MM: Sehr
geehrter Herr Dr. Muneer Deeb, warum musste Ihr Vater 1948 aus Yavni
fliehen?
Dr. Deeb: Mein Großvater lebte mit
seinen seinen sechs Kindern als Landwirt im Dorf Yavni im Süden
Palästinas. Er besaß neben Orangenplantagen Ackerland, auf dem Getreide
angebaut wurde. Wie Sie wissen, verübten zionistische Terrorgruppen 1948
Massaker gegen mehrere palästinensische Dörfer. Wegen veralteter Waffen
und fehlender Unterstützung von Außen auf der einen und wegen der damals
sehr guten Bewaffnung der Zionisten auf der anderen Seite konnten die
Palästinenser ihre Dörfer nicht mehr verteidigen. So waren sie
gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen in der Hoffnung, bald zurückkehren
zu können. Mein Vater, damals zwöf Jahre alt, floh vor der Gewalt mit
seiner Familie nach Gaza.
MM: Wie sind Ihre eigenen Kindheitserinnerungen
an Palästina?
Dr. Deeb: Ich bin in einem
Flüchtlingslager geboren und aufgewachsen. Wir lebten als 16-köpfige
Familie in einem von der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für
Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) errichteten Haus. Ich musste ein
Zimmer mit vier meiner Brüder teilen. Damals gab es in Gaza noch viele
Orangen- und Olivenplantagen in den umliegenden Dörfern. Als Schüler
verbrachten wir viel Zeit dort. Schatten suchten wir an heißen Tagen
unter alten riesigen Feigenbäumen. Da es keine Sportplätze gab, spielten
wir Fußball oder Volleyball auf der Straße oder sandigen Freiflächen.
Schon ab meinem 10. Lebensjahr musste ich nach der Schule meinem Vater
im Geschäft helfen. In der Gymnasiumszeit hatten wir sehr schöne
Erinnerungen an den Strand des Gaza-Streifens. Der fast leere saubere
Strand mit seinem feinen weißen Sand war unser Lieblingsort, um uns auf
die Prüfungen vorzubereiten. Abkühlungsbäder boten immer wieder
erholsame Pausen. An weitere Teile Palästinas kann ich mich nur durch
Schulreisen, die viel zu selten durchgeführt wurden, erinnern. Jerusalem
und Hebron zu besuchen war ein ewiger Traum. Auch der Norden mit seiner
zauberhaften Natur ist unbeschreiblich.
Leider bleiben auch weniger erfreuliche
Erinnerungen im Gedächtnis. Mehrmals stürmten die israelischen Soldaten
nachts unser Haus und verschleppten meinen Vater oder meinen älteren
Bruder. Wir lebten mit der Angst vor israelischen Soldaten, die einen
Stützpunkt im Flüchtlingslager hatten, an dem wir auf dem Weg zur und
von der Schule vorbeigehen mussten. Israelische Patrouillen marschierten
regelmäßig durch die engen Gassen des Flüchtlingslagers und verbreiteten
Angst und Schrecken.
MM: Wie sind Sie dann Arzt in
Deutschland geworden?
Dr. Deeb: Nach dem Erlernen der
deutschen Sprache am Goethe-Institut und an der Uni Köln studierte ich
13 Semester Humanmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Während des Studiums führte ich meine 1. Dissertation im Bereich der
experimentellen Chirurgie durch. Mein Studium habe ich durch
verschiedene Jobs großteils selbst finanziert. Um die Staatsexamina zu
bestehen, mussten wir uns als ausländische Studenten noch viel mehr als
unsere deutschen Kollegen anstrengen. So waren die Vorbereitungszeiten
deutlich länger und stressiger. Z.T. lernten wir bis zu 15 Stunden am
Tag. Trotzdem konnte ich das Studium der Humanmedizin mit der Note "sehr
gut" abschließen.
Trotz der guten Note war es damals sehr schwer,
eine Stelle zu finden. So nahm ich zunächst eine Stelle als Arzt im
Praktikum und später als Assistenzarzt in der Chirurgie in einem kleinen
Krankenhaus in der Stadt Damme in Niedersachsen an. Dort haben mein
damaliger Chefarzt Dr. Werner Bongarzt und ich die Abteilung wieder
aufgebaut. Nur durch harte Arbeit mit bis zu 13 Stunden am Tag war es
möglich, eine fundierte chirurgische Ausbildung zu erlangen. Nach vier
Jahren habe ich die chirurgischen Standardoperationen beherrscht und
konnte sie selbständig durchführen. Zur Erlangung der Fachkunde "Arzt
für Chirurgie" musste ich nach Berlin in die Parkklinik Weißensee
wechseln.
MM: Wie kam es zu der Idee,
palästinensische Mediziner in Europa zu vernetzen, und was ist daraus
nach wenigen Monaten geworden?
Dr. Deeb: Wenn man sich die
Gesundheitslage der Palästinenser innerhalb und außerhalb Palästinas auf
der einen Seite und die große Zahl hochqualifizierter palästinensischer
Mediziner in europäischen und anderen Ländern anschaut, stellt man sich
die einfache Frage: Was haben diese Mediziner für ihre Landsleute getan?
Die Antwort ist sowohl einfach als auch nachvollziehbar: Wenig, viel zu
wenig! Eine zweite Frage, die man sich stellen muss, lautet: Wo bleibt
der Einfluss palästinensischer Mediziner als Lobby auf die
Gesellschaften, in denen sie leben? Ich bin davon überzeugt, dass wir
als palästinensische Mediziner in Europa die Fähigkeit und die
Möglichkeit dazu besitzen, als einheitliche Lobby unsere Interessen in
Europa und die Interessen unseres Volkes wirksam zu vertreten. Nur durch
die Bündelung aller Kräfte können wir enorm große positive Energien
entfalten, die richtig geplant und gut strukturiert die Gesundheitslage
der Palästinenser auf längere Sicht maßgeblich verbessern.
MM: Wie sind die Erfahrungen knapp ein
Jahr nach der Gründung der deutschen Sektion?
Dr. Deeb: Der Gründung des Vereins
PalMed Deutschland ging eine lange Vorbereitungsphase von gut einem Jahr
voraus. Ein siebenköpfiges Ärzteteam und zwei Juristen haben in
sorgfältiger Arbeit die Ziele definiert und die Satzung erarbeitet. Es
wurden alle Details ausführlich diskutiert und die Konzepte festgelegt.
So war der Weg für die Gründung im Juni 2008 geebnet. Jetzt blicken wir
auf ein die Erwartungen übertreffendes sehr erfolgreiches Jahr zurück.
Manche Skepsis und pessimistischen Prognosen haben sich nicht bestätigt.
Unser Einsatz während des "Gaza-Krieges" und danach war durch klare
Strategie, strukturierte Arbeit und Durchsetzungsgeist ausgezeichnet. So
zeigte unser Konzept gute Wirkung und hohe Effizienz. Das Interesse an
unserem Verein wächst Tag für Tag. Die Mitgliederzahlen steigen
permanent. Wir planen zusammen mit unseren Partnerorganisationen ein
großes Projekt zur Verbesserung der Gesundheitslage in den israelisch
besetzten Gebieten. Die vor uns liegenden Herausforderungen sind immens
groß. Es ist noch viel zu tun. Wir hoffen, die Aufgaben und gesetzten
Ziele in geeigneter Form verwirklichen zu können. Dazu brauchen wir alle
mobilisierbaren medizinischen Kräfte.
MM: Sie waren während des Gaza-Krieges
in Gaza und haben operiert. Bitte schildern Sie uns Ihre Eindrücke
Dr. Deeb: Das können Sie im Einzelnen
meinem Einsatzbericht entnehmen. Er wurde u.a. veröffentlicht auf der
Website der Zeitschrift "Der Semit" unter dem Titel:
"Ein Chirurg als Augenzeuge während des
Gaza-Krieges vom 12.01.2009 bis 20.01.2009".
MM: Die Eindrücke und Bilder, die Sie
schildern und zeigen sind ja an Grausamkeit kaum zu überbieten. Wie
verkraften die Ärzte diese Anblicke, wenn sie gleichzeitig bis an die
Grenzen ihrer Belastbarkeit arbeiten?
Dr. Deeb: Während des Einsatzes im
Gaza-Streifen herrschten unvorstellbare Kriegsbedingungen. Wir sahen Tag
und Nacht Tote und Verletzte, die manchmal scharenweise eingeliefert
wurden. Durch diese Erlebnisse waren wir in einem Ausnahmezustand. Wir
hatten keine Zeit, an uns selbst zu denken. Menschenleben zu retten war
das einzige, was uns beschäftigt hat. Wir hatten auch keine Zeit gehabt,
darüber nachzudenken, ob wir selbst in Gefahr sind oder nicht. Auch nach
unserer Rückkehr hatten wir lange Zeit gebraucht, um unsere Erlebnisse
zu verarbeiten.
MM: Haben Sie nach diesen Eindrücken die
Hoffnung, dass es jemals ein friedliches Miteinander von Juden, Christen
und Muslimen in Palästina geben kann?
Dr. Deeb: Die drei Weltreligionen haben
in der Geschichte mehrfach bewiesen, dass sie zusammenleben können. Nur
durch Gerechtigkeit kann man einen dauerhaften Frieden erreichen.
MM: In wie weit haben Sie Verständnis
dafür, dass deutsche Politiker mit Verweis auf die eigene Geschichte
sich nicht trauen, von Israel Gerechtigkeit einzufordern?
Dr. Deeb: Deutsche Politiker haben
sicher die Berechtigung und die Pflicht, eine ausgewogene Außenpolitik
zu betreiben, ohne deutsche Interessen zu gefährden. Das darf sie aber
nicht davon abhalten, gerade wegen der deutschen Vergangenheit und der
Nazi-Verbrechen sich für das Recht anderer Völker auf Souveränität und
Freiheit einzusetzen. Die deutsche Bundesregierung trägt einen nicht
unbeträchtlichen Anteil des internationalen Friedens. Abgesehen von
direkter oder indirekter Unterstützung der israelischen Politik. Ich
hätte mir gewünscht, dass deutsche Politiker den Mut haben, Opfer von
Tätern in der Öffentlichkeit zu unterscheiden.
MM: Was würden Sie ihrem israelischen
Berufskollegen sagen, der sich um die Traumata der israelischen Kinder
kümmert, die einmal in ihrem Leben den Einschlag einer Katjuscha-Rakete
gehört haben, und was möchten Sie dem deutschen Außenminister sagen, der
Projekte zur seelischen Heilung solcher israelischer Kinder fördert?
Dr. Deeb: Wir als Ärzte sollten uns,
ungeachtet der Nationalität, Hautfarbe, Religion oder ethnischer
Herkunft, für die Linderung menschlichen Leidens einsetzen. Wir haben
jüdische Kollegen, die sich für palästinensische Opfer einsetzen. Ich
erwarte vom Außenminister im Gegenzug eine politische Unterstützung
humanitärer Projekte, die wir für das palästinensische Gesundheitssystem
planen.
MM: Dr. Deeb, wir danken Ihnen für das
Interview. |