MM: Sehr geehrter Herr Baum, sie bezeichnen
sich selbst als "Anhänger des Konzepts der Liebe zu Gott und der Liebe zu
allen Menschen". Wie kann dieses Konzept in unsere Zeit dazu beitragen, das
Leid im Heiligen Land zu lindern?
Baum: Nach meiner Meinung, wenn die Menschen
auf den beiden Seiten die Liebe zu Gott und zu allen Menschen
verinnerlichen, sind keine Kriege möglich. Deswegen bin ich dafür, dass die
Juden (die Israelis auch) und die Araber sich der Wichtigkeit dieser Liebe
bewusst werden. Und es gibt alle Voraussetzungen für diese Liebe: Unsere
Religionen sind sehr ähnlich sowie unsere Sprachen (Arabisch und Hebräisch).
Durch die Verwirklichung dieser Liebe kann man das Leid im Heiligen Land
lindern.
MM: Sie sind Vorbeter und Mitglied bei
"Egalitäre Jüdische Chawurah Gescher e. V." Können Sie unseren Lesern
zunächst erläutern, was der Name des eingetragenen Vereins bedeutet und
wofür er steht?
Baum:
"Egalitär" bedeutet, dass die Frauen und die Männer vollkommen
gleichberechtigt sind. Unser Verein ist Vertreter des liberalen Judentums.
Im Unterschied zum orthodoxen Judentum haben die Frauen bei uns die gleichen
Rechte wie die Männer. Sie können zur Tora aufgerufen werden und
Rabbinerinnen werden. Außerdem setzt sich das liberale Judentum für die
Liebe zu allen Menschen ein. Deswegen wurden einige Gebete bei uns geändert.
Man betet nicht mehr gegen so genannte Häretiker und Feinde, sondern man
betet darum, dass das Böse aus der Welt verschwindet. Mehr Informationen zum
liberalen Judentum finden Sie unter:
www.liberale-juden.de
MM: So sehr ein von aktuellen Ereignissen
unabhängiger Dialog zwischen praktizierenden Juden und praktizierenden
Muslimen notwenig ist, so sehr wird jener Dialog heute überschattet von den
Ereignissen im Gaza-Streifen. Kann unter solchen Umständen ein Dialog
überhaupt möglich sein?
Baum: Ich bin
davon überzeugt, dass dieser Dialog möglich ist. Ich weiß, dass sich viele
Israelis für den Frieden einsetzen. Und ich bin sicher, dass es auf der
muslimischen Seite Menschen gibt, die den Frieden mit Israel befürworten.
Unsere Aufgabe besteht darin, die Anzahl dieser Menschen durch den Aufruf
zur Nächstenliebe zu vergrößern.
MM: Die Stimme des Judentums in Deutschland
artikuliert sich im Öffentlichen Raum sehr dominant vom Zentralrat der Juden
in Deutschland, welche israelische Politiker und Politik grundsätzlich von
jeglicher Schuld frei spricht. Obwohl gerade der Muslim-Markt sich darüber
in Klaren ist, dass jene Stimme nicht repräsentativ ist, so stellt sich
dennoch die Frage, warum alternative jüdische Stimmen nur so leise zu hören
sind.
Baum: Es gibt
alternative jüdische Stimmen. Diese Juden rufen zum Frieden auf. Es ist aber
klar, dass im Krieg eher die Stimmen auf den beiden Seiten lauter sind, die
ihn befürworten. Unsere Aufgabe, wie gesagt, besteht darin, die Herzen aller
Menschen vom Hass zu reinigen und zur Liebe zu bringen.
MM: Können Sie sich denn vorstellen, dass
Juden, Christen und Muslime eines Tages gleichberechtigt und gemeinsam im
Heiligen Land leben und nicht in irgendwelchen umzäunten Enklaven?
Baum: Das kann
ich mir durchaus vorstellen. Es gibt bereits ein gutes Beispiel: die
israelischen Araber. Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen. Sie sind
stolz, dass sie die israelische Staatsangehörigkeit haben. Sie haben auch
viele israelische jüdische Freunde. Wenn der Krieg vorbei ist - und ich
hoffe, dass diese Zeit unbedingt kommt! -, wird das Zusammenleben aller
Menschen im Heiligen Land viel besser sein.
MM: Aber alle drei im Parlament vertretenen
arabischen Parteien sind von den nächsten Wahlen ausgeschlossen worden, dass
kann doch auch einen Befürworter Israels nicht entgangen sein, genau so
wenig, wie die Diskriminierung , die sie im Land erleben. Und was soll
geschehen, wenn demographisch mehr Nichtjuden im Land leben?
Baum: So viel ich weiß, haben die arabischen
Parteien an den Wahlen teilgenommen. Das, was Sie sagen (dass sie von den
nächsten Wahlen ausgeschlossen worden sind) ist mir neu. Wenn das der Fall
ist, wäre ich dafür, dass sie an den Wahlen als gleichberechtigte Bürger
Israels teilnehmen. Die Diskriminierung, die, wie Sie sagen, die
israelischen Araber erleben, muss verschwinden. Aber, wie gesagt, habe ich
in Israel Araber getroffen, die sich nicht über die Diskriminierung beklagt
haben. Ich bin dafür, dass die Juden und die Araber sich gegenseitig lieben,
besonders im Staat Israel. Dass demographisch mehr Nicht-Juden im Land
leben, kann ich mir noch nicht vorstellen, da die Juden jetzt eine deutliche
Mehrheit in Israel darstellen. Ich bin aber dafür, dass die jüdische
Mehrheit alle Minderheiten mit Liebe und respektvoll behandelt.
MM: In Ihren Gedichten kommt eine Sprache
der Liebe zu Gott zum Ausdruck, die sehr vergleichbar ist, mit der Mystik im
Christentum und im Islam. Warum fällt es Ihrer Meinung nach, sowohl Juden
als auch Anhängern der anderen Religionen so schwer zu erkennen, dass Gott
seinen Thron bzw. Tempel im Herzen eines Gottesehrfürchtigen erbaut, und
evtl. der Andersgläubige Gott näher sein könnte?
Baum: Alle
Religionen haben leider fundamentalistische Aspekte. Deswegen ist es für
ihre Anhänger schwierig sich vorzustellen, dass die Andersgläubigen
genau so nah an Gott sein können. Unsere Aufgabe besteht unter anderem
darin, den Menschen zu zeigen, dass sie alle Brüder sind. Alle
religiösen Menschen sollen andere Religionen in ihrem guten Kern
anerkennen. Dafür ist der interreligiöse Dialog sehr wichtig.
MM: Da Sie selbst praktizierender Jude sind,
erlauben Sie uns eine kritische Frage, die aus muslimischer Sicht dieser
Tage im Schleier des Nebels einer Propaganda kaum noch verstanden wird: Wie
definieren Sie eigentlich den Begriff "Jude" und kann z.B. ein Antizionist
auch Jude sein?
Baum: Jude
ist derjenige, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum
Judentum übergetreten ist. Sicherlich kann auch ein Antizionist Jude
sein. Das Paradebeispiel ist die orthodoxe jüdische Sekte "Neturj Karta."
Aber das ist eine kleine Minderheit im Judentum. Die meisten Juden
verstehen die Wichtigkeit des Staates Israel. Aber nach meiner Meinung
soll Israel ein Vorbild für die Nächstenliebe sein, und ich hoffe, dass
diese Zeit kommt. Ich bin für die Existenz zweier Staaten: Israel und
Palästina, die in brüderlicher Liebe zusammenleben.
MM: Damit sind wir aber beim Kernproblem
angelangt. Wenn Sie also gegen einen gemeinsamen demokratischen Staat
sind, wie sollen dann die Palästinenser getrennt auf drei Gebiete - zwei
davon als eigener Staat, die aber nicht miteinander zusammen hängen, ein
funktionierendes Staatswesen aufbauen? Und wie soll es möglich sein,
Nächstenliebe vorzuleben, wenn man den Nächsten, den man vertreiben hat,
sein Rückkehrrecht in seine Heimat verweigert?
Baum: Ich
bin, wie gesagt, für die Zwei-Staaten-Lösung. Wenn das verwirklicht ist,
so wird es vor allem um zwei von einander getrennte Gebiete gehen, auf
denen die Palästinenser leben werden: Gaza-Streifen und
West-Jordan-Land, da in Israel israelische Araber als gleichberechtigte
Bürger leben werden. Diese zwei Gebiete kann man mit Autobahnen
verbinden, oder es gibt vielleicht andere Lösungen. Was das
Rückkehrrecht für die Palästinenser betrifft, so ist es wirklich ein
schwerwiegendes Problem. Ich hoffe, wenn der Friede herrscht, kann man
dieses Problem lösen. Nichts darf die Existenz zweier Staaten gefährden.
MM: Ein weiterer Teil der Problematik
steckt im Selbstverständnis des Staates Israel. Wen Sie letztendlich
behaupten, dass die Mehrheit der Juden der Welt sich als Israelis
fühlen, selbst wenn sie z.B. Franzosen, Isländer oder Australier sind,
dann wäre eine bekenntnisbezogene Identität gekoppelt an eine nationale
Identität, wodurch alle anderen, die nicht das gleiche Bekenntnis
hätten, nicht gleichberechtigte Bürger sein könnten. Steckt nicht genau
in dieser Fragestellung das Dilemma? Und wenn Sie einerseits loben, dass
muslimische oder christliche Araber und z.B. jüdische Araber gemeinsam
in Israel leben können, warum sollte das dann nicht für alle Bürger
möglich sein, also allen einheimischen Juden, Christen und Muslimen zu
ermöglichen, in einem gemeinsamen Land zu leben? Wie sie dann das Land
letztendlich nennen ist dann doch deren Sache. Baum:
Ich behaupte nicht, dass die Mehrheit der Juden der Welt sich als
Israelis fühlen. Ich habe lediglich gesagt, dass für die Mehrheit der
Juden die Existenz des Staates Israel wichtig ist. Was den gemeinsamen
Staat anbetrifft, so kann ich Folgendes sagen: Israel ist der einzige
Staat auf der Welt, in dem die jüdische Identität zentral ist. Die Juden
haben dort ihre Sprache (Hebräisch) wiederbelebt und sind zu ihren
Wurzeln zurückgekehrt. Das ist also das kulturelle Zentrum für die Juden
auf der ganzen Welt. So wie viele arabische Staaten ihre arabische
Identität bewahren möchten, möchten auch die Juden ihre jüdische
Identität in Israel wahren. Aber ich bin dafür, dass der jüdische Staat
und arabische Staaten in brüderlicher Liebe neben einander leben. Die
hebräische und die arabische Kulturen können sich gegenseitig
bereichern.
MM: Herr Baum, wir danken für das
Interview. |