauchen.

MM: Letzte Frage: Wie könnte man die teilweise vergeudete Energie, die in den "Kampf der Kulturen" gesteckt wurde, besser nutzen, damit sich die Kulturen gemeinsam und Hand in Hand für ein friedvolle und gerechtere Energiewirtschaft der Zukunft engagieren?

Dr. Scheer: John Rockefeller, der erste und bekannteste aller Ölmagnaten, sprach einmal vom Erdöl als "Tränen des Teufels". Ohne die selbstsüchtigen Ölinteressen der Industrieländer gäbe es heute den "Kampf der Kulturen" nicht. Der arabische Raum wurde nach der Auflösung des osmanischen Reiches staatlich nach Ölinteressen gestaltet. Im Iran wurde der Sozialreformer Mossadegk Anfang der der 50er Jahre durch ein amerikanisch-britisches Ölexport-Embargo zu Fall gebracht, weil er die Öleinnahmen für das eigene Land haben wollte. Wäre es erfolgreich gewesen, so hätte Ende der 70er Jahre der islamische Fundamentalismus Khomeinis keine Erfolgschance gehabt. Ich bin überzeugt: Durch den Wechsel zu erneuerbaren Energien werden Konflikte und Krieg um Energieressourcen beendet.

MM: Herr Dr. Scheer, wir danken für das Interview.

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