MM: Sehr geehrter Herr Kastner, während das
alte Testament das Zinsverbot explizit erwähnt, leben zumindest die
Landeskirchen nicht schlecht vom Zins und bisher hielt man das Zinsverbot
eher für eine muslimische Forderung. Wacht das Christentum diesbezüglich
auf?
Kastner: Deshalb haben wir den
Thesenanschlag initiiert: Von den christlichen Kirchen ist zu den tieferen
Ursachen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht viel zu hören
– im Gegensatz zur moslemischen Welt, wo das Zinsverbot ja immer noch gilt
und das "Islamic Banking" einen wachsenden Stellenwert einnimmt. Die jüngste
Sozialenzyklika des Papstes dagegen ist eine große Enttäuschung. Das
prophetische Wort der Thesen soll die Diskussion über die Rolle des Zinses
in unserer Wirtschaft auslösen und die "strukturelle Sünde" benennen, die im
gegenwärtigen Geldsystem liegt – quer zur offiziellen Lesart der Kirchen,
die lediglich jeden Einzelnen zum ethisch verantwortlichen Umgang mit Geld
auffordert. Ohne das Zinstabu zu diskutieren und auch praktisch anzugehen,
kommt dies letztendlich einer Quadratur des Kreises gleich.
MM: Was ist unter dem Initiativkreis "9,5"
zu verstehen, und warum überhaupt neun Komma fünf und nicht zehn?
Kastner: 9,5 bezieht sich natürlich auf
die 95 Thesen Martin Luthers – der ja in seiner Zeit auch schon ein
großer Zinskritiker war. Wir, das sind zwei gläubige Ökonomen und zwei
Theologen, verweisen damit auch auf die jahrtausende alte Tradition des
Darlehensverbotes auf Zins im Christentum – vom alten Testament, dem
neuen Testament, den Kirchenvätern, der Bekräftigung durch zahlreichen
Konzilen der katholischen Kirche bis hin zur bedeutenden Enzyklika "Vix
pervenit" von Papst Benedikt XIV. im Jahre 1745. Erst in den 1980er
Jahren wurde das Zinsverbot aus dem kanonischen Recht der Kirche ohne
weitere Diskussionen entfernt. Die heutige kirchliche Praxis ist also
sowohl unbiblisch als auch wider die eigene kirchliche Tradition.
MM: Dass ein Christ die Dreieinigkeit
kritisiert, kommt selten vor. Mit Bezug auf Goethe verweisen Sie auf die
verhängnisvolle "Dreieinigkeit" von "Krieg, Handel, Piraterie", was darauf
hindeutet, dass es kein neues Phänomen ist. Neu aber ist, dass sich Christen
intensiv dagegen engagieren. Wie kam es dazu?
Kastner: Im Laufe meiner Arbeit am Buch
"Mythos Marktwirtschaft" – die ich ja zunächst aus ökonomischem
Blickwinkel heraus begonnen habe – musste ich feststellen, wie sehr die
sich naturwissenschaftlich gebende Volkswirtschaftslehre ihre
mathematischen Modelle auf kaum hinterfragte Dogmen aufgebaut hat. Das
sind zum Teil unhaltbare Glaubenssätze, über 200 Jahre hinweg weitgehend
unhinterfragt. Ein Ökonomiestudent hat die sehr schnell verinnerlicht
und stellt sie später kaum mehr in Frage, zumal dann nicht, wenn er als
Wissenschaftler Karriere machen will. Zu diesen Dogmen gehört die
einseitige und dem christlichen Menschenbild völlig zuwider laufende
Vorstellung, der Mensch sei ausschließlich (!) egoistisch, sprich auf
die Mehrung seines individuellen Nutzens hin orientiert. Dazu zählt aber
auch das Dogma von der "Neutralität des Geldes" – Geld als der
Realwirtschaft untergeordnetes Tauschmittel. Der Zins erscheint vor
diesem Hintergrund schlicht als wichtiges Regulierungsinstrument, seine
Problematik in puncto Wachstumszwang und Umverteilung bleibt hingegen
völlig außer Sicht. So zum Beispiel die Tatsache, das wir inzwischen
einen Zinsanteil in den Verbraucherpreisen haben von mehr als 30 Prozent
– diese Zinsen wiederum fließen zu 90 Prozent an die "oberen
Zehntausend" und von dort in spekulative Blasen, weil die Vermögenden
ihre Konsumbedürfnisse irgendwann übererfüllt haben. Und was dann
passiert, ist hinlänglich bekannt.
MM: Sie selbst handeln als Mittelständler
u.a. mit wertvollem Gold. Als Gegenwert erhalten Sie Papier und Ziffern auf
dem Konto, die von sich aus keinen Wert haben. Aus dem normierten
Schuldschein von einst ist ein "fiktiver" Eigenwert geworden, der sich sogar
selbst grenzenlos vermehren kann. Was wäre denn die realistische
Alternative?
Kastner: Die Frage zielt natürlich auf
die Rückkehr zur Golddeckung – die angesichts drohender Hyperinflation
ja in der Diskussion ist, die ich jedoch für unrealistisch, ja sogar für
gefährlich halte. Um das knappe Gold wurden schließlich in der
Geschichte immer wieder Kriege geführt, ganze Völker wie die Mayas und
Inkas regelrecht ausgemerzt. Nein, Geld ist letztlich eine Vereinbarung
und als Tauschmittel für eine arbeitsteilige Gesellschaft auch
unverzichtbar. Es geht darum, ein Geldsystem ohne leistungslose
Selbstvermehrung von Vermögen durch Zinsen zu etablieren, das sich wie
ein elastischer Mantel um die Realwirtschaft legt, d.h. wachsen, aber
auch schrumpfen kann. Wie in der Natur darf und kann es nichts geben,
das ewig wächst. Das ist allein eine göttliche Kategorie. Das bestehende
System fordert indes die grenzenlose Vermehrung des Geldes über Kredit
notwendig heraus, weil im Moment der Schuldenaufnahme zuwenig Geld gibt,
um Darlehen und Zins zurückzahlen zu können. Das geht dann nur über
zusätzliches Wachstum, d.h. weitere Ausbeutung (begrenzter) Ressourcen
und einen immer heftigeren Verdrängungswettbewerb, der ja inzwischen
weltweit zur viel kritisierten Herrschaft der Konzerne geführt und den
unternehmerischen Mittelstand immer stärker in Bedrängnis gebracht hat.
Ein Geldsystem mit einer Liquiditätsabgabe auf Bar- und Buchgeld und
ohne Vermögenszins auf Spareinlagen wäre dagegen ein wertstabiles und
dienendes Geld in der primären Funktion als Tauschmittel und ohne
Inflation!
MM: Einmal abgesehen davon, dass jenes als
Kapitalistisch bezeichnete Wirtschaftsystem unmenschlich und unnatürlich
ist, verdinglicht es Menschen und vergöttert Dinge. Wie aber kann man einer
sich als christlich verstehenden Gesellschaft erläutern, dass ihr zentrales
Wirtschaftssystem alles andere als christlich ist?
Kastner: „Wer in Not ist, dem soll
geholfen werden“ – diesem Wort Jesu Christi steht das gegenwärtige
Geldsystem diametral entgegen. Im Zinsgeldsystem verdient der
Geldbesitzer an der Not desjenigen, der Geld braucht, um z.B. eine
Investition tätigen zu können. Die Crux liegt hier in der Einseitigkeit
der Risikoverteilung: Während der Kreditnehmer ja noch gar nicht wissen
kann, ob sich seine kreditfinanzierte Investition in Zukunft auch
rechnet, besteht der Geldverleiher - der ja Geld verleiht, weil er
selbst mehr hat, als er braucht - darauf, zusätzlich zum verliehenen
Geld auch noch einen gleichsam sakrosankten Zins zu erhalten. Über
längere Laufzeiten betrachtet, ergibt sich da häufig das Doppelte der
Darlehenssumme. Schafft der Kreditnehmer nicht Tilgung und Zins, kommt
es zur Eigentumsübertragung. Hier also hat sich der Mammonismus der
Moderne institutionalisiert – Zukunftsangst und Zukunftssicherheit
werden für einige Wenige auf Kosten der Vielen und der natürlichen
Schöpfung auf Geld und Materiellem gebaut. Dass diese Rechnung
letztendlich eine das Leben gefährdende Illusion ist, wie alle
Weltreligionen mahnend immer schon gesagt haben, zeigt gegenwärtig das
Dreigestirn der globalen Krisen: Finanzkrise, Energiekrise, Klimakrise.
Wir müssen als Christen endlich wieder darüber sprechen, dass es
Sicherheit und Zuversicht nur im Vertrauen auf Gott und die Liebe unter
den Menschen gibt. Deshalb treten wir für ein Geldsystem ein, dass diese
Beziehungen fördert, anstatt sie zu zerstören.
MM: Haben Sie auch eine Idee für den
"Übergang". Denn schließlich ist Deutschland mit Zinseszins verschuldet.
Wie kann man da raus kommen? Kastner:
Die Bibel hat dafür eine klare Regelung – Schuldenerlass! Die
christliche Erlassjahr-Kampagne zum heiligen Jahr 2000 hat diesbezüglich
einige Entlastungen für die Entwicklungsländer gebracht, die schließlich
seit den 80er Jahren mehr Zinsen an die Industrieländer zahlen als wir
Ihnen an Entwicklungshilfe zukommen lassen. Aber auch hier haben wir die
Situation, dass seit über 30 Jahren die Zinsrate in den Industrieländern
über der realwirtschaftlichen Wachstumsrate liegt, was bedeutet, dass
Schulden wie Vermögen durch den Zins zunehmen und zwar exponentiell!
Diese Spirale zu durchbrechen, wäre zumindest ein z.B. einjähriges
Moratorium angezeigt: In Deutschland könnten damit allein die
öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen für die nächsten 10 Jahre bezahlt
werden! Das wäre natürlich eine politische Entscheidung, die gegenwärtig
alles andere als realistisch erscheint. Rein ökonomisch betrachtet zeigt
die bereits getroffene Entscheidung der schwedischen Reichsbank, bei
schrumpfender Wirtschaft einen Negativ-Leitzins zu setzen und damit
Geldhortung zu verhindern, dass ein Übergang zu einem anderen Geldsystem
jetzt schon möglich ist. MM:
Vielen Muslimen in Deutschland ist gar nicht bekannt, dass es solche
christliche Initiativen, wie die von Ihnen initiierte, gibt. Zwar
richtet sich Ihr Aufruf zunächst verständlicher- und sinnvollerweise an
die Mehrheitsgesellschaft, aber können Sie sich auch vorstellen, das man
in solchen für alle Bürger wichtigen Aspekten des Zusammenlebens
religionsübergreifend kooperieren kann? Kastner:
Wie oben schon angedeutet und auch in den Thesen explizit erwähnt, sehen
wir gerade in der Frage von Geld und Zins, die für uns gleichbedeutend
ist mit der Frage Gott oder Mammon, da durch den Zins das Tauschmittel
Geld verabsolutiert und zum Selbstzweck wird, erhebliche
Anknüpfungspunkte für den interreligiösen Dialog. Aus pragmatischer
Sicht gilt es, zum Beispiel den im "Islamic Banking" anzutreffenden
Grundsatz der Gewinn- und (!) Verlustbeteiligung bei Darlehensgeschäften
aufzugreifen. Das zeigt, die Gebote des Koran und der heiligen Schrift
zum ökonomischen Verhalten sind keine Appelle einer vergangenen Zeit,
die ihre Aktualität eingebüßt haben. „Dein Reich komme, wie im Himmel
so auf Erden“, beten die Christen im "Vater unser". Gerade jetzt, da
wir am Scheideweg einer ökonomisch, ökologisch wie sozial höchst
dramatischen Entwicklung stehen, müssen wir endlich begreifen, dass der
Glaube nicht an den Toren der ökonomischen Vernunft halt machen darf,
sondern diese in seinen Grundsätzen maßgeblich zu leiten hat. Von daher
wäre es auch gut und hilfreich, wenn an unserer
Tagung zu konkreten Alternativen am 19. und 20. März 2010 an der TU in
Dortmund auch islamische Glaubensbrüder teilnehmen könnten. MM:
Herr Kastner, wir danken für das Interview. |