Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Heiko Kastner
 

Muslim-Markt interviewt
Heiko Kastner, Mitinitiator "9,5 Thesen gegen Wachstumszwang und für ein christliches Finanzsystem"

14.11.2009

Heiko Kastner (Jahrgang 1966), hat Politikwissenschaft, Germanistik und Volkswirtschaftslehre in Mainz und Hamburg studiert. Nach Studien-Abschluss zum Diplom-Politologen (1995) war er freiberuflich in Köln in der Erwachsenenbildung tätig (evang. Melanchthon-Akademie, Volkshochschule). Seit 2001 ist er in Meppen geschäftsführend tätig in einem Einzelhandelsbetrieb für Uhren, Schmuck und Augenoptik. Er war langjährig engagiert in der Lokalen Agenda 21 im Themen-Bereich "Zukunft der Arbeit". 1989 ist er aus der katholischen Kirche ausgetreten "im Sinne der aufklärerischen Emanzipation vom engen Moralkorsett der Kirche", wie er selbst sagt.  Die intensive Beschäftigung mit seinem Buch "Mythos Marktwirtschaft - Die irrationale Herrschaft des Geldes über Arbeit, Mensch und Natur" führte dazu, dass er sein Entscheidung revidiert hat.

Als Dipl.-Politologe, Buchautor und Kaufmann ist Kastner Mitinitiator der "9,5 Thesen gegen Wachstumszwang und für ein christliches Finanzsystem". Am 30.10.2009, dem Weltspartag und Vorabend zum Reformationstag hat der Initiativkreis "9,5" (Mitglieder der "Christen für gerechte Wirtschaftsordnung"),  eine medienträchtige Aktion an der Frankfurter Paulskirche durchgeführt. Im Stile Martin Luthers wurden wir mit dem Thesenanschlag "9,5 Thesen gegen Wachstumszwang und für ein christliches Finanzsystem" auf die Zins-Problematik sowie auf die Aktualität und das gerade im Blick auf nachhaltiges Wirtschaften wegweisende Potential der biblischen Botschaft hingewiesen.

Heiko Kastner ist verheiratet hat drei Kinder und lebt in Meppen.

MM: Sehr geehrter Herr Kastner, während das alte Testament das Zinsverbot explizit erwähnt, leben zumindest die Landeskirchen nicht schlecht vom Zins und bisher hielt man das Zinsverbot eher für eine muslimische Forderung. Wacht das Christentum diesbezüglich auf?

Kastner: Deshalb haben wir den Thesenanschlag initiiert: Von den christlichen Kirchen ist zu den tieferen Ursachen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht viel zu hören – im Gegensatz zur moslemischen Welt, wo das Zinsverbot ja immer noch gilt und das "Islamic Banking" einen wachsenden Stellenwert einnimmt. Die jüngste Sozialenzyklika des Papstes dagegen ist eine große Enttäuschung. Das prophetische Wort der Thesen soll die Diskussion über die Rolle des Zinses in unserer Wirtschaft auslösen und die "strukturelle Sünde" benennen, die im gegenwärtigen Geldsystem liegt – quer zur offiziellen Lesart der Kirchen, die lediglich jeden Einzelnen zum ethisch verantwortlichen Umgang mit Geld auffordert. Ohne das Zinstabu zu diskutieren und auch praktisch anzugehen, kommt dies letztendlich einer Quadratur des Kreises gleich.

MM: Was ist unter dem Initiativkreis "9,5" zu verstehen, und warum überhaupt neun Komma fünf und nicht zehn?

Kastner: 9,5 bezieht sich natürlich auf die 95 Thesen Martin Luthers – der ja in seiner Zeit auch schon ein großer Zinskritiker war. Wir, das sind zwei gläubige Ökonomen und zwei Theologen, verweisen damit auch auf die jahrtausende alte Tradition des Darlehensverbotes auf Zins im Christentum – vom alten Testament, dem neuen Testament, den Kirchenvätern, der Bekräftigung durch zahlreichen Konzilen der katholischen Kirche bis hin zur bedeutenden Enzyklika "Vix pervenit" von Papst Benedikt XIV. im Jahre 1745. Erst in den 1980er Jahren wurde das Zinsverbot aus dem kanonischen Recht der Kirche ohne weitere Diskussionen entfernt. Die heutige kirchliche Praxis ist also sowohl unbiblisch als auch wider die eigene kirchliche Tradition.

MM: Dass ein Christ die Dreieinigkeit kritisiert, kommt selten vor. Mit Bezug auf Goethe verweisen Sie auf die verhängnisvolle "Dreieinigkeit" von "Krieg, Handel, Piraterie", was darauf hindeutet, dass es kein neues Phänomen ist. Neu aber ist, dass sich Christen intensiv dagegen engagieren. Wie kam es dazu?

Kastner: Im Laufe meiner Arbeit am Buch "Mythos Marktwirtschaft" – die ich ja zunächst aus ökonomischem Blickwinkel heraus begonnen habe – musste ich feststellen, wie sehr die sich naturwissenschaftlich gebende Volkswirtschaftslehre ihre mathematischen Modelle auf kaum hinterfragte Dogmen aufgebaut hat. Das sind zum Teil unhaltbare Glaubenssätze, über 200 Jahre hinweg weitgehend unhinterfragt. Ein Ökonomiestudent hat die sehr schnell verinnerlicht und stellt sie später kaum mehr in Frage, zumal dann nicht, wenn er als Wissenschaftler Karriere machen will. Zu diesen Dogmen gehört die einseitige und dem christlichen Menschenbild völlig zuwider laufende Vorstellung, der Mensch sei ausschließlich (!) egoistisch, sprich auf die Mehrung seines individuellen Nutzens hin orientiert. Dazu zählt aber auch das Dogma von der "Neutralität des Geldes" – Geld als der Realwirtschaft untergeordnetes Tauschmittel. Der Zins erscheint vor diesem Hintergrund schlicht als wichtiges Regulierungsinstrument, seine Problematik in puncto Wachstumszwang und Umverteilung bleibt hingegen völlig außer Sicht. So zum Beispiel die Tatsache, das wir inzwischen einen Zinsanteil in den Verbraucherpreisen haben von mehr als 30 Prozent – diese Zinsen wiederum fließen zu 90 Prozent an die "oberen Zehntausend" und von dort in spekulative Blasen, weil die Vermögenden ihre Konsumbedürfnisse irgendwann übererfüllt haben. Und was dann passiert, ist hinlänglich bekannt.

MM: Sie selbst handeln als Mittelständler u.a. mit wertvollem Gold. Als Gegenwert erhalten Sie Papier und Ziffern auf dem Konto, die von sich aus keinen Wert haben. Aus dem normierten Schuldschein von einst ist ein "fiktiver" Eigenwert geworden, der sich sogar selbst grenzenlos vermehren kann. Was wäre denn die realistische Alternative?

Kastner: Die Frage zielt natürlich auf die Rückkehr zur Golddeckung – die angesichts drohender Hyperinflation ja in der Diskussion ist, die ich jedoch für unrealistisch, ja sogar für gefährlich halte. Um das knappe Gold wurden schließlich in der Geschichte immer wieder Kriege geführt, ganze Völker wie die Mayas und Inkas regelrecht ausgemerzt. Nein, Geld ist letztlich eine Vereinbarung und als Tauschmittel für eine arbeitsteilige Gesellschaft auch unverzichtbar. Es geht darum, ein Geldsystem ohne leistungslose Selbstvermehrung von Vermögen durch Zinsen zu etablieren, das sich wie ein elastischer Mantel um die Realwirtschaft legt, d.h. wachsen, aber auch schrumpfen kann. Wie in der Natur darf und kann es nichts geben, das ewig wächst. Das ist allein eine göttliche Kategorie. Das bestehende System fordert indes die grenzenlose Vermehrung des Geldes über Kredit notwendig heraus, weil im Moment der Schuldenaufnahme zuwenig Geld gibt, um Darlehen und Zins zurückzahlen zu können. Das geht dann nur über zusätzliches Wachstum, d.h. weitere Ausbeutung (begrenzter) Ressourcen und einen immer heftigeren Verdrängungswettbewerb, der ja inzwischen weltweit zur viel kritisierten Herrschaft der Konzerne geführt und den unternehmerischen Mittelstand immer stärker in Bedrängnis gebracht hat. Ein Geldsystem mit einer Liquiditätsabgabe auf Bar- und Buchgeld und ohne Vermögenszins auf Spareinlagen wäre dagegen ein wertstabiles und dienendes Geld in der primären Funktion als Tauschmittel und ohne Inflation!

MM: Einmal abgesehen davon, dass jenes als Kapitalistisch bezeichnete Wirtschaftsystem unmenschlich und unnatürlich ist, verdinglicht es Menschen und vergöttert Dinge. Wie aber kann man einer sich als christlich verstehenden Gesellschaft erläutern, dass ihr zentrales Wirtschaftssystem alles andere als christlich ist?

Kastner: „Wer in Not ist, dem soll geholfen werden“ – diesem Wort Jesu Christi steht das gegenwärtige Geldsystem diametral entgegen. Im Zinsgeldsystem verdient der Geldbesitzer an der Not desjenigen, der Geld braucht, um z.B. eine Investition tätigen zu können. Die Crux liegt hier in der Einseitigkeit der Risikoverteilung: Während der Kreditnehmer ja noch gar nicht wissen kann, ob sich seine kreditfinanzierte Investition in Zukunft auch rechnet, besteht der Geldverleiher - der ja Geld verleiht, weil er selbst mehr hat, als er braucht - darauf, zusätzlich zum verliehenen Geld auch noch einen gleichsam sakrosankten Zins zu erhalten. Über längere Laufzeiten betrachtet, ergibt sich da häufig das Doppelte der Darlehenssumme. Schafft der Kreditnehmer nicht Tilgung und Zins, kommt es zur Eigentumsübertragung. Hier also hat sich der Mammonismus der Moderne institutionalisiert – Zukunftsangst und Zukunftssicherheit werden für einige Wenige auf Kosten der Vielen und der natürlichen Schöpfung auf Geld und Materiellem gebaut. Dass diese Rechnung letztendlich eine das Leben gefährdende Illusion ist, wie alle Weltreligionen mahnend immer schon gesagt haben, zeigt gegenwärtig das Dreigestirn der globalen Krisen: Finanzkrise, Energiekrise, Klimakrise. Wir müssen als Christen endlich wieder darüber sprechen, dass es Sicherheit und Zuversicht nur im Vertrauen auf Gott und die Liebe unter den Menschen gibt. Deshalb treten wir für ein Geldsystem ein, dass diese Beziehungen fördert, anstatt sie zu zerstören.

MM: Haben Sie auch eine Idee für den "Übergang". Denn schließlich ist Deutschland mit Zinseszins verschuldet. Wie kann man da raus kommen?

Kastner: Die Bibel hat dafür eine klare Regelung – Schuldenerlass! Die christliche Erlassjahr-Kampagne zum heiligen Jahr 2000 hat diesbezüglich einige Entlastungen für die Entwicklungsländer gebracht, die schließlich seit den 80er Jahren mehr Zinsen an die Industrieländer zahlen als wir Ihnen an Entwicklungshilfe zukommen lassen. Aber auch hier haben wir die Situation, dass seit über 30 Jahren die Zinsrate in den Industrieländern über der realwirtschaftlichen Wachstumsrate liegt, was bedeutet, dass Schulden wie Vermögen durch den Zins zunehmen und zwar exponentiell! Diese Spirale zu durchbrechen, wäre zumindest ein z.B. einjähriges Moratorium angezeigt: In Deutschland könnten damit allein die öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen für die nächsten 10 Jahre bezahlt werden! Das wäre natürlich eine politische Entscheidung, die gegenwärtig alles andere als realistisch erscheint. Rein ökonomisch betrachtet zeigt die bereits getroffene Entscheidung der schwedischen Reichsbank, bei schrumpfender Wirtschaft einen Negativ-Leitzins zu setzen und damit Geldhortung zu verhindern, dass ein Übergang zu einem anderen Geldsystem jetzt schon möglich ist.

MM: Vielen Muslimen in Deutschland ist gar nicht bekannt, dass es solche christliche Initiativen, wie die von Ihnen initiierte, gibt. Zwar richtet sich Ihr Aufruf zunächst verständlicher- und sinnvollerweise an die Mehrheitsgesellschaft, aber können Sie sich auch vorstellen, das man in solchen für alle Bürger wichtigen Aspekten des Zusammenlebens religionsübergreifend kooperieren kann?

Kastner: Wie oben schon angedeutet und auch in den Thesen explizit erwähnt, sehen wir gerade in der Frage von Geld und Zins, die für uns gleichbedeutend ist mit der Frage Gott oder Mammon, da durch den Zins das Tauschmittel Geld verabsolutiert und zum Selbstzweck wird, erhebliche Anknüpfungspunkte für den interreligiösen Dialog. Aus pragmatischer Sicht gilt es, zum Beispiel den im "Islamic Banking" anzutreffenden Grundsatz der Gewinn- und (!) Verlustbeteiligung bei Darlehensgeschäften aufzugreifen. Das zeigt, die Gebote des Koran und der heiligen Schrift zum ökonomischen Verhalten sind keine Appelle einer vergangenen Zeit, die ihre Aktualität eingebüßt haben. „Dein Reich komme, wie im Himmel so auf Erden“, beten die Christen im "Vater unser". Gerade jetzt, da wir am Scheideweg einer ökonomisch, ökologisch wie sozial höchst dramatischen Entwicklung stehen, müssen wir endlich begreifen, dass der Glaube nicht an den Toren der ökonomischen Vernunft halt machen darf, sondern diese in seinen Grundsätzen maßgeblich zu leiten hat. Von daher wäre es auch gut und hilfreich, wenn an unserer Tagung zu konkreten Alternativen am 19. und 20. März 2010 an der TU in Dortmund auch islamische Glaubensbrüder teilnehmen könnten.

MM: Herr Kastner, wir danken für das Interview.

Links zum Thema

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt