Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Hermann Dierkes
 

Muslim-Markt interviewt
Hermann Dierkes, Oberbürgermeisterkandidat der LINKEN, dem wegen eines Boykottaufrufs gegen Israel Antisemitismus vorgeworfen wurde

12.3.2009

Ratsherr Hermann Dierkes (Jahrgang 1949) erhielt seine Berufsausbildung in Detmold im Verwaltungsdienst, holte das Abitur auf dem Abendgymnasium in Düsseldorf nach und studierte mehrere Semester Volkswirtschaft und Politik. Seit Beginn seines Berufslebens war er gewerkschaftlich organisiert. In der Stahlindustrie war er lange Jahre IG Metall-Vertrauenskörperleiter bei einer ThyssenKrupp-Tochter und stellvertretender Betriebsratsvorsitzender. Von 1985 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Berufsleben war er als Teamer/Referent ununterbrochen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit engagiert. Nach knapp 30 Jahren Beschäftigung in der Duisburger Stahlindustrie wechselte er in 2008 in die Altersteilzeit (Freistellungsphase).

Politisch stark beeinflusst von der Nach-68er-Bewegung begann sein Engagement auf der politischen Linken 1971. Seit Mitte der siebziger Jahre engagiert er sich zudem in der Umweltbewegung (zunächst in der Anti-AKW-Bewegung als Mitbegründer der Initiative GewerkschafterInnen gegen Atom). 1988 war er Mitbegründer der Bürgerinitiative gegen Umweltgifte Duisburg Nord e.V. . Erfahrungen als linker Publizistik sammelte er u.a. mit der Herausgabe einer regionalen Zeitung.

1994 gründete er mit einer Reihe politischer Freunde die unabhängige WählerInnengemeinschaft DuisBürgerBündnis (DUBB), das derzeit noch über Bezirksmandate in Hamborn und Meiderich verfügt, aber 2009 nicht mehr kandidieren wird. 1999 schloss er sich mit einem Teil des DUBB der PDS-Offenen Liste an. Sie eroberten die erste Ratsfraktion der PDS in Nordrheinwestfalen und konnten bei den Kommunalwahlen 2004 das Ergebnis von 3 auf 4 Mandate ausbauen. Seit 1999 ist er Vorsitzender der Ratsfraktion. 2001 trat er der damaligen PDS bei. Den Zusammenschluss zwischen PDS bzw. PDS-OL und WASG hat er aktiv unterstützt. In 2009 trat er als Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters von Duisburg an. Während des Wahlkampfes Anfang 2009 war er Kandidat für den Posten des Oberbürgermeisters der Stadt Duisburg. Sein Boykottaufruf im Anschluss an das Gaza-Massaker gegen israelische Produkte bis zur Beendigung der Besatzung brachte ihm auch innerparteilich derart massive Kritik ein, dass er von der Kandidatur als Oberbürgermeister-Kandidat zurückgetreten ist. Aus der Partei die LINKEN in Duisburg hat er viele Signale bekommen, die möchten, dass er seinen Fraktionsvorsitz bis zum Ende der Wahlperiode beibehält. Hermann Dierkes gab aber zu erkennen, dass er den Fraktionsvorsitz für die LINKE im Rat der Stadt nur weiter wahrnehmen werde, falls er ein klares Vertrauensvotum seines Kreisverbandes bekomme; ein Vertrauen, dass ihm dieser Tage mit überwältigender Mehrheit ausgesprochen wurde.

Hermann Dierkes ist verheiratet und lebt in Duisburg.

MM: Sehr geehrter Herr Dierkes, erlauben Sie zum Einstieg eine rein persönliche Frage; glauben Sie an Gott?

Dierkes: Seit meiner Jugend gehöre ich keiner Konfessionsgemeinschaft mehr an. Ich glaube nicht an einen Gott, respektiere aber den Glauben anderer Menschen und ihre konfessionelle Aktivität. Ich habe zahlreiche Freunde in den christlichen Kirchen und in den verschiedenen muslimischen Richtungen. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ist für mich ein unumstößlicher demokratischer Grundsatz. Am Ort habe ich mich z.B. mit meiner Partei dafür eingesetzt, dass die Großmoschee der DITIB-Gemeinde mit einem interkulturellen Begegnungszentrum gebaut werden konnte.

MM: Ausgangspunkt für eine hemmungslose Medienkampagne gegen ihre Person war ihre Kritik an der Politik der israelischen Regierungen gegen das palästinensische Volk. Was haben Sie eigentlich so fürchterliches gesagt, dass Sie einer Art öffentlicher Hexenverbrennung ausgesetzt wurden?

Dierkes: Wie in den vielen Fällen zuvor, habe ich die kriegerische Aggression der israelischen Regierung und Armee öffentlich kritisiert. Während des Gaza-Kriegs im Januar habe ich im Zusammenhang mit dem damaligen "Flaggenstreit" in einem offenen Brief an die Deutsch-Israelische Gemeinde Duisburg ihre einseitige Haltung kritisiert und die Legitimität der Anti-Kriegsdemonstrationen verteidigt. Dann hatten wir eine Veranstaltung des Duisburg-Hamborner Ortsverbands meiner Partei am 18.02.09 mit dem Thema „Palästinensische Realität heute – Wege zu einem gerechten Frieden in Nahost“. Mein Freund Dr. Rihbi Yousef von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft referierte und die anwesenden, knapp 30 Personen sahen sich den erschütternden Film des palästinensischen Filmemachers Mehmet Atalar "Die Eiserne Mauer" an. In der Diskussion, was man denn gegen die schreiende Ungerechtigkeit gegen das palästinensische Volk tun könne, nahmen viele Stellung, darunter auch unser Bundestagsabgeordneter und mein langjähriger Freund Hüseyin Aydin. Ich erwähnte, dass es einen Aufruf der Versammlung der sozialen Bewegungen vom soeben zuende gegangenen Weltsozialforum im brasilianischen Belém gebe, der den 30.03. zum Tag der internationalen Solidarität mit dem palästinensischen Volk proklamiert hat. Als Aktionsformen, um die israelische Politik zu einer Änderung zu bewegen, werden darin vorgeschlagen; Boykott, Desinvestment, Sanktionen. Ich fügte hinzu, ich halte diese Maßnahmen für vollkommen legitim. Jede und jeder könne sich zum Beispiel ganz persönlich entscheiden, ob er/sie im Supermarkt Obst und Gemüse aus Israel kaufe oder nicht, ich tue das angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen durch Israel schon lange nicht mehr.

MM: Was ist danach passiert?

Dierkes: Ein Bericht von der Versammlung wurde kurze Zeit später auf die Internetseite des Kreisverbands der Duisburger LINKEN, Ortsverband Hamborn gestellt. Da steht er immer noch. Am 23.02.2009 rief mich ein Journalist der WAZ an und wollte sich bestätigen lassen, ob ich auf der Veranstaltung zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen habe. Ich bestätigte ihm das, er könne das auf der Internetseite nachlesen. Außerdem habe das Weltsozialforum dazu aufgerufen. Er fragte weiter, ob mir denn klar sei, was ein solcher Aufruf in Deutschland bedeute? Ich antwortete, ich kenne die deutsche Geschichte gut. Ich wisse, dass die Nazis aufgerufen hätten, „Deutsche, kauft nicht bei Juden“. Wenn man einen Boykottaufruf entsprechend "drehe", bekomme das einen bösen Beigeschmack. Ich fügte aber sogleich hinzu: Wir haben hier aber zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte. Die Nazis haben zur rassistischen Ausgrenzung aufgerufen, das Weltsozialforum will die Menschenrechte und das Völkerrecht durchsetzen. Das dürfe man nicht gleichsetzen. Ich sagte dem Journalisten weiter, dass während des Gaza-Kriegs in Norwegen und Griechenland Hafenarbeiter sich geweigert hätten, israelische Schiffsladungen, darunter Munition, anzupacken und sich die internationale Boykott-Bewegung BDS, zu der zahlreiche Persönlichkeiten wie die jüdische Globalisierungskritikerin Naomi Klein und Professoren aufriefen, derzeit stark entwickle.

Da der Anruf des Journalisten – wie wir heute wissen – Teil einer Intrige war, um mich und DIE LINKE zu diskreditieren, wurden meine Aussagen am folgenden Tag so verdreht und verkürzt dargestellt, als hätte ich in bewusster Anlehnung an die Nazi-Propaganda zum Boykott aufgerufen. Die infame Falschdarstellung wurde von einem dubiosen Netzwerk und Bloggern verbreitet, einschließlich über Presseagenturen. Als Schaltstelle betrachte ich den stellvertretenden Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und Wahlhelfer des SPD-Oberbürgermeisterkandidaten, Dr. Jurga. Die WAZ-Zentralredaktion in Essen – auch diese ist unter ihrem Chef Bodo Hombach sehr SPD-nah - zog das Thema an sich, brachte es auf die Titelseiten und macht eine regelrechte Kampagne daraus, um die LINKE massiv anzugreifen und mich persönlich fertig zu machen. Schließlich können wir in Duisburg mit einem zweistelligen Wahlergebnis rechnen und der SPD-Kandidat hat kaum eine Chance. Das wahlpolitische Kalkül dieser Diffamierungskampagne steht inzwischen eindeutig fest. Meine umgehende Richtigstellung an die WAZ wurde nicht abgedruckt. Im Gegenteil, in der WAZ vom 26.2.2009 wurde sogar die Existenz des Aufrufs von Belém eiskalt bestritten.

MM: Wie ging es weiter?

Dierkes: Ab dem 25./26.02 war die Hölle los. Wir erhielten eine Flut von Mails, Faxen, Anrufen und Post mit wüsten Beschimpfungen („Linksfaschisten“, „Antisemiten“), schwersten Beleidigungen und sogar Morddrohungen. Darunter waren übrigens viele ausgesprochen rassistische, also migrantenfeindliche, antitürkische und antiarabische Schmähungen. Mit einem berechtigten Aufschrei (weil die lancierte Falschinformation für bare Münze genommen wurde) hatte solche Mails nichts mehr tun. Sie spiegelten die Islamophobie in Deutschland wider und die im zionistischen Lager verbreitete Ansicht, dass allein Israel Kulturbringer im Nahen Osten sei. Etliche verstiegen sich zu der Unterstellung, ich mache das „nur, um Stimmen in Marxloh zu holen“ (Marxloh ist ein stark von Migranten bewohnter Stadtteil im Norden von Duisburg). Die politischen Parteien; Kirchen- und Verbandssprecher, der Zentralrat der Juden sowie individuelle Parteigänger usw. verdammten mich in Grund und Boden und forderten meinen Rücktritt. Es folgten Ausladungen von bereits feststehenden Terminen. Was mich am meisten traf, war die Entsolidarisierung angesichts der wüsten Diffamierungskampagne durch Teile meiner eigenen Partei, die die Falschmeldung leider für bare Münze genommen hatten. Ich wurde in eine Ecke gestellt, in die ich einfach nicht hingehöre. Das wissen zahlreiche Menschen in Duisburg und außerhalb, das wissen auch zahlreiche Redaktionsmitarbeiter. Ich habe eine solche Hetzkampagne, der ich mich im Grunde schutzlos ausgeliefert sah, in meiner nun fast 40-jährigen Aktivität auf der politischen Linken und als Gewerkschafter noch nie erlebt und erlitt eine schwere psychische Krise. Das war eine öffentliche Steinigung. Ich zog daraufhin ganz persönlich die Konsequenzen, zog meine OB-Kandidatur zurück und bot auch meinen Rückzug vom Fraktionsvorsitz an. Damit wollte ich auch meine nächsten Verwandten und die Partei entlasten.

Es gab aber auch viele kleinere Medien und Journalisten, die sich der Diffamierung nicht angeschlossen haben, darunter der Chefredakteur von Radio Duisburg, der sich in einem mutigen Wochenkommentar vor mich stellte und darauf bestand, dass es in einer Demokratie legitim sein müsse, über Mittel nachzudenken, wie die Menschenrechtsverbrechen gegen die Palästinenser gestoppt werden können. Türkischsprachige Zeitungen haben positiv berichtet, ich weiß, dass mein Fall sogar Thema im arabischen Fernsehsender Al-Jazira war.

Nachdem die Schmutzflut abgeebbt ist, erhalte ich aus dem In- und Ausland einen ununterbrochenen Strom von Solidaritätsbeweisen. Das tut mir gut und hilft mir, wieder auf die Beine zu kommen. Ich möchte auch an dieser Stelle dafür ganz herzlich danken. Ich will nach Möglichkeit alle individuell beantworten.

MM: Würden Sie Ihre Kritik an Israel so wiederholen, wenn Sie die Zeit zurück drehen könnten?

Dierkes: An meiner langjährigen Kritik an der israelischen Politik gegen die Palästinenser - und auch seine anderen Nachbarn - habe ich nicht einen Millimeter zurück zu nehmen. Ich habe auch immer kritisiert, dass Israel mit schlimmen Militärdiktaturen wie Somoza in Nicaragua, Pinochet in Chile, Videla in Argentinien und dem südafrikanischen Apartheidregime kollaboriert und Waffengeschäfte gemacht hat. Das ist immer Teil der zionistischen Politik gewesen. Sie war in dieser Hinsicht immer auf der Seite der US-Regierungen und wurde von diesen massiv unterstützt.

Diese Politik der illegalen Landnahme und Besiedlung, des Terrors durch rechtsradikale Siedler, der anhaltenden Besatzung und Aufspaltung der Palästinensergebiete in völlig unverbundene Teilstücke, der ethnischen Säuberung, des Mauerbaus, der wirtschaftlichen Strangulierung, der Umweltzerstörung; der Weigerung, egal mit welcher politischen Vertretung der palästinensischen Seite gleich berechtigte und ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen usw. - all das wird auch seit Jahrzehnten von der UN, von den meisten Regierungen der Welt, von Menschenrechtlern und Friedensaktivisten, von vielen jüdischen Stimmen rund um den Globus und von der israelischen linken Opposition selbst verurteilt. Die israelischen Regierungen kümmern sich nicht darum und setzen ihren furchtbaren Kurs zur Unterdrückung der Palästinenser fort, aus Gründen der angeblichen "Selbstverteidigung". Es ist grotesk: Alles das, was sie der palästinensischen Seite vorwerfen oder unterstellen praktizieren sie selbst (Terror, Liquidierung von Führungspersonal, Verletzung von Menschenrechten, Aufrüstung, „menschliche Schutzschilde“, Versagung der vollen staatlichen Existenz und Eigenständigkeit usw.). Israel ist nicht Opfer, wie es die Lobbyisten in zynischer Berechnung oder die sogenannten Israel-„Freunde“ leider immer wieder blind behaupten, sondern Täter. Meine Einschätzung der Nahost-Frage steht übrigens in voller Übereinstimmung mit den mutigen Friedensaktivisten in Israel selbst, von denen ich viel gelernt habe. Michael Warschawski und Uri Avneri, um nur zwei zu nennen, arbeiten auf so beispielhafte Weise mit PalästinenserInnen wie Hanan Ashrawi und vielen anderen zusammen. Sie brauchen dringend die internationale Unterstützung.

Ich habe auf sehr schmerzhafte Weise erleben müssen, dass ein Boykott Israels in der Öffentlichkeit und vor in der veröffentlichten Meinung Deutschlands immer noch sehr schwer zu vermitteln ist. Sofort wird die Keule „Antisemitismus“ als ganz gefährliche politische Waffe eingesetzt. Norman Finkelstein, Mearsheimer/Walt und andere haben diesen Mechanismus genau beschrieben. Finkelstein hat dafür ja auch – obwohl selbst Jude – Einreiseverbot nach Israel. Aufgrund des von Deutschland ausgehenden Völkermords an den europäischen Juden ist Antisemitismus ein umso schwerwiegenderer Vorwurf. Leider ist er aber als „Argument“ gegen die Kritik an der Unterdrückung der Palästinenser durch Israel geschichtsvergessen und bösartig. Es ist im Grunde der Beweis dafür, das den Verantwortlichen und Rechtfertigern kaum noch ein rationales Argument geblieben ist.

Ich bin kein Antisemit, sondern Kritiker der israelischen Regierungspolitik. Vielleicht muss die weltweite Protestbewegung erst noch so stark werden, dass auch in Deutschland Sanktionen gegen Israel wie Waffenembargo, Boykott und Abbruch von Investitionen endlich legitim diskutiert werden können. Nicht als Mittel rassistischer Ausgrenzung aus niederen Beweggründen, sondern zur Durchsetzung von Menschen- und Völkerrecht. Dafür gibt es hoffnungsvolle Anzeichen. Ich halte sie nach wie vor für vollkommen legitim und sie darf nicht verunglimpft werden. Wenn meine Kritik Antisemitismus sein soll, so ist das übrigens eine gefährliche Verharmlosung des echten Antisemitismus, der ja aus niedrigen rassistischen Beweggründen eine Glaubensgemeinschaft bzw. Ethnie diffamiert, ausgrenzt und in den Völkermord an den europäischen Juden geführt hat. Schlimm ist die Tatsache, dass der Zionismus durch seine Unterdrückungspolitik Antisemitismus fördert. Stellen wir nur uns einen Augenblick vor, wie ein palästinensischer Jugendlicher in Hebron von rassistischen Siedlern drangsaliert, gedemütigt und geschlagen wird, die die Fensterscheiben des Elternhauses einschlagen, wenn nicht Schlimmeres, dem immer wieder deutlich gemacht wird: Du hast hier nichts verloren, das ist unser "von Gott gegebenes" Land – von jüdischen Zivilisten! 

MM: In Ihrem Rücktrittsschreiben geben Sie an, Schaden von der Linken abwenden zu wollen; aber waren es nicht u.a. auch Linke, die Öl in das Feuer des Scheiterhaufens geworfen haben?

Dierkes: Der Kreisverband Duisburg, die Gesamtfraktion und der Landesverband NRW haben sich auch in den dunkelsten Stunden vor mich gestellt. In den Bundesgremien wurde das Thema behandelt, etliche bezogen mutig für mich Position. Kein Gremium hat mich verurteilt. Eine öffentliche Kritik an der von mir für legitim gehaltenen Boykottposition kam zunächst von Petra Pau (DIE LINKE Berlin). Sie ist Vizepräsidentin des Bundestags, und schließlich von einer Reihe von Bundes- und Landesfunktionären sowie Abgeordneten in einer gemeinsamen Erklärung. Damit kann ich umgehen, weil diese Vertreter der LINKEN auch für einen gerechten Frieden in Nahost eintreten, nur andere Mittel und Wege für richtig halten. Erwartet hätte ich aber schon, dass sie sich der politischen Diffamierungs- und Vernichtungskampagne entgegenstellt hätten. Sie weisen zu Recht darauf hin dass sich DIE LINKE „keine Zweideutigkeiten“ erlauben darf, was Antifaschismus und Antirassismus betrifft und den Kampf gegen den Antisemitismus. Ich muss aber darauf bestehen, dass sie die LINKE auch bei der Einhaltung der Menschenrechte und dem Völkerrecht auf Selbstbestimmung sich keinerlei Zweideutigkeiten erlaubt. Davon steht in der Erklärung leider auch nichts. Menschrechte und Völkerrecht sind für mich unteilbar. Kein der Staat darf sich davon freistellen, auch nicht unter Hinweis auf die Nazibarbarei.

Und lassen Sie mich noch etwas ergänzen. Deutschland und Israel werden noch lange ein ganz besonders Verhältnis brauchen, gerade wegen der unauslöschlichen Nazibarbarei. Dazu zählen selbstverständlich die Erinnerungsarbeit, der kulturelle Austausch, die wirtschaftliche Zusammenarbeit usw. Aber es muss inhaltlich in mancher Hinsicht anders ausgestaltet werden als heute. Vor allem muss die deutsche Komplizenschaft bei der Unterdrückung der Palästinenser aufhören. Das ist doch auch von entscheidender Bedeutung für eine friedvolle Zukunft der Israelis selbst.

MM: Warum glauben Sie, fällt es in diesem Land so leicht, die eigenen Grundsätze wie Trennung von Staat und Religion und die Forderung nach Konfessionsunabhängigkeit eines Staates und freie Religionswahl beim Thema Israel völlig zu missachten und damit Rassismus Vorschub zu leisten?

Dierkes: Das hat in der Tat etwas mit der nie richtig aufgearbeiteten und dann auch in der Gesellschaft verankerten deutschen Geschichte und der Nazibarbarei zu tun. Indem man die zionistisch-rassistische Staatsdoktrin des Judenstaats akzeptiert, den Gründungsmythos „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ - obwohl die Palästinenser dort seit Jahrhunderten ansässig waren – indem man Israel die Palästinenser unterdrücken lässt, es dabei faktisch unterstützt, die Unterdrückung tabuisiert und sich der zionistischen Sicht anschließt, dass Kritik an Israel antisemitisch sei, erteilt sich die deutsche Mehrheitspolitik die Absolution für die Naziverbrechen. Das ist fatal, absolut unvereinbar mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht. Es ist ein Rückfall hinter wichtige Ergebnisse der – bürgerlichen! – französischen Revolution. Man verurteilt die iranische Revolution und Bestrebungen für einen Gottesstaat in der islamischen Welt und Israel wird davon ausgenommen. Das passt überhaupt nicht zusammen.

MM: Sie verteidigen das Existenzrecht Israels, bestehen aber darauf, dass alle Bürger Israels gleichberechtigt sein sollen. Die Vorreiter des Zionismus argumentieren, dass Palästinenser niemals gleichberechtigt in Israel sein dürfen, da sie allein schon aufgrund ihrer höheren Geburtenzahl eines Tages die Mehrheit stellen könnten und damit der "jüdische Charakter" Israels gefährdet wäre. Das ist auch das Argument für die Ablehnung der Rückkehr der Vertriebenen. Was antworten Sie auf dieses Dilemma?

Dierkes: Obwohl es sich dem Ursprung nach um einen kolonialen Siedlerstaat handelt, darf niemand mehr die Tatsache infrage stellen, dass Millionen jüdische Menschen in einem Teil des alten Palästina ansässig sind, Generationen dort geboren wurden und sich eine Nation herausgebildet hat. Auch sie haben selbstverständlich das Recht auf Existenz und nationale Selbstbestimmung. Aber bereits innerhalb der Grenzen Israels leben ja Millionen Palästinenser, die keine volle Gleichberechtigung genießen. Eheschließungen zwischen zwischen Palästinensern und Israelis werden erschwert. Palästinenser dürfen in Israel kein Land kaufen usw. Die israelische Mehrheitsdoktrin will einen jüdischen Staat erhalten, von dem die absolute Mehrheit Juden sind. Deswegen wird die Rückkehr der Flüchtlinge abgelehnt, deswegen wird die ethnische Säuberung fortgesetzt, deswegen will man sich ja z.B. die Westbank und Gaza nicht einverleiben, solange dort Palästinenser wohnen. Deswegen der Mauerbau, der Terror der Siedler usw. Deswegen die Verweigerung der Eigenstaatlichkeit und der ständige Landraub. Wie die ganze Entwicklung seit 1947/48 beweist, ist diese Konzeption eine Quelle ständiger schwerer Auseinandersetzungen. Sie hat ein riesiges Pulverfass in Nahost geschaffen. Wie lange und wie viel soll Israel denn noch so viele Ressourcen Krieg und Unterdrückung ausgehen, anstatt für friedliche Entwicklung? Wie viel Leid und Unterdrückung, wie viel Kriege mit all den Zerstörungen und Opfern soll es denn noch geben? Wie viele Palästinenser und Israelis sollen denn noch sterben? Wie viele Generationen noch im gegenseitigen Hass auf einander losgehen? Wem nützt das überhaupt etwas? Mit den Grundlagen eines modernen Staates ist diese Doktrin ohnehin nicht vereinbar.

Lange Zeit stand die Forderung nach Zweistaatigkeit, also die Lösungsoption, dass das geschundene palästinensische Volk wenigstens auf 20 - 25% des alten Palästina einen eigenen Staat errichten können soll. Der Aufstieg von offen rassistischen und fundamentalistischen Bewegungen und Parteien in Israel wie die eines Avigdor Lieberman selbst macht mir allergrößte Sorge. Eine Lösung wird dadurch noch schwieriger als bisher. Die israelische Mehrheitspolitik manövriert sich mehr und mehr in einige völlige Sackgasse.

MM: Und worin sehen Sie einen Lösungsansatz?

Dierkes: Ich bin auch heute nicht mehr sicher, ob die Zweistaatenlösung noch praktikabel ist oder die Forderung nach einem gemeinsamen säkularen Staat die einzig gangbare, so aussichtslos das derzeit auch scheint. 250.000 bis 300.000 Siedler befinden sich allein in der Westbank. Wie soll eine Umsiedlung laufen? Viele von ihnen sind zu allem entschlossen und ich fürchte, eine israelische Regierung, die sich das vornimmt, wird mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen konfrontiert, wie unlängst Prof. Moshe Zuckermann (Tel Aviv) in einem Interview mit der "jungen Welt" zu recht befürchtet hat. Der Rückzug von Siedlungen vor einigen Jahren im Gazastreifen hat da schon einen Vorgeschmack gegeben. Wie dem auch sei, ich bin davon überzeugt, wenn nicht das Dogma des „Judenstaats“ zugunsten eines pluralen, demokratischen Gemeinwesens und einer neuen Identität und Kultur überwunden wird, kann es keine zukunftsfähige Lösung geben. Es geht um die Verwirklichung einer Vision, wie sie etwa Michael Warschawski in seinem Buch „An der Grenze“ anspricht: „Mit der zionistischen Identität zu brechen, um die jüdischen Wurzeln wieder zu finden und sich des arabischen Anteils ihrer Identität und Umgebung zu öffnen“. Über die Realisierungschancen entscheiden viele Faktoren, auch die internationale Entwicklung, aber vor allem eins: Israelis und Palästinenser, die für eine friedliche Zukunft kämpfen wollen, müssen auf breiter Basis zusammen arbeiten. Alle Ansätze in dieser Richtung, die es schon gibt, müssen ermutigt und entschlossen unterstützt werden.

MM: Erlauben Sie eine Schlussfrage zu Ihrer Partei die LINKE. Wir beobachten, dass immer mehr Parteien auch um die Stimmen von praktizierenden Muslimen buhlen. Die Grünen haben dafür sogar einen Arbeitskreis Grüne MuslimInnen gegründet und selbst die CDU fängt an darüber nachzudenken die seit Jahren vernachlässigte Wählerschaft anzusprechen. Die LINKE hat aufgrund ihres antiimperialistischen und antikapitalistischen Kurses einen gewissen Vorsprung bei dieser Wählerschaft. Bezüglich Innenpolitik ist aber z.B. die praktizierende Muslima mehr daran interessiert, ob sie als Beamtin ihr Kopftuch abnehmen muss und ob Integration nicht auch als praktizierender Muslim oder Muslima möglich ist. Hat die Linke auch in diesem Bereich Angebote?

Dierkes: Das ist auch hier in Duisburg so mit den anderen Parteien. Über ein Drittel unserer Mitgliedschaft (fast 500) hat Migrationshintergrund. Unter den aussichtsreichsten zwölf Plätzen der Ratsreserveliste für die kommenden Kommunalwahlen befinden sich fünf türkeistämmige BewerberInnen. Hinsichtlich der Direktmandate und der Bezirkslisten gibt es ein ähnliches Bild. Unser Kreisvorstand ist gut mit MigrantInnen besetzt, einer der örtlichen Sprecher der IG Metall-Betriebsrat Kenan Ilhan. Unser örtlicher Bundestagabgeordneter Hüseyin Aydin war lange Stahlarbeiter und IG Metall-Sekretär. Wir haben das umfangreichste und detaillierteste Integrationsprogramm aller Parteien in Duisburg. Muslime sind selbstverständlich willkommen, auch Muslima mit Kopftuch. Ich halte diese Diskussion um das Kopftuch als Ausdruck des religiösen Bekenntnisses für völlig abwegig. Die Diskriminierung fängt doch schon da an, wenn christliche Symbole bei LehrerInnen zugelassen werden.

MM: Herr Dierkes, wir danken für das Interview.

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