MM: Sehr
geehrter Herr Prof. Sylvers, Ihr Hauptforschungsgebiet war und ist die
Geschichte der USA. Dabei sind Sie in Deutschland u.a. durch einen
Vortrag über die Israel-Lobby in den USA aufgefallen. Was ist unter der Israel-Lobby
zu verstehen?
Prof. Sylvers: Auch wenn ich mit
Interessengruppen (Pressure groups) im heutigen US-politischen System
beschäftigt war, hatte ich als Historiker vor meiner Niederlassung in
Deutschland nie mit der Israel-Lobby in den USA zu tun. Natürlich gibt
es eine Israel-Lobby auch in Italien, wo ich dreißig Jahre lang Dozent
war, und ich hatte auch einmal einen Konflikt mit dieser: Es handelte
sich um eine sehr milde Petition an das Europäische Parlament über die
Menschenrechtslage in den besetzten Territorien und die EU-Politik.
Diese Petition hatte dann die übliche Verleumdung wegen angeblichen
Antisemitismus bewirkt. Aber in Italien ist eine solche Lobby nicht so
wichtig. In Deutschland war ich sofort beeindruckt, wie sehr nicht nur
der Philosemitismus sondern auch der Pro-Zionismus die politische,
ideologische und Medienwelt prägt. Zu sagen, dies ist political
correctness, wäre sehr wenig. Zusammen mit Antikommunismus und einem
bürgerlichen Pro-Europa-Bewusstsein ist die Verteidigung Israels Politik
eine der leitenden Prinzipien der deutschen Politik – trotz der Wirkung
über das Palästinensische Volk. Die Ironie der Geschichte ist ziemlich
stark: Ein Versuch zur Wiedergutmachung nach der Schande der
Judenverfolgung und –vernichtung macht Deutschland zu einem Komplizen
der ständigen israelischen Angriffe auf ein anderes Volk.
Zum zentralen Thema: Die Israel-Lobby ist in
allen Ländern eine Struktur, mal formell, mal informell, von Juden,
jüdischen Organisationen und einzelnen Nicht-Juden, deren Hauptanliegen
die zwei folgenden sind: Erstens, die unbegrenzte Unterstützung Israels,
abgesehen davon, was die jetzige Regierung in Israel ist und was sie
macht, und zweitens, jede Kritik an Israel zu widerlegen. In den USA ist
diese Lobby sehr stark, mindestens seit der Reagan-Ära der 1980er Jahre.
Mit einem polemischem, aber nicht unfairen Ausdruck könnten wir sagen,
dass es für die Lobby darum geht: „Israel darf alles“, und „man darf
Israel nicht kritisieren“.
MM: Steht denn die Mehrheit der Juden
mit Staatsbürgerschaft der USA hinter jener Lobby?
Prof. Sylvers: Bis vor kurzer Zeit hat
man nicht viele jüdische Stimmen gegen Israel bzw. gegen die Israel-Lobby
gehört. Wie man weiß, sind in den USA die ethnischen Identitäten oft die
wichtigsten politischen Faktoren, mehr als Klasse oder die Bindung an
eine spezifische Partei. Ein Beziehung zu Israel ist für die meisten
Juden wie die zu Italien für die Italoamerikaner oder zu Irland für die
irischen Amerikaner. D.h. die Juden in den USA haben akzeptiert, dass
sie – durch eine gemeinsame Geschichte der Verfolgung - ein Volk sind
und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Außerdem ist es für sie beinah
so, als ob sie aus Israel gekommen wären, wie die anderen Immigranten aus
ihren Ländern. Bezüglich dieses letzten Punktes kann man nachlesen,
früher z.B. bei Arthur Köstler und heute bei Shlomo Sand, dass dies
eher fragwürdig ist.
In letzter Zeit, seit die israelische Politik
im Inneren und in den besetzten Territorien immer stärker zu einer
gewaltigen kolonialen Herrschaft über die Palästinenser mit Rassismus,
Ressourcen- und Landräuberei geraten ist, gibt es dissidente Stimmen.
Dies sollte nicht verwundern, wenn man die Rolle der US-Juden z.B. in
der Bewegung für afroamerikanisches Bürgerrecht von Anfang des 20.
Jahrhunderts an bedenkt. Wie könnte eine solche ethnische Gruppe so
einfach akzeptieren, dass in Israel 20% der Bevölkerung diskriminiert
und verachtet wird? Und wie können eigentlich Juden in aller Welt, die
in allen progressiven Bewegungen der Weltgeschichte eine wichtige Stelle
eingenommen haben, z.B. letztlich im Kampf gegen die Apartheid in
Südafrika, eine seit 1967 völlig illegale Besatzung in Nahost ad
infinitum akzeptieren? Und dann Gaza: Eine jüdische Redewendung besagt,
dass, wer eine Kind rettet, die Menschheit rettet. Da die zionistische
Barbarei in Gaza über 400 Kinder ermordet hat, ist es kein Wunder, dass
einige Juden beginnen, bedenklich über "ihr" Land zu werden.
Mann kann auch hinzufügen, dass die offizielle
US-Politik seit vierzig Jahren anti-rassistisch und die öffentliche
Meinung geändert ist. Israelischer Rassismus, z.B. in Schulbüchern,
gegenüber den Palästinensern, muss für viele US-Amerikaner als eine
Erscheinung aus einer vergangenen Epoche wirken.
Wenn die neue Obama-Regierung etwas Neues in
Nahost beginnen möchte, ist die Entwicklung des US-amerikanischen
Bewusstseins über den Nahen Osten, und welche politischen Formen es
findet, eine Kernfrage. Die Regierungspolitik in den USA reagiert auf
organisierten Druck. Auch Stimmen von "oppositionellen" Juden, und von
anderen, die gegen die traditionelle Unterstützung Israels sind,
könnten, zusammen mit Stimmen aus der muslimischen und arabischen Welt
in den USA durchaus eine Wirkung haben. Aber zuerst müssten diese
Stimmen sich zu Wort melden. Anderseits werden die Worte des Präsidenten
nur Worte bleiben; er kann nur agieren, wenn er den Eindruck hat,
mindestens einen Teil der Bevölkerung hinter sich zu haben.
MM: Wie wirkt die - im Gegensatz zu
manchen Verschwörungsvorstellungen - nicht geheime, sondern in weiten
Teilen sehr offene Lobbyarbeit auf die US-amerikanische Bevölkerung?
Gibt es keinen Widerstand gegen jene Aspekte der Lobbyarbeit, die den
USA schaden?
Prof. Sylvers: Wie schon erläutet,
agiert die Lobby sowohl direkt im politischen System, um die
Nahost-Außenpolitik zu bestimmen, als auch in der öffentlichen Meinung,
um die Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen. Das erste wird
hauptsächlich durch Geld bewirkt, das zweite durch die
Antisemitismus-Verleumdung. Politik erfolgreich zu machen bedeutet, viel
Geld einzusetzen, und in den USA gibt es fast keine legale Grenze dafür,
wenn es von Geldgeber und Empfänger offen erklärt wird. Auf diese Weise
werden von der Lobby Kandidaten gekauft, auch wenn es in einem Wahlkreis
keine Juden gibt und Nahost dort auch kein Thema ist. In den Medien und
Universitäten, zwei Strukturen, die die öffentliche Meinung stark
beeinflussen, wird fast jede Kritik von den verschiedensten
Organisationen und Einzelvertretern der Lobby an Israel mit dem
Antisemitismus-Vorwurf beantwortet.
Bis jetzt hat die Lobby auf beiden Gebieten
starke Erfolge gehabt. Es ist gefährlich, sogar sehr gefährlich, die
Lobby als Gegner zu haben. Nicht wenige Karrieren sind durch ihre
Gegnerschaft gescheitert: Politiker wurden nicht wiedergewählt und
Akademiker ausgegrenzt, wenn nicht entlassen. Meistens ist ein Angriff
von Seiten der Lobby nicht nötig, da ihre Macht bekannt und allgemein
gefürchtet ist.
Erst wenn die Vorstellung über Israel negativer
wird und seine Politik sich ganz offensichtlich als schädlich für die
USA erweist, würde die Lobby stärker kritisiert werden. Man müsste
abwarten, ob dies geschehen könnte, ohne dass eine Kritik an Israel und
seiner Lobby von einem wahren Antisemitismus begleitet würde. Könnte man
vermeiden, dass eine solche Kritik zugleich Vorurteile äußerte, wie z.
B. „die Juden haben zuviel Macht“, „die Juden sind unsere Unglück“,
usw.? Dies wäre ganz falsch, denn zum einen wird die Israel-Lobby nicht
nur von Juden gemacht und nie waren alle Juden ihre Unterstützer. Zum
anderen ist die Israel-Lobby ein geschichtlich begrenztes Phänomen,
die letztlich nicht nur fast immer in den Grenzen des Gesetzes agiert,
sondern auch ein Teil des herkömmlichen US-politischen Stils sind, und
dies wird sehr effektiv gemacht. Darum ist es etwas mehr als ein Witz,
darauf hinzuweisen, dass diejenigen, die vor allem unter dem Einfluss
der Lobby leiden, in diesem Fall die Palästinenser, in dieser Hinsicht
etwas von ihr lernen könnten.
MM: Wenn man sich versucht in die Lage
der meisten Muslime in dieser Welt und weiterer Bürger nichtwestlicher
Länder zu versetzen, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass die USA,
oder zumindest das heutige US-System zu dem verhasstesten Systemen der
Welt zählt. Haben Sie Verständnis dafür und wird diese Realität
innerhalb der USA überhaupt wahrgenommen?
Prof. Sylvers: Dass das heutige
US-System in breiten Teilen der Welt verhasst ist, sollte keine
Überraschung sein. Aber nicht zu unterschätzen ist, dass viele Aspekte
des US-Lebens (Massenkonsum, professioneller Raum für intelligente und
aufstrebende Individuen) eine große Faszination auf Europäer und
besonders in den nichtwestlichen Ländern ausüben. Es gibt jedenfalls,
ideologisch gesehen, keineswegs nur den real existierenden
kapitalistischen American Way of Life und die Außen- und Militärpolitik
dieses Landes. Die USA haben auch eine große Freiheitstradition auch auf
dem Feld der Religion, etwas, das Obama ganz legitim in seiner
Kairo-Rede betont hat. Im Vergleich mit Europa könnten, denke ich,
Muslime für die Ausübung ihres Glaubens viele positive Elemente in den
USA finden.
Aber was man über die USA im Ausland denkt,
interessiert andererseits nur wenige US-Bürger außerhalb des
Regierungskreises. Die verbreiteteste Meinung über USA-Kritiker ist,
dass man im Ausland nur neidisch ist oder oft von "bösen Führern"
manipuliert. Die meisten von ihnen würden gern in die USA immigrieren,
so denkt man, aber leider sei dies politisch nicht möglich.
MM: Die Geschichte von Imperien - so
unterschiedlich sie im Detail auch sein mögen – folgen einer gewissen
Gesetzmäßigkeit von Aufstieg Stagnation und Fall. Ist die Zeit des
US-Imperiums zu Ende?
Prof. Sylvers: Es ist wahr, dass die
Imperien bis zum Beispiel der USA einer Gesetzmäßigkeit gefolgt sind:
Italien, Holland, England, Deutschland, usw., waren alle im Vergleich zu
der sie umgebenden zuerst schwächer, dann mächtiger und nochmals
schwächer. Aber im Fall der USA ist es bis jetzt nicht so. Jeder
Generation hat erlebt, ab Ende des 18. Jh. bis heute, wie das Land immer
mächtiger wurde in seinen Möglichkeiten, die umgebende Welt immer
stärker zu beeinflussen, wenn nicht zu kontrollieren. In den 1960er und
1970er Jahren hatte das US-Imperium Schwierigkeiten: Der großartige Sieg
des vietnamesischen Volkes, ein welthistorisches Ereignis, - abgesehen
davon, was später mit ihrer Gesellschaft passiert ist –, und die
damalige Weltwirtschaftlage. So hat man begonnen zu spekulieren, dass
wir am Ende dieses Imperiums wären. Aber die Entwicklung der Dritten
Welt hat später enttäuscht, und der europäische und japanische
Kapitalismus haben sich als nicht stärker als di USA enthüllt. Kurzum:
Man hatte voreilig geurteilt. In vielen Fällen ging es um wishful
thinking, immer ein schlechtes Verfahren.
In seiner hervorragenden Geschichte über den
Verfall und Untergang des Römischen Kaiserreichs hat der englische
Historiker Edward Gibbon uns sehr intelligent darüber unterrichtet, dass
ein solcher "Verfall und Untergang" Hunderte von Jahren dauern könnte.
Ich möchte nicht sagen, dass dieser Prozess in Beziehung auf die USA so
lange dauern wird. Aber eine "objektive" Lage braucht immer subjektive
Kräfte, die eine glaubwürdige Herausforderung darstellen: andere Länder
oder Imperien, Klassenkräfte von außen – "Les damnés de la Terre" in
unterdrückten Gebieten -, oder Klassenkräfte innerhalb des leitenden
Imperiums, die die Lage nicht mehr akzeptieren wollen. Nur
Schwierigkeiten allein oder auch ein Zusammenbruch ohne eine dieser
soliden Herausforderungen bedeutet vielleicht einen "Verfall", aber noch
lange keinen "Untergang". Bis jetzt ist eine solche Herausforderung
nicht zu Stande gekommen: Den anderen Imperien (Europa und Japan) geht
es nicht besser, neue Wirtschaftsräume wie China sind mit dem noch
dominanten Imperium zu sehr verflochten, andere potenzielle Kräfte,
getroffen von dem Verschwinden des Realsozialismus, sind mehr als andere
verzweifelt, innere Kräfte in den USA haben bisher keinen politischen
oder ideologischen Weg gefunden, womit sie die existierenden Strukturen
ihren Interessen gemäß ändern könnten.
Nicht zu vergessen ist die ungewöhnliche
Fähigkeit der USA, durch ihre flexible Gesellschaft und ideologische
Basis unterschiedlichen Typen von Opposition auszuweichen. Ein
intelligenter und geschickter Präsident wie Obama kann möglicherweise
einen neuen Approach an die muslimische Welt finden. Das würde ihn aber
nicht unbedingt zu einem dramatischen Bruck mit Israel zwingen, selbst
wenn er eine sehr unintelligente und ungeschickte zionistische Regierung
in Israel vorfindet.
MM: Für den einfachen Bürger der USA
dürfte die Finanzkrise bzw. der faktische Zusammenbruch des Kapitalismus
eine größere Bedeutung haben, als jegliche Lobby-Arbeit für oder gegen
den Zionismus. Hat denn Israel heute noch die gleiche strategische
Bedeutung für die USA, wie zu ihrer Gründerzeit, ausgehend von den
Problemen, die der Kapitalismus und damit dessen Führungsmacht USA
haben?
Prof. Sylvers: Die Frage wird sicherlich
zu Recht gestellt. Nach Meinung John Mearsheimers und Stephen Walts in
ihrer präzisen Studie über die Israel-Lobby (Campus 2007) hatte Israel
im Kalten Krieg eine strategische Rolle für die USA. Es funktioniert
aber jetzt wegen seiner Konflikte mit der muslimischen Welt meistens als
negativer Faktor. Außerdem könnte die jetzige Wirtschaftskrise das
Nahost-Problem sehr weit aus dem Fokus der öffentlichen Meinung
verdrängen. In den USA berührt diese Krise das Leben fast aller Bürger,
von Lohnabhängigen bis zu Selbstständigen und middle managers, die
natürlich alle in erster Linie an ihrer persönlichen Situation
interessiert sind. Dieses Interesse könnte breitere Schichten dazu
bringen, den Argumenten der bisher wenigen Lobby-Gegner mehr Gehör zu
schenken, die behaupten, dass die Ressourcen der USA im Land bleiben und
nicht einem Kolonialregime zu Gute kommen sollten. Auf jeden Fall bleibt
es unklar, ob die Frage der Gerechtigkeit für die Palästinenser mit der
Diskussion über die Wirtschaftskrise verknüpft werden könnte.
MM: Sie haben sehr lange in Italien
gelebt und gelehrt. In Deutschland beschränkt sich die Wahrnehmung
bezüglich Italien zumeist auf die Mafia und den Reichtum sowie die
Affären von Berlusconi. Wie aber steht z.B. die Italienische Bevölkerung
zu den Palästinensern und gibt es dort auch eine Israel-Lobby?
Prof. Sylvers: Italien ist natürlich
viel mehr als Papst, Pizza, Mafia und Berlusconi — die jetzigen Zutaten
der deutschen Vorstellung. In Italien studieren viele Palästinenser. In
den 1980er Jahren während der Intifada hatte ich politische Kontakte mit
einigen, die in den naturwissenschaftlichen Fakultäten in Padua
beschäftigt waren. Die Italiener haben eine traditionelle Sympathie für
Unterdrückte und sehen die Palästinenser ein wenig wie ein
mittelmeerisches Volk, wie sie selbst eines sind. Natürlich gibt es auch
in diesem Land eine Israel-Lobby, die in diesen letzten Jahrzehnten
etwas stärker geworden ist, aber weniger einflussreich im Vergleich mit
Deutschland. Aus diesem Grunde war es dort einfacher, über Nahost zu
sprechen, und hoffentlich ist es so geblieben. Die italienischen Juden
sind zwar weniger zahlreich als in Deutschland, aber seit dem 19. Jh.
waren sie völlig in die nationale Einheitsbewegung (das "Risorgimento")
integriert. Darum gab es vielleicht keinen so primitiven, tief sitzenden
Antisemitismus wie in Nazi-Deutschland und auch früher. Wir sollten uns
immer daran erinnern, dass die Stärke der Israel-Lobby aus der
Erpressung wegen der deutschen Vergangenheit resultiert.
MM: Man sagt, dass Menschen mit dem
Alter eine gewisse Ruhe und Gelassenheit erlangen. Was empfehlen Sie
jungen "Heißbluten", die das Unrecht, welches z.B. die Palästinenser zu
erleiden haben oder auch andere imperialistische Ungerechtigkeiten
erleben? Wie kann man in einem Land wie Deutschland sich konstruktiv für
Gerechtigkeit einsetzen?
Prof. Sylvers: Palästinenser-"Heißblute"
haben mein ganzes Mitgefühl. Die Lage ihres Volkes ist tragisch, weil
die Unterdrückung so stark ist und ihr Gegner, Israel, so mächtig.
Außerdem wirkt die Tätigkeit der Israel-Lobby — in primus in den USA und
Deutschland — so nachhaltig, dass es schwierig ist, die Bevölkerung in
diesen Ländern mit einer elementaren Botschaft über Gerechtigkeit zu
erreichen. Ich bin etwas skeptisch gegenüber Linken im Westen, die den
Palästinensern Ratschläge geben möchten. Aber zwei Dinge, denke ich,
könnte man trotzdem äußern. Als Nicht-Gläubiger jüdischer Herkunft
erlaube ich mir, den 37. Psalm zu zitieren, wo geschrieben steht:
"Entrüste dich nicht über die Bösen, sei nicht neidisch über die
Übeltäter, denn wie das Gras werden sie bald verdorren." Aber auch
im gleichen Psalm: "Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als
der Überfluss vieler Gottloser". D.h., Vertrauen zu haben in den
Kampf und zukünftigen Sieg ist immer richtig.
Zweitens geht es ganz konkret darum, eine
korrekte Strategie zu finden, die einen Ausweg aus der jetzigen
verfahrenen Situation darstellt und das Volk einigt. Die im Ausland
lebenden Palästinenser haben sicherlich das zusätzliche Problem, dass
sie mit der Israel-Lobby konfrontiert werden, gegen welche man die
vorhandenen politischen Möglichkeiten nutzen muss. Und das bedeutet zu
verstehen, was auch der wenig informierte Bürger — z.B. in den USA und
Deutschland — denkt und warum. Es ist nötig, sich in die Politik dieser
Länder zu vertiefen, Alliierte zu finden und mit den Leuten zu reden.
MM: Abschließende Frage: Was ist Ihre
Motivation nach einem Leben in Forschung und Wissenschaft sich auf das
Glatteis zu begeben, gegen die Israel-Lobby zu agieren und damit alles
Aufgebaute aufs Spiel zu setzen?
Prof. Sylvers: Ich bin in der
glücklichen Lage, dass auch vorläufige unpopuläre Standpunkte nicht für
mich — hoffe ich — "alles aufs Spiel setzen." Ein EU-Bürger in
Deutschland ist relativ gut versichert, und bis jetzt habe ich keinen
Besuch weder vom Bundeskriminalamt noch dem Bundesnachrichtendienst
bekommen. Alles in allem habe ich in meiner Forschung und Lehrtätigkeit
immer eine Verbindung zwischen Wissen und Handeln gesucht. Da Israel die
Lage im Nahen Osten so eskaliert hat, finde ich es ganz normal, dass
sich auch Nicht-Spezialisten aufgerufen fühlen, sich einzumischen.
MM: Prof. Sylvers, wir danken für das
Interview. |