MM: Sehr geehrter Herr Dierkes, erlauben Sie
zum Einstieg eine rein persönliche Frage; glauben Sie an Gott?
Dierkes: Seit meiner Jugend gehöre ich
keiner Konfessionsgemeinschaft mehr an. Ich glaube nicht an einen Gott,
respektiere aber den Glauben anderer Menschen und ihre konfessionelle
Aktivität. Ich habe zahlreiche Freunde in den christlichen Kirchen und in
den verschiedenen muslimischen Richtungen. Die Freiheit des religiösen
Bekenntnisses ist für mich ein unumstößlicher demokratischer Grundsatz. Am
Ort habe ich mich z.B. mit meiner Partei dafür eingesetzt, dass die
Großmoschee der DITIB-Gemeinde mit einem interkulturellen Begegnungszentrum
gebaut werden konnte.
MM: Ausgangspunkt für eine hemmungslose
Medienkampagne gegen ihre Person war ihre Kritik an der Politik der
israelischen Regierungen gegen das palästinensische Volk. Was haben Sie
eigentlich so fürchterliches gesagt, dass Sie einer Art öffentlicher
Hexenverbrennung ausgesetzt wurden?
Dierkes: Wie in den vielen Fällen zuvor,
habe ich die kriegerische Aggression der israelischen Regierung und Armee
öffentlich kritisiert. Während des Gaza-Kriegs im Januar habe ich im
Zusammenhang mit dem damaligen "Flaggenstreit" in einem offenen Brief an die
Deutsch-Israelische Gemeinde Duisburg ihre einseitige Haltung kritisiert und
die Legitimität der Anti-Kriegsdemonstrationen verteidigt. Dann hatten wir
eine Veranstaltung des Duisburg-Hamborner Ortsverbands meiner Partei am
18.02.09 mit dem Thema „Palästinensische Realität heute – Wege zu einem
gerechten Frieden in Nahost“. Mein Freund Dr. Rihbi Yousef von der
Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft referierte und die anwesenden, knapp
30 Personen sahen sich den erschütternden Film des palästinensischen
Filmemachers Mehmet Atalar "Die Eiserne Mauer" an. In der Diskussion, was
man denn gegen die schreiende Ungerechtigkeit gegen das palästinensische
Volk tun könne, nahmen viele Stellung, darunter auch unser
Bundestagsabgeordneter und mein langjähriger Freund Hüseyin Aydin. Ich
erwähnte, dass es einen Aufruf der Versammlung der sozialen Bewegungen vom
soeben zuende gegangenen Weltsozialforum im brasilianischen Belém gebe, der
den 30.03. zum Tag der internationalen Solidarität mit dem palästinensischen
Volk proklamiert hat. Als Aktionsformen, um die israelische Politik zu einer
Änderung zu bewegen, werden darin vorgeschlagen; Boykott, Desinvestment,
Sanktionen. Ich fügte hinzu, ich halte diese Maßnahmen für vollkommen
legitim. Jede und jeder könne sich zum Beispiel ganz persönlich entscheiden,
ob er/sie im Supermarkt Obst und Gemüse aus Israel kaufe oder nicht, ich tue
das angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen durch Israel schon
lange nicht mehr.
MM: Was ist danach passiert?
Dierkes: Ein Bericht von der Versammlung
wurde kurze Zeit später auf die Internetseite des Kreisverbands der
Duisburger LINKEN, Ortsverband Hamborn gestellt. Da steht er immer noch. Am
23.02.2009 rief mich ein Journalist der WAZ an und wollte sich bestätigen
lassen, ob ich auf der Veranstaltung zum Boykott israelischer Produkte
aufgerufen habe. Ich bestätigte ihm das, er könne das auf der Internetseite
nachlesen. Außerdem habe das Weltsozialforum dazu aufgerufen. Er fragte
weiter, ob mir denn klar sei, was ein solcher Aufruf in Deutschland bedeute?
Ich antwortete, ich kenne die deutsche Geschichte gut. Ich wisse, dass die
Nazis aufgerufen hätten, „Deutsche, kauft nicht bei Juden“. Wenn man einen
Boykottaufruf entsprechend "drehe", bekomme das einen bösen Beigeschmack.
Ich fügte aber sogleich hinzu: Wir haben hier aber zwei völlig
unterschiedliche Sachverhalte. Die Nazis haben zur rassistischen Ausgrenzung
aufgerufen, das Weltsozialforum will die Menschenrechte und das Völkerrecht
durchsetzen. Das dürfe man nicht gleichsetzen. Ich sagte dem Journalisten
weiter, dass während des Gaza-Kriegs in Norwegen und Griechenland
Hafenarbeiter sich geweigert hätten, israelische Schiffsladungen, darunter
Munition, anzupacken und sich die internationale Boykott-Bewegung BDS, zu
der zahlreiche Persönlichkeiten wie die jüdische Globalisierungskritikerin
Naomi Klein und Professoren aufriefen, derzeit stark entwickle.
Da der Anruf des Journalisten – wie wir heute
wissen – Teil einer Intrige war, um mich und DIE LINKE zu
diskreditieren, wurden meine Aussagen am folgenden Tag so verdreht und
verkürzt dargestellt, als hätte ich in bewusster Anlehnung an die
Nazi-Propaganda zum Boykott aufgerufen. Die infame Falschdarstellung
wurde von einem dubiosen Netzwerk und Bloggern verbreitet,
einschließlich über Presseagenturen. Als Schaltstelle betrachte ich den
stellvertretenden Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und
Wahlhelfer des SPD-Oberbürgermeisterkandidaten, Dr. Jurga. Die
WAZ-Zentralredaktion in Essen – auch diese ist unter ihrem Chef Bodo
Hombach sehr SPD-nah - zog das Thema an sich, brachte es auf die
Titelseiten und macht eine regelrechte Kampagne daraus, um die LINKE
massiv anzugreifen und mich persönlich fertig zu machen. Schließlich
können wir in Duisburg mit einem zweistelligen Wahlergebnis rechnen und
der SPD-Kandidat hat kaum eine Chance. Das wahlpolitische Kalkül dieser
Diffamierungskampagne steht inzwischen eindeutig fest. Meine umgehende
Richtigstellung an die WAZ wurde nicht abgedruckt. Im Gegenteil, in der
WAZ vom 26.2.2009 wurde sogar die Existenz des Aufrufs von Belém eiskalt
bestritten.
MM: Wie ging es weiter?
Dierkes: Ab dem 25./26.02 war die Hölle
los. Wir erhielten eine Flut von Mails, Faxen, Anrufen und Post mit
wüsten Beschimpfungen („Linksfaschisten“, „Antisemiten“), schwersten
Beleidigungen und sogar Morddrohungen. Darunter waren übrigens viele
ausgesprochen rassistische, also migrantenfeindliche, antitürkische und
antiarabische Schmähungen. Mit einem berechtigten Aufschrei (weil die
lancierte Falschinformation für bare Münze genommen wurde) hatte solche
Mails nichts mehr tun. Sie spiegelten die Islamophobie in Deutschland
wider und die im zionistischen Lager verbreitete Ansicht, dass allein
Israel Kulturbringer im Nahen Osten sei. Etliche verstiegen sich zu der
Unterstellung, ich mache das „nur, um Stimmen in Marxloh zu holen“ (Marxloh
ist ein stark von Migranten bewohnter Stadtteil im Norden von Duisburg).
Die politischen Parteien; Kirchen- und Verbandssprecher, der Zentralrat
der Juden sowie individuelle Parteigänger usw. verdammten mich in Grund
und Boden und forderten meinen Rücktritt. Es folgten Ausladungen von
bereits feststehenden Terminen. Was mich am meisten traf, war die
Entsolidarisierung angesichts der wüsten Diffamierungskampagne durch
Teile meiner eigenen Partei, die die Falschmeldung leider für bare Münze
genommen hatten. Ich wurde in eine Ecke gestellt, in die ich einfach
nicht hingehöre. Das wissen zahlreiche Menschen in Duisburg und
außerhalb, das wissen auch zahlreiche Redaktionsmitarbeiter. Ich habe
eine solche Hetzkampagne, der ich mich im Grunde schutzlos ausgeliefert
sah, in meiner nun fast 40-jährigen Aktivität auf der politischen Linken
und als Gewerkschafter noch nie erlebt und erlitt eine schwere
psychische Krise. Das war eine öffentliche Steinigung. Ich zog daraufhin
ganz persönlich die Konsequenzen, zog meine OB-Kandidatur zurück und bot
auch meinen Rückzug vom Fraktionsvorsitz an. Damit wollte ich auch meine
nächsten Verwandten und die Partei entlasten.
Es gab aber auch viele kleinere Medien und
Journalisten, die sich der Diffamierung nicht angeschlossen haben,
darunter der Chefredakteur von Radio Duisburg, der sich in einem mutigen
Wochenkommentar vor mich stellte und darauf bestand, dass es in einer
Demokratie legitim sein müsse, über Mittel nachzudenken, wie die
Menschenrechtsverbrechen gegen die Palästinenser gestoppt werden können.
Türkischsprachige Zeitungen haben positiv berichtet, ich weiß, dass mein
Fall sogar Thema im arabischen Fernsehsender Al-Jazira war.
Nachdem die Schmutzflut abgeebbt ist, erhalte
ich aus dem In- und Ausland einen ununterbrochenen Strom von
Solidaritätsbeweisen. Das tut mir gut und hilft mir, wieder auf die
Beine zu kommen. Ich möchte auch an dieser Stelle dafür ganz herzlich
danken. Ich will nach Möglichkeit alle individuell beantworten.
MM: Würden Sie Ihre Kritik an Israel so
wiederholen, wenn Sie die Zeit zurück drehen könnten?
Dierkes: An meiner langjährigen Kritik an
der israelischen Politik gegen die Palästinenser - und auch seine anderen
Nachbarn - habe ich nicht einen Millimeter zurück zu nehmen. Ich habe auch
immer kritisiert, dass Israel mit schlimmen Militärdiktaturen wie Somoza in
Nicaragua, Pinochet in Chile, Videla in Argentinien und dem südafrikanischen
Apartheidregime kollaboriert und Waffengeschäfte gemacht hat. Das ist immer
Teil der zionistischen Politik gewesen. Sie war in dieser Hinsicht immer auf
der Seite der US-Regierungen und wurde von diesen massiv unterstützt.
Diese Politik der illegalen Landnahme und
Besiedlung, des Terrors durch rechtsradikale Siedler, der anhaltenden
Besatzung und Aufspaltung der Palästinensergebiete in völlig
unverbundene Teilstücke, der ethnischen Säuberung, des Mauerbaus, der
wirtschaftlichen Strangulierung, der Umweltzerstörung; der Weigerung,
egal mit welcher politischen Vertretung der palästinensischen Seite
gleich berechtigte und ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen usw. - all
das wird auch seit Jahrzehnten von der UN, von den meisten Regierungen
der Welt, von Menschenrechtlern und Friedensaktivisten, von vielen
jüdischen Stimmen rund um den Globus und von der israelischen linken
Opposition selbst verurteilt. Die israelischen Regierungen kümmern sich
nicht darum und setzen ihren furchtbaren Kurs zur Unterdrückung der
Palästinenser fort, aus Gründen der angeblichen "Selbstverteidigung". Es
ist grotesk: Alles das, was sie der palästinensischen Seite vorwerfen
oder unterstellen praktizieren sie selbst (Terror, Liquidierung von
Führungspersonal, Verletzung von Menschenrechten, Aufrüstung,
„menschliche Schutzschilde“, Versagung der vollen staatlichen Existenz
und Eigenständigkeit usw.). Israel ist nicht Opfer, wie es die
Lobbyisten in zynischer Berechnung oder die sogenannten Israel-„Freunde“
leider immer wieder blind behaupten, sondern Täter. Meine Einschätzung
der Nahost-Frage steht übrigens in voller Übereinstimmung mit den
mutigen Friedensaktivisten in Israel selbst, von denen ich viel gelernt
habe. Michael Warschawski und Uri Avneri, um nur zwei zu nennen,
arbeiten auf so beispielhafte Weise mit PalästinenserInnen wie Hanan
Ashrawi und vielen anderen zusammen. Sie brauchen dringend die
internationale Unterstützung.
Ich habe auf sehr schmerzhafte Weise erleben
müssen, dass ein Boykott Israels in der Öffentlichkeit und vor in der
veröffentlichten Meinung Deutschlands immer noch sehr schwer zu
vermitteln ist. Sofort wird die Keule „Antisemitismus“ als ganz
gefährliche politische Waffe eingesetzt. Norman Finkelstein, Mearsheimer/Walt
und andere haben diesen Mechanismus genau beschrieben. Finkelstein hat
dafür ja auch – obwohl selbst Jude – Einreiseverbot nach Israel.
Aufgrund des von Deutschland ausgehenden Völkermords an den europäischen
Juden ist Antisemitismus ein umso schwerwiegenderer Vorwurf. Leider ist
er aber als „Argument“ gegen die Kritik an der Unterdrückung der
Palästinenser durch Israel geschichtsvergessen und bösartig. Es ist im
Grunde der Beweis dafür, das den Verantwortlichen und Rechtfertigern
kaum noch ein rationales Argument geblieben ist.
Ich bin kein Antisemit, sondern Kritiker der
israelischen Regierungspolitik. Vielleicht muss die weltweite
Protestbewegung erst noch so stark werden, dass auch in Deutschland
Sanktionen gegen Israel wie Waffenembargo, Boykott und Abbruch von
Investitionen endlich legitim diskutiert werden können. Nicht als Mittel
rassistischer Ausgrenzung aus niederen Beweggründen, sondern zur
Durchsetzung von Menschen- und Völkerrecht. Dafür gibt es hoffnungsvolle
Anzeichen. Ich halte sie nach wie vor für vollkommen legitim und sie
darf nicht verunglimpft werden. Wenn meine Kritik Antisemitismus sein
soll, so ist das übrigens eine gefährliche Verharmlosung des echten
Antisemitismus, der ja aus niedrigen rassistischen Beweggründen eine
Glaubensgemeinschaft bzw. Ethnie diffamiert, ausgrenzt und in den
Völkermord an den europäischen Juden geführt hat. Schlimm ist die
Tatsache, dass der Zionismus durch seine Unterdrückungspolitik
Antisemitismus fördert. Stellen wir nur uns einen Augenblick vor, wie
ein palästinensischer Jugendlicher in Hebron von rassistischen Siedlern
drangsaliert, gedemütigt und geschlagen wird, die die Fensterscheiben
des Elternhauses einschlagen, wenn nicht Schlimmeres, dem immer wieder
deutlich gemacht wird: Du hast hier nichts verloren, das ist unser "von
Gott gegebenes" Land – von jüdischen Zivilisten!
MM: In Ihrem Rücktrittsschreiben geben Sie
an, Schaden von der Linken abwenden zu wollen; aber waren es nicht u.a. auch
Linke, die Öl in das Feuer des Scheiterhaufens geworfen haben?
Dierkes: Der Kreisverband Duisburg, die
Gesamtfraktion und der Landesverband NRW haben sich auch in den dunkelsten
Stunden vor mich gestellt. In den Bundesgremien wurde das Thema behandelt,
etliche bezogen mutig für mich Position. Kein Gremium hat mich verurteilt.
Eine öffentliche Kritik an der von mir für legitim gehaltenen
Boykottposition kam zunächst von Petra Pau (DIE LINKE Berlin). Sie ist
Vizepräsidentin des Bundestags, und schließlich von einer Reihe von Bundes-
und Landesfunktionären sowie Abgeordneten in einer gemeinsamen Erklärung.
Damit kann ich umgehen, weil diese Vertreter der LINKEN auch für einen
gerechten Frieden in Nahost eintreten, nur andere Mittel und Wege für
richtig halten. Erwartet hätte ich aber schon, dass sie sich der politischen
Diffamierungs- und Vernichtungskampagne entgegenstellt hätten. Sie weisen zu
Recht darauf hin dass sich DIE LINKE „keine Zweideutigkeiten“ erlauben darf,
was Antifaschismus und Antirassismus betrifft und den Kampf gegen den
Antisemitismus. Ich muss aber darauf bestehen, dass sie die LINKE auch bei
der Einhaltung der Menschenrechte und dem Völkerrecht auf Selbstbestimmung
sich keinerlei Zweideutigkeiten erlaubt. Davon steht in der Erklärung leider
auch nichts. Menschrechte und Völkerrecht sind für mich unteilbar. Kein der
Staat darf sich davon freistellen, auch nicht unter Hinweis auf die
Nazibarbarei.
Und lassen Sie mich noch etwas ergänzen.
Deutschland und Israel werden noch lange ein ganz besonders Verhältnis
brauchen, gerade wegen der unauslöschlichen Nazibarbarei. Dazu zählen
selbstverständlich die Erinnerungsarbeit, der kulturelle Austausch, die
wirtschaftliche Zusammenarbeit usw. Aber es muss inhaltlich in mancher
Hinsicht anders ausgestaltet werden als heute. Vor allem muss die
deutsche Komplizenschaft bei der Unterdrückung der Palästinenser
aufhören. Das ist doch auch von entscheidender Bedeutung für eine
friedvolle Zukunft der Israelis selbst.
MM: Warum glauben Sie, fällt es in diesem
Land so leicht, die eigenen Grundsätze wie Trennung von Staat und Religion
und die Forderung nach Konfessionsunabhängigkeit eines Staates und freie
Religionswahl beim Thema Israel völlig zu missachten und damit Rassismus
Vorschub zu leisten?
Dierkes: Das hat in der Tat etwas mit der
nie richtig aufgearbeiteten und dann auch in der Gesellschaft verankerten
deutschen Geschichte und der Nazibarbarei zu tun. Indem man die
zionistisch-rassistische Staatsdoktrin des Judenstaats akzeptiert, den
Gründungsmythos „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ - obwohl die
Palästinenser dort seit Jahrhunderten ansässig waren – indem man Israel die
Palästinenser unterdrücken lässt, es dabei faktisch unterstützt, die
Unterdrückung tabuisiert und sich der zionistischen Sicht anschließt, dass
Kritik an Israel antisemitisch sei, erteilt sich die deutsche
Mehrheitspolitik die Absolution für die Naziverbrechen. Das ist fatal,
absolut unvereinbar mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht. Es ist ein
Rückfall hinter wichtige Ergebnisse der – bürgerlichen! – französischen
Revolution. Man verurteilt die iranische Revolution und Bestrebungen für
einen Gottesstaat in der islamischen Welt und Israel wird davon ausgenommen.
Das passt überhaupt nicht zusammen.
MM: Sie verteidigen das Existenzrecht
Israels, bestehen aber darauf, dass alle Bürger Israels gleichberechtigt
sein sollen. Die Vorreiter des Zionismus argumentieren, dass Palästinenser
niemals gleichberechtigt in Israel sein dürfen, da sie allein schon aufgrund
ihrer höheren Geburtenzahl eines Tages die Mehrheit stellen könnten und
damit der "jüdische Charakter" Israels gefährdet wäre. Das ist auch das
Argument für die Ablehnung der Rückkehr der Vertriebenen. Was antworten Sie
auf dieses Dilemma?
Dierkes: Obwohl es sich dem Ursprung nach um
einen kolonialen Siedlerstaat handelt, darf niemand mehr die Tatsache
infrage stellen, dass Millionen jüdische Menschen in einem Teil des alten
Palästina ansässig sind, Generationen dort geboren wurden und sich eine
Nation herausgebildet hat. Auch sie haben selbstverständlich das Recht auf
Existenz und nationale Selbstbestimmung. Aber bereits innerhalb der Grenzen
Israels leben ja Millionen Palästinenser, die keine volle Gleichberechtigung
genießen. Eheschließungen zwischen zwischen Palästinensern und Israelis
werden erschwert. Palästinenser dürfen in Israel kein Land kaufen usw. Die
israelische Mehrheitsdoktrin will einen jüdischen Staat erhalten, von dem
die absolute Mehrheit Juden sind. Deswegen wird die Rückkehr der Flüchtlinge
abgelehnt, deswegen wird die ethnische Säuberung fortgesetzt, deswegen will
man sich ja z.B. die Westbank und Gaza nicht einverleiben, solange dort
Palästinenser wohnen. Deswegen der Mauerbau, der Terror der Siedler usw.
Deswegen die Verweigerung der Eigenstaatlichkeit und der ständige Landraub.
Wie die ganze Entwicklung seit 1947/48 beweist, ist diese Konzeption eine
Quelle ständiger schwerer Auseinandersetzungen. Sie hat ein riesiges
Pulverfass in Nahost geschaffen. Wie lange und wie viel soll Israel denn
noch so viele Ressourcen Krieg und Unterdrückung ausgehen, anstatt für
friedliche Entwicklung? Wie viel Leid und Unterdrückung, wie viel Kriege mit
all den Zerstörungen und Opfern soll es denn noch geben? Wie viele
Palästinenser und Israelis sollen denn noch sterben? Wie viele Generationen
noch im gegenseitigen Hass auf einander losgehen? Wem nützt das überhaupt
etwas? Mit den Grundlagen eines modernen Staates ist diese Doktrin ohnehin
nicht vereinbar.
Lange Zeit stand die Forderung nach
Zweistaatigkeit, also die Lösungsoption, dass das geschundene
palästinensische Volk wenigstens auf 20 - 25% des alten Palästina einen
eigenen Staat errichten können soll. Der Aufstieg von offen
rassistischen und fundamentalistischen Bewegungen und Parteien in Israel
wie die eines Avigdor Lieberman selbst macht mir allergrößte Sorge. Eine
Lösung wird dadurch noch schwieriger als bisher. Die israelische
Mehrheitspolitik manövriert sich mehr und mehr in einige völlige
Sackgasse.
MM: Und worin sehen Sie einen Lösungsansatz?
Dierkes: Ich bin auch heute nicht mehr
sicher, ob die Zweistaatenlösung noch praktikabel ist oder die Forderung
nach einem gemeinsamen säkularen Staat die einzig gangbare, so aussichtslos
das derzeit auch scheint. 250.000 bis 300.000 Siedler befinden sich allein
in der Westbank. Wie soll eine Umsiedlung laufen? Viele von ihnen sind zu
allem entschlossen und ich fürchte, eine israelische Regierung, die sich das
vornimmt, wird mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen konfrontiert, wie
unlängst Prof. Moshe Zuckermann (Tel Aviv) in einem Interview mit der
"jungen Welt" zu recht befürchtet hat. Der Rückzug von Siedlungen vor
einigen Jahren im Gazastreifen hat da schon einen Vorgeschmack gegeben. Wie
dem auch sei, ich bin davon überzeugt, wenn nicht das Dogma des
„Judenstaats“ zugunsten eines pluralen, demokratischen Gemeinwesens und
einer neuen Identität und Kultur überwunden wird, kann es keine
zukunftsfähige Lösung geben. Es geht um die Verwirklichung einer Vision, wie
sie etwa Michael Warschawski in seinem Buch „An der Grenze“ anspricht:
„Mit der zionistischen Identität zu brechen, um die jüdischen Wurzeln wieder
zu finden und sich des arabischen Anteils ihrer Identität und Umgebung zu
öffnen“. Über die Realisierungschancen entscheiden viele Faktoren, auch
die internationale Entwicklung, aber vor allem eins: Israelis und
Palästinenser, die für eine friedliche Zukunft kämpfen wollen, müssen auf
breiter Basis zusammen arbeiten. Alle Ansätze in dieser Richtung, die es
schon gibt, müssen ermutigt und entschlossen unterstützt werden.
MM: Erlauben Sie eine Schlussfrage zu
Ihrer Partei die LINKE. Wir beobachten, dass immer mehr Parteien auch um
die Stimmen von praktizierenden Muslimen buhlen. Die Grünen haben dafür
sogar einen Arbeitskreis Grüne MuslimInnen gegründet und selbst die CDU
fängt an darüber nachzudenken die seit Jahren vernachlässigte
Wählerschaft anzusprechen. Die LINKE hat aufgrund ihres
antiimperialistischen und antikapitalistischen Kurses einen gewissen
Vorsprung bei dieser Wählerschaft. Bezüglich Innenpolitik ist aber z.B.
die praktizierende Muslima mehr daran interessiert, ob sie als Beamtin
ihr Kopftuch abnehmen muss und ob Integration nicht auch als
praktizierender Muslim oder Muslima möglich ist. Hat die Linke auch in
diesem Bereich Angebote?
Dierkes: Das ist auch hier in Duisburg
so mit den anderen Parteien. Über ein Drittel unserer Mitgliedschaft
(fast 500) hat Migrationshintergrund. Unter den aussichtsreichsten zwölf
Plätzen der Ratsreserveliste für die kommenden Kommunalwahlen befinden
sich fünf türkeistämmige BewerberInnen. Hinsichtlich der Direktmandate
und der Bezirkslisten gibt es ein ähnliches Bild. Unser Kreisvorstand
ist gut mit MigrantInnen besetzt, einer der örtlichen Sprecher der IG
Metall-Betriebsrat Kenan Ilhan. Unser örtlicher Bundestagabgeordneter
Hüseyin Aydin war lange Stahlarbeiter und IG Metall-Sekretär. Wir haben
das umfangreichste und detaillierteste Integrationsprogramm aller
Parteien in Duisburg. Muslime sind selbstverständlich willkommen, auch
Muslima mit Kopftuch. Ich halte diese Diskussion um das Kopftuch als
Ausdruck des religiösen Bekenntnisses für völlig abwegig. Die
Diskriminierung fängt doch schon da an, wenn christliche Symbole bei
LehrerInnen zugelassen werden.
MM: Herr Dierkes, wir danken für das
Interview. |