MM:
Sehr geehrter Herr Dr. Scheer, ihre Dissertation vor fast 30 Jahren trägt
den Titel "Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie".
Waren Sie ein Hellseher, oder war die Situation bereits damals so wie heute?
Dr. Scheer:
Für mich war sie voraussehbar, wie das Buch ja belegt. Ich habe die
wachsende Entfremdung zwischen Bürgern und Parteien beschrieben, die alle
Parteien erfasst, wenn sie sich alle nur unzureichend den absehbaren
existenziellen Herausforderungen stellen, etwa der Energie- und Umweltkrise.
MM:
Eines der Themen, mit denen sich fast alle Bevölkerungsgruppen aller
Nationen in Europa wenig anfreunden können ist die europäische Verfassung.
Sie selbst haben sich bei der entsprechenden Abstimmung im Bundestag
enthalten, warum?
Dr. Scheer:
Ich habe mich enthalten, weil ich dagegen war, das neoliberale
Wirtschaftsprinzip – die uneingeschränkte Freiheit von Waren, Kapital und
Dienstleistungen – zum obersten Verfassungsgrundsatz zu machen.
MM:
Ein weiteres Thema der Diskrepanz zwischen Volk und politischen
Verantwortungsträger ins die "Bürgerbahn statt Börsenbahn". Was haben Sie
gegen Privatisierung?
Dr. Scheer:
Infrastrukturen zur Daseinsvorsorge aller gehören nicht in die private Hand.
Hier dürfen nicht nur Renditeüberlegungen eine Rolle spielen.
MM:
Damit gelangen wir dann zu Ihrem Spezialfach, der Energiepolitik. Da die
Welt es kaum verkraften würde, wenn alle Menschen so viel Ressourcen
verbrauchen, wie wir es in Deutschland tun, müssten dann nicht
verantwortungsvolle Politiker uns langsam aber sicher darauf vorbereiten,
dass wir in einer gerechteren Welt etwas von unserem Wohlstand einbüßen
werden müssen?
Dr. Scheer:
Das wäre nur der Fall, wenn wir an den erschöpflichen und zugleich
umweltschädigenden atomaren und fossilen Energien kleben bleiben. Dann wird
alles knapper und teurer, und am Ende steht die soziale, wirtschaftliche,
ökologische und damit gesamtpolitische Katastrophe.
Wenn wir zu erneuerbaren Energien wechseln, und das schnell und umfassend,
ist Wohlstand für alle Erdenbürger möglich.
MM:
Ist der Verbrauch von Ressourcen nicht auch eine Frage des
Wirtschaftssystems. Kann eine Energiewirtschaft, die auf Gewinnmaximierung
und Wachstum ausgerichtet ist, sich realistischerweise jemals dafür
einsetzen, dass Energie gespart und damit weniger Energie "verkauft" wird?
Dr. Scheer:
Dafür wird dann Technik verkauft, mit der wir die erneuerbaren Energien
nutzen. Es kommt ein umfassender Strukturwandel der Wirtschaft.
MM:
Ihr ehemaliger Bundestagskollege Heiner Geißler von der CDU hat jüngst in
einem Interview in der Süddeutschen Zeitung behauptet, dass der Kapitalismus
genau so falsch sei, wie der Kommunismus. Müssen Sie jetzt befürchten, neben
der Linken auch noch von der CDU links überholt zu werden? Oder anders
ausgedrückt: Welche Konzepte hat die SPD grundlegender Art, um der zunehmend
empfundenen Ungerechtigkeit in der Gesellschaft entgegen zu wirken?
Dr. Scheer:
Geißler hat Recht. Aber er spricht längst nicht mehr für die CDU. Die ist
von einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft – einem
sozialen und ökologischen Kapitalismus – weiter weg als die SPD – wenn auch
nicht ganz so weit weg wie die FDP.
MM:
Sprechen Sie denn für die SPD, und müsste es nicht eine über starre
Parteigrenzen hinwegreichende Koalition der Vernünftigen bezüglich
Energiepolitik geben?
Dr. Scheer:
Ich spreche nur bedingt für die SPD, aber ich spreche als Sozialdemokrat.
Mit meinen Vorschlägen rege und treibe ich an, um sie zu SPD-Beschlüssen
werden zu lassen. Viele Vorschläge haben sich durchgesetzt, manche früher,
manche später. Aber einige auch (noch) nicht – oder außerhalb der SPD. Eine
Koalition der Vernünftigen ist erstrebenswert und auch erreichbar, aber ein
Konsens unter allen sicher nicht, weil massive Interesse dagegen stehen.
MM:
Energiepolitik könnte auch gleichzeitig Friedenspolitik sein, wie an
aktuellen Negativbeispielen erkennbar; warum findet dieser Aspekt der
Energiepolitik so wenig Resonanz in der deutschen Politik?
Dr. Scheer:
Das ist nichts als Verdrängung, weil man der Wahrheit nicht ins Auge sehen
will. Man will Ressourcen ohne schlechtes Gewissen verbrauchen.
MM:
Letzte Frage: Wie könnte man die teilweise vergeudete Energie, die in den
"Kampf der Kulturen" gesteckt wurde, besser nutzen, damit sich die Kulturen
gemeinsam und Hand in Hand für ein friedvolle und gerechtere
Energiewirtschaft der Zukunft engagieren?
Dr. Scheer:
John Rockefeller, der erste und bekannteste aller Ölmagnaten, sprach einmal
vom Erdöl als "Tränen des Teufels". Ohne die selbstsüchtigen Ölinteressen
der Industrieländer gäbe es heute den "Kampf der Kulturen" nicht. Der
arabische Raum wurde nach der Auflösung des osmanischen Reiches staatlich
nach Ölinteressen gestaltet. Im Iran wurde der Sozialreformer Mossadegk
Anfang der der 50er Jahre durch ein amerikanisch-britisches Ölexport-Embargo
zu Fall gebracht, weil er die Öleinnahmen für das eigene Land haben wollte.
Wäre es erfolgreich gewesen, so hätte Ende der 70er Jahre der islamische
Fundamentalismus Khomeinis keine Erfolgschance gehabt. Ich bin überzeugt:
Durch den Wechsel zu erneuerbaren Energien werden Konflikte und Krieg um
Energieressourcen beendet.
MM:
Herr Dr. Scheer, wir danken für das Interview.
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