Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Sylvers
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Malcolm Sylvers, Professor für Geschichte der USA
14.7.2009

Malcolm Sylvers ist 1941 in New York (USA) geboren und hat in Brooklyn College, University of Wisconsin, der Sorbonne und der Universita' degli Studi di Firenze studiert. Die ersten Jahre seiner Lehrtätigkeit waren an Universitäten in Wisconsin und California. Ab 1971 lehrte er in Italien an den Universitäten von Chieti und Triest und seit 1982 an der Universita' Ca' Foscari Venedig, wo er Ordentlicher Professor für Geschichte der USA bis zu seiner Emeritierung 2006 war. In Italien war er in der kommunistischen Bewegung tätig.

Er war Visiting Scholar in der University of Warwick (England) und in der Reuther Library (Detroit, Michigan). 1984/85 erhielt er ein Stipendium der Volkswagen Stiftung am J. F. Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. In 1987 hielt er eine Vortragsreihe an verschiedenen finnischen Universitäten, wo er Gast der Akademie der Wissenschaften dieses Landes war. In 1987 war er Fellow des US-Amerikanischen Salzburger Seminars, im darauf folgenden Jahr Visiting Professor am Fachbereich Geschichte der Columbia University (New York). 1997 hatte er ein Stipendium des International Center for Jefferson Studies in Charlottesville, Virginia.

Nach seinen ersten Publikationen über italienische Immigration in den USA und die Rezeption von Antonio Gramsci arbeitete er über die Geschichte der Arbeiterbewegung der USA mit den Schwerpunkten Analyse der Gewerkschaften, der Communist Party und der Afro-amerikanischen Bewegung (Sinistra politica e movimento operaio negli Stati Uniti. Dal primo dopoguerra alla repressione liberal-maccartista, Napoli, 1984; Politica e ideologia nel comunismo statunitense, Venezia, 1989). Er hat auch Artikel auf Französisch über die Partei-Struktur der Kommunistischen Partei der USA und ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes veröffentlicht.

Er ist Autor der ersten Monographie über Thomas Jefferson auf Italienisch mit Auswahl seiner Schriften (Il penisero politico e sociale di Thomas Jefferson, Manduria, 1993). Hier versuchte er, Jefferson in den Zusammenhang der zeitgenössischen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der USA zu stellen. Er verglich die Auffassungen Jeffersons und Tocquevilles über das Wahlrecht in den USA.

Der gegenwärtige internationale Kapitalismus und seine Wirkung auf die sozialen und politischen Strukturen in den USA wurden untersucht in "Die USA-Anatomie einer Weltmacht - Zwischen Hegemonie und Krise" (Köln, 1999, auch auf Portugiesisch und Italienisch). Zu diesem Thema erschien seine Broschüre Il Mondo com'e': capitalismo contemporaneo e rapporti internazionali nel nuovo secolo, (Milano, 1999), ein Versuch der Anwendung von Lenins Imperialismus-Theorie auf die gegenwärtigen politökonomischen Prozesse. Artikel über dieses Thema sind auch auf Spanisch und Deutsch erschienen.

Von 1999 bis 2005 war er mit der historisch-kritischen Edition der Schriften von Marx und Engels beschäftigt. Er stellte die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) auf einer Tagung der Association of Documentary Editing (USA) vor und diskutierte das Thema "Marx, Engels und die USA" im Fachbereich Amerikanistik der Humboldt-Universität. Artikel darüber wurden auf Deutsch, Italienisch und Englisch veröffentlicht, darunter ein Aufsatz im Marx-Engels-Jahrbuch 2004. Ein weiterer Aufsatz von ihm über Marx’ und Engels’ Artikel in der New American Cyclopaedia erschien in den Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung.

Gegenwärtig arbeitet er über einen Abriss der Ideengeschichte der USA. Ein Aufsatz über dieses Thema ist in den Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät erschienen. Er ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2005.

Prof. Sylvers spricht Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch. Er ist  verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder aus früherer Ehe und lebt seit seiner Emeritierung in Berlin.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Sylvers, Ihr Hauptforschungsgebiet war und ist die Geschichte der USA. Dabei sind Sie in Deutschland u.a. durch einen Vortrag über die Israel-Lobby in den USA aufgefallen. Was ist unter der Israel-Lobby zu verstehen?

Prof. Sylvers: Auch wenn ich mit Interessengruppen (Pressure groups) im heutigen US-politischen System beschäftigt war, hatte ich als Historiker vor meiner Niederlassung in Deutschland nie mit der Israel-Lobby in den USA zu tun. Natürlich gibt es eine Israel-Lobby auch in Italien, wo ich dreißig Jahre lang Dozent war, und ich hatte auch einmal einen Konflikt mit dieser: Es handelte sich um eine sehr milde Petition an das Europäische Parlament über die Menschenrechtslage in den besetzten Territorien und die EU-Politik. Diese Petition hatte dann die übliche Verleumdung wegen angeblichen Antisemitismus bewirkt. Aber in Italien ist eine solche Lobby nicht so wichtig. In Deutschland war ich sofort beeindruckt, wie sehr nicht nur der Philosemitismus sondern auch der Pro-Zionismus die politische, ideologische und Medienwelt prägt. Zu sagen, dies ist political correctness, wäre sehr wenig. Zusammen mit Antikommunismus und einem bürgerlichen Pro-Europa-Bewusstsein ist die Verteidigung Israels Politik eine der leitenden Prinzipien der deutschen Politik – trotz der Wirkung über das Palästinensische Volk. Die Ironie der Geschichte ist ziemlich stark: Ein Versuch zur Wiedergutmachung nach der Schande der Judenverfolgung und –vernichtung macht Deutschland zu einem Komplizen der ständigen israelischen Angriffe auf ein anderes Volk.

Zum zentralen Thema: Die Israel-Lobby ist in allen Ländern eine Struktur, mal formell, mal informell, von Juden, jüdischen Organisationen und einzelnen Nicht-Juden, deren Hauptanliegen die zwei folgenden sind: Erstens, die unbegrenzte Unterstützung Israels, abgesehen davon, was die jetzige Regierung in Israel ist und was sie macht, und zweitens, jede Kritik an Israel zu widerlegen. In den USA ist diese Lobby sehr stark, mindestens seit der Reagan-Ära der 1980er Jahre. Mit einem polemischem, aber nicht unfairen Ausdruck könnten wir sagen, dass es für die Lobby darum geht: „Israel darf alles“, und „man darf Israel nicht kritisieren“.

MM: Steht denn die Mehrheit der Juden mit Staatsbürgerschaft der USA hinter jener Lobby?

Prof. Sylvers: Bis vor kurzer Zeit hat man nicht viele jüdische Stimmen gegen Israel bzw. gegen die Israel-Lobby gehört. Wie man weiß, sind in den USA die ethnischen Identitäten oft die wichtigsten politischen Faktoren, mehr als Klasse oder die Bindung an eine spezifische Partei. Ein Beziehung zu Israel ist für die meisten Juden wie die zu Italien für die Italoamerikaner oder zu Irland für die irischen Amerikaner. D.h. die Juden in den USA haben akzeptiert, dass sie – durch eine gemeinsame Geschichte der Verfolgung - ein Volk sind und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Außerdem ist es für sie beinah so, als ob sie aus Israel gekommen wären, wie die anderen Immigranten aus ihren Ländern. Bezüglich dieses letzten Punktes kann man nachlesen, früher z.B. bei Arthur Köstler und heute bei Shlomo Sand, dass dies eher fragwürdig ist.

In letzter Zeit, seit die israelische Politik im Inneren und in den besetzten Territorien immer stärker zu einer gewaltigen kolonialen Herrschaft über die Palästinenser mit Rassismus, Ressourcen- und Landräuberei geraten ist, gibt es dissidente Stimmen. Dies sollte nicht verwundern, wenn man die Rolle der US-Juden z.B. in der Bewegung für afroamerikanisches Bürgerrecht von Anfang des 20. Jahrhunderts an bedenkt. Wie könnte eine solche ethnische Gruppe so einfach akzeptieren, dass in Israel 20% der Bevölkerung diskriminiert und verachtet wird? Und wie können eigentlich Juden in aller Welt, die in allen progressiven Bewegungen der Weltgeschichte eine wichtige Stelle eingenommen haben, z.B. letztlich im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, eine seit 1967 völlig illegale Besatzung in Nahost ad infinitum akzeptieren? Und dann Gaza: Eine jüdische Redewendung besagt, dass, wer eine Kind rettet, die Menschheit rettet. Da die zionistische Barbarei in Gaza über 400 Kinder ermordet hat, ist es kein Wunder, dass einige Juden beginnen, bedenklich über "ihr" Land zu werden.

Mann kann auch hinzufügen, dass die offizielle US-Politik seit vierzig Jahren anti-rassistisch und die öffentliche Meinung geändert ist. Israelischer Rassismus, z.B. in Schulbüchern, gegenüber den Palästinensern, muss für viele US-Amerikaner als eine Erscheinung aus einer vergangenen Epoche wirken.

Wenn die neue Obama-Regierung etwas Neues in Nahost beginnen möchte, ist die Entwicklung des US-amerikanischen Bewusstseins über den Nahen Osten, und welche politischen Formen es findet, eine Kernfrage. Die Regierungspolitik in den USA reagiert auf organisierten Druck. Auch Stimmen von "oppositionellen" Juden, und von anderen, die gegen die traditionelle Unterstützung Israels sind, könnten, zusammen mit Stimmen aus der muslimischen und arabischen Welt in den USA durchaus eine Wirkung haben. Aber zuerst müssten diese Stimmen sich zu Wort melden. Anderseits werden die Worte des Präsidenten nur Worte bleiben; er kann nur agieren, wenn er den Eindruck hat, mindestens einen Teil der Bevölkerung hinter sich zu haben.

MM: Wie wirkt die - im Gegensatz zu manchen Verschwörungsvorstellungen - nicht geheime, sondern in weiten Teilen sehr offene Lobbyarbeit auf die US-amerikanische Bevölkerung? Gibt es keinen Widerstand gegen jene Aspekte der Lobbyarbeit, die den USA schaden?

Prof. Sylvers: Wie schon erläutet, agiert die Lobby sowohl direkt im politischen System, um die Nahost-Außenpolitik zu bestimmen, als auch in der öffentlichen Meinung, um die Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen. Das erste wird hauptsächlich durch Geld bewirkt, das zweite durch die Antisemitismus-Verleumdung. Politik erfolgreich zu machen bedeutet, viel Geld einzusetzen, und in den USA gibt es fast keine legale Grenze dafür, wenn es von Geldgeber und Empfänger offen erklärt wird. Auf diese Weise werden von der Lobby Kandidaten gekauft, auch wenn es in einem Wahlkreis keine Juden gibt und Nahost dort auch kein Thema ist. In den Medien und Universitäten, zwei Strukturen, die die öffentliche Meinung stark beeinflussen, wird fast jede Kritik von den verschiedensten Organisationen und Einzelvertretern der Lobby an Israel mit dem Antisemitismus-Vorwurf beantwortet.

Bis jetzt hat die Lobby auf beiden Gebieten starke Erfolge gehabt. Es ist gefährlich, sogar sehr gefährlich, die Lobby als Gegner zu haben. Nicht wenige Karrieren sind durch ihre Gegnerschaft gescheitert: Politiker wurden nicht wiedergewählt und Akademiker ausgegrenzt, wenn nicht entlassen. Meistens ist ein Angriff von Seiten der Lobby nicht nötig, da ihre Macht bekannt und allgemein gefürchtet ist.

Erst wenn die Vorstellung über Israel negativer wird und seine Politik sich ganz offensichtlich als schädlich für die USA erweist, würde die Lobby stärker kritisiert werden. Man müsste abwarten, ob dies geschehen könnte, ohne dass eine Kritik an Israel und seiner Lobby von einem wahren Antisemitismus begleitet würde. Könnte man vermeiden, dass eine solche Kritik zugleich Vorurteile äußerte, wie z. B. „die Juden haben zuviel Macht“, „die Juden sind unsere Unglück“, usw.? Dies wäre ganz falsch, denn zum einen wird die Israel-Lobby nicht nur von Juden gemacht und nie waren alle Juden ihre Unterstützer. Zum anderen ist die Israel-Lobby ein geschichtlich begrenztes Phänomen, die letztlich nicht nur fast immer in den Grenzen des Gesetzes agiert, sondern auch ein Teil des herkömmlichen US-politischen Stils sind, und dies wird sehr effektiv gemacht. Darum ist es etwas mehr als ein Witz, darauf hinzuweisen, dass diejenigen, die vor allem unter dem Einfluss der Lobby leiden, in diesem Fall die Palästinenser, in dieser Hinsicht etwas von ihr lernen könnten.

MM: Wenn man sich versucht in die Lage der meisten Muslime in dieser Welt und weiterer Bürger nichtwestlicher Länder zu versetzen, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass die USA, oder zumindest das heutige US-System zu dem verhasstesten Systemen der Welt zählt. Haben Sie Verständnis dafür und wird diese Realität innerhalb der USA überhaupt wahrgenommen?

Prof. Sylvers: Dass das heutige US-System in breiten Teilen der Welt verhasst ist, sollte keine Überraschung sein. Aber nicht zu unterschätzen ist, dass viele Aspekte des US-Lebens (Massenkonsum, professioneller Raum für intelligente und aufstrebende Individuen) eine große Faszination auf Europäer und besonders in den nichtwestlichen Ländern ausüben. Es gibt jedenfalls, ideologisch gesehen, keineswegs nur den real existierenden kapitalistischen American Way of Life und die Außen- und Militärpolitik dieses Landes. Die USA haben auch eine große Freiheitstradition auch auf dem Feld der Religion, etwas, das Obama ganz legitim in seiner Kairo-Rede betont hat. Im Vergleich mit Europa könnten, denke ich, Muslime für die Ausübung ihres Glaubens viele positive Elemente in den USA finden.

Aber was man über die USA im Ausland denkt, interessiert andererseits nur wenige US-Bürger außerhalb des Regierungskreises. Die verbreiteteste Meinung über USA-Kritiker ist, dass man im Ausland nur neidisch ist oder oft von "bösen Führern" manipuliert. Die meisten von ihnen würden gern in die USA immigrieren, so denkt man, aber leider sei dies politisch nicht möglich.

MM: Die Geschichte von Imperien - so unterschiedlich sie im Detail auch sein mögen – folgen einer gewissen Gesetzmäßigkeit von Aufstieg Stagnation und Fall. Ist die Zeit des US-Imperiums zu Ende?

Prof. Sylvers: Es ist wahr, dass die Imperien bis zum Beispiel der USA einer Gesetzmäßigkeit gefolgt sind: Italien, Holland, England, Deutschland, usw., waren alle im Vergleich zu der sie umgebenden zuerst schwächer, dann mächtiger und nochmals schwächer. Aber im Fall der USA ist es bis jetzt nicht so. Jeder Generation hat erlebt, ab Ende des 18. Jh. bis heute, wie das Land immer mächtiger wurde in seinen Möglichkeiten, die umgebende Welt immer stärker zu beeinflussen, wenn nicht zu kontrollieren. In den 1960er und 1970er Jahren hatte das US-Imperium Schwierigkeiten: Der großartige Sieg des vietnamesischen Volkes, ein welthistorisches Ereignis, - abgesehen davon, was später mit ihrer Gesellschaft passiert ist –, und die damalige Weltwirtschaftlage. So hat man begonnen zu spekulieren, dass wir am Ende dieses Imperiums wären. Aber die Entwicklung der Dritten Welt hat später enttäuscht, und der europäische und japanische Kapitalismus haben sich als nicht stärker als di USA enthüllt. Kurzum: Man hatte voreilig geurteilt. In vielen Fällen ging es um wishful thinking, immer ein schlechtes Verfahren.

In seiner hervorragenden Geschichte über den Verfall und Untergang des Römischen Kaiserreichs hat der englische Historiker Edward Gibbon uns sehr intelligent darüber unterrichtet, dass ein solcher "Verfall und Untergang" Hunderte von Jahren dauern könnte. Ich möchte nicht sagen, dass dieser Prozess in Beziehung auf die USA so lange dauern wird. Aber eine "objektive" Lage braucht immer subjektive Kräfte, die eine glaubwürdige Herausforderung darstellen: andere Länder oder Imperien, Klassenkräfte von außen – "Les damnés de la Terre" in unterdrückten Gebieten -, oder Klassenkräfte innerhalb des leitenden Imperiums, die die Lage nicht mehr akzeptieren wollen. Nur Schwierigkeiten allein oder auch ein Zusammenbruch ohne eine dieser soliden Herausforderungen bedeutet vielleicht einen "Verfall", aber noch lange keinen "Untergang". Bis jetzt ist eine solche Herausforderung nicht zu Stande gekommen: Den anderen Imperien (Europa und Japan) geht es nicht besser, neue Wirtschaftsräume wie China sind mit dem noch dominanten Imperium zu sehr verflochten, andere potenzielle Kräfte, getroffen von dem Verschwinden des Realsozialismus, sind mehr als andere verzweifelt, innere Kräfte in den USA haben bisher keinen politischen oder ideologischen Weg gefunden, womit sie die existierenden Strukturen ihren Interessen gemäß ändern könnten.

Nicht zu vergessen ist die ungewöhnliche Fähigkeit der USA, durch ihre flexible Gesellschaft und ideologische Basis unterschiedlichen Typen von Opposition auszuweichen. Ein intelligenter und geschickter Präsident wie Obama kann möglicherweise einen neuen Approach an die muslimische Welt finden. Das würde ihn aber nicht unbedingt zu einem dramatischen Bruck mit Israel zwingen, selbst wenn er eine sehr unintelligente und ungeschickte zionistische Regierung in Israel vorfindet.

MM: Für den einfachen Bürger der USA dürfte die Finanzkrise bzw. der faktische Zusammenbruch des Kapitalismus eine größere Bedeutung haben, als jegliche Lobby-Arbeit für oder gegen den Zionismus. Hat denn Israel heute noch die gleiche strategische Bedeutung für die USA, wie zu ihrer Gründerzeit, ausgehend von den Problemen, die der Kapitalismus und damit dessen Führungsmacht USA haben?

Prof. Sylvers: Die Frage wird sicherlich zu Recht gestellt. Nach Meinung John Mearsheimers und Stephen Walts in ihrer präzisen Studie über die Israel-Lobby (Campus 2007) hatte Israel im Kalten Krieg eine strategische Rolle für die USA. Es funktioniert aber jetzt wegen seiner Konflikte mit der muslimischen Welt meistens als negativer Faktor. Außerdem könnte die jetzige Wirtschaftskrise das Nahost-Problem sehr weit aus dem Fokus der öffentlichen Meinung verdrängen. In den USA berührt diese Krise das Leben fast aller Bürger, von Lohnabhängigen bis zu Selbstständigen und middle managers, die natürlich alle in erster Linie an ihrer persönlichen Situation interessiert sind. Dieses Interesse könnte breitere Schichten dazu bringen, den Argumenten der bisher wenigen Lobby-Gegner mehr Gehör zu schenken, die behaupten, dass die Ressourcen der USA im Land bleiben und nicht einem Kolonialregime zu Gute kommen sollten. Auf jeden Fall bleibt es unklar, ob die Frage der Gerechtigkeit für die Palästinenser mit der Diskussion über die Wirtschaftskrise verknüpft werden könnte.

MM: Sie haben sehr lange in Italien gelebt und gelehrt. In Deutschland beschränkt sich die Wahrnehmung bezüglich Italien zumeist auf die Mafia und den Reichtum sowie die Affären von Berlusconi. Wie aber steht z.B. die Italienische Bevölkerung zu den Palästinensern und gibt es dort auch eine Israel-Lobby?

Prof. Sylvers: Italien ist natürlich viel mehr als Papst, Pizza, Mafia und Berlusconi — die jetzigen Zutaten der deutschen Vorstellung. In Italien studieren viele Palästinenser. In den 1980er Jahren während der Intifada hatte ich politische Kontakte mit einigen, die in den naturwissenschaftlichen Fakultäten in Padua beschäftigt waren. Die Italiener haben eine traditionelle Sympathie für Unterdrückte und sehen die Palästinenser ein wenig wie ein mittelmeerisches Volk, wie sie selbst eines sind. Natürlich gibt es auch in diesem Land eine Israel-Lobby, die in diesen letzten Jahrzehnten etwas stärker geworden ist, aber weniger einflussreich im Vergleich mit Deutschland. Aus diesem Grunde war es dort einfacher, über Nahost zu sprechen, und hoffentlich ist es so geblieben. Die italienischen Juden sind zwar weniger zahlreich als in Deutschland, aber seit dem 19. Jh. waren sie völlig in die nationale Einheitsbewegung (das "Risorgimento") integriert. Darum gab es vielleicht keinen so primitiven, tief sitzenden Antisemitismus wie in Nazi-Deutschland und auch früher. Wir sollten uns immer daran erinnern, dass die Stärke der Israel-Lobby aus der Erpressung wegen der deutschen Vergangenheit resultiert.

MM: Man sagt, dass Menschen mit dem Alter eine gewisse Ruhe und Gelassenheit erlangen. Was empfehlen Sie jungen "Heißbluten", die das Unrecht, welches z.B. die Palästinenser zu erleiden haben oder auch andere imperialistische Ungerechtigkeiten erleben? Wie kann man in einem Land wie Deutschland sich konstruktiv für Gerechtigkeit einsetzen?

Prof. Sylvers: Palästinenser-"Heißblute" haben mein ganzes Mitgefühl. Die Lage ihres Volkes ist tragisch, weil die Unterdrückung so stark ist und ihr Gegner, Israel, so mächtig. Außerdem wirkt die Tätigkeit der Israel-Lobby — in primus in den USA und Deutschland — so nachhaltig, dass es schwierig ist, die Bevölkerung in diesen Ländern mit einer elementaren Botschaft über Gerechtigkeit zu erreichen. Ich bin etwas skeptisch gegenüber Linken im Westen, die den Palästinensern Ratschläge geben möchten. Aber zwei Dinge, denke ich, könnte man trotzdem äußern. Als Nicht-Gläubiger jüdischer Herkunft erlaube ich mir, den 37. Psalm zu zitieren, wo geschrieben steht: "Entrüste dich nicht über die Bösen, sei nicht neidisch über die Übeltäter, denn wie das Gras werden sie bald verdorren." Aber auch im gleichen Psalm: "Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als der Überfluss vieler Gottloser". D.h., Vertrauen zu haben in den Kampf und zukünftigen Sieg ist immer richtig.

Zweitens geht es ganz konkret darum, eine korrekte Strategie zu finden, die einen Ausweg aus der jetzigen verfahrenen Situation darstellt und das Volk einigt. Die im Ausland lebenden Palästinenser haben sicherlich das zusätzliche Problem, dass sie mit der Israel-Lobby konfrontiert werden, gegen welche man die vorhandenen politischen Möglichkeiten nutzen muss. Und das bedeutet zu verstehen, was auch der wenig informierte Bürger — z.B. in den USA und Deutschland — denkt und warum. Es ist nötig, sich in die Politik dieser Länder zu vertiefen, Alliierte zu finden und mit den Leuten zu reden.

MM: Abschließende Frage: Was ist Ihre Motivation nach einem Leben in Forschung und Wissenschaft sich auf das Glatteis zu begeben, gegen die Israel-Lobby zu agieren und damit alles Aufgebaute aufs Spiel zu setzen?

Prof. Sylvers: Ich bin in der glücklichen Lage, dass auch vorläufige unpopuläre Standpunkte nicht für mich — hoffe ich — "alles aufs Spiel setzen." Ein EU-Bürger in Deutschland ist relativ gut versichert, und bis jetzt habe ich keinen Besuch weder vom Bundeskriminalamt noch dem Bundesnachrichtendienst bekommen. Alles in allem habe ich in meiner Forschung und Lehrtätigkeit immer eine Verbindung zwischen Wissen und Handeln gesucht. Da Israel die Lage im Nahen Osten so eskaliert hat, finde ich es ganz normal, dass sich auch Nicht-Spezialisten aufgerufen fühlen, sich einzumischen.

MM: Prof. Sylvers, wir danken für das Interview.

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