MM: Sehr
geehrter Herr Braunschweig, was ist unter der Organisation Erklärung von
Bern (EvB) zu verstehen? Braunschweig:
Die EvB ist eine entwicklungspolitische
Lobby- und Kampagnenorganisation in der Schweiz mit über 20'000
Mitgliedern. Sie engagiert sich für eine gerechtere Globalisierung und
setzt sich zugunsten der Entwicklungsländern für konkrete Verbesserungen
der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen der Schweiz zum Süden
ein. Die Gründung der EvB geht auf ein 1968 lanciertes Manifest zurück,
in dem die über 1'000 UnterzeichnerInnen eine Erhöhung der
schweizerischen Entwicklungshilfe und gerechtere Beziehungen zu
Entwicklungsländern forderten. Als Tatbeweis verpflichteten sich die
Unterzeichnenden, 3% ihres Einkommens für die Entwicklungszusammenarbeit
zu spenden. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die EvB
selber keine Projekte im Süden durchführt. Ihr Arbeitsgebiet liegt in
der Schweiz, wo sie Druck auf Regierung und international tätige
Unternehmen ausübt, um sie zu einer gerechten und nachhaltigen
Verhaltensweise zu bewegen. Entsprechend nimmt die EvB keine Spenden von
Institutionen und Unternehmen an, zu deren Geschäftsbereichen sie
arbeitet. Ihre finanzielle Basis sind Mitgliederbeiträge und Spenden von
natürlichen Personen.
MM: Und wie kamen Sie dazu, in der Organisation
mitzuarbeiten?
Braunschweig:
Ich habe mich seit meiner frühen Jugend für
Nord-Süd Fragen interessiert und mich entwicklungspolitisch engagiert.
Beruflich habe ich dann einige Jahre im Umfeld der
Entwicklungszusammenarbeit gearbeitet. Dabei hatte ich zur
Entwicklungshilfe - wie sie früher genannt wurde - immer ein
ambivalentes Verhältnis, da ihr etwas Paternalistisches innewohnt. Ich
möchte jedoch klarstellen, dass ich Entwicklungszusammenarbeit klar
befürworte; sie ist notwendig, reicht aber nicht aus um das Ziel einer
gerechten Welt zu realisieren. Dazu braucht es unbedingt ein Umdenken
bei uns, bei den Konsumenten und Konsumentinnen, insbesondere aber bei
den politischen und wirtschaftlichen Akteuren. Die EvB, mit ihrem Fokus
auf entwicklungspolitische Arbeit hier in der Schweiz, war daher für
mich stets eine attraktive Organisation zu der ich eine große Affinität
hatte. Als sie dann die Stelle des Bereichsverantwortlichen für
internationale Handelspolitik ausschrieb, musste ich nicht zweimal
überlegen.
MM: Sie treten im Rahmen der aktuellen
Wirtschafts-, Umwelt- und Ernährungskrise mit sehr kritischen Äußerungen
gegenüber der Welthandelsorganisation (WTO) auf und bezeichnen diese als
Teil des Problems. Wie ist das zu verstehen?
Braunschweig:
Es können zwei Ebenen unterschieden werden. Auf
der ideologischen Ebene hat sich die WTO immer dem Liberalisierungsdogma
verpflichtet gefühlt. Die Förderung des Freihandels ist quasi "raison
d'être" der Organisation. Dabei wurde von der WTO die Liberalisierung
des Welthandels zunehmend als Selbstzweck interpretiert, während sie
doch in Wirklichkeit als Mittel zum Zweck zu verstehen ist.
Liberalisierung per se kann kein Ziel sein, sondern muss zur
Wohlstandssteigerung beitragen. Dies ist aber bei Weitem nicht immer der
Fall, wie die Finanzkrise deutlich gezeigt hat. Diese hat dann
bekanntlich in die Wirtschaftskrise geführt und auch zur Ernährungskrise
beigetragen. Experten und Expertinnen sind sich einig, dass die
Finanzkrise durch zuwenig - nicht zuviel - Regulierung ausgelöst wurde.
Die WTO als globale Verfechterin der Freihandels hat dazu das
ideologische Fundament geliefert und durch das Dienstleistungsabkommen
GATS (General Agreement on Trade in Services) die Deregulierung der
Finanzmärkte vorangetrieben.
Auf der praktischen Ebene haben die WTO-Handelsregeln zur
Vernachlässigung von ökologischen und sozialen Kosten geführt. Damit
wurde Entwicklungsstrategien und Wirtschaftspolitiken Vorschub
geleistet, die nicht nachhaltig sind und früher oder später in Umwelt-
und Sozialkrisen münden. So wurden die sozialen Kosten einer
Liberalisierung der Agrarmärkte - in Form einer reduzierten
Ernährungssouveränität - ignoriert. Dies führte in vielen
Entwicklungsländern zu einer einseitigen Exportorientierung der
Landwirtschaft und schwächte ihr Produktionspotential für
Grundnahrungsmittel. Als die Nahrungsmittelpreise auf den Weltmärkten
dann in die Höhe schnellten, konnte nicht auf inländische
Produktionskapazitäten zurückgegriffen werden. Außerdem entzogen die von
der WTO durchgesetzten Zollsenkungen dem Staat die notwendigen Mittel,
um importierte Nahrungsmittel zu subventionieren und weitere soziale
Sicherheitsnetze zu finanzieren.
MM: Aus Sicht vieler so genannter
Entwicklungsländer, ist ein Teil ihrer Misere im einer zunehmend
aggressiver werdenden Wirtschaftspolitik der Westlichen Welt begründet.
Ist die WTO ein Teil der "Westlichen Welt"?
Braunschweig:
Wenn unter "Westlicher Welt" die wirtschaftlich
mächtigen und politisch einflussreichen Länder verstanden werden, trifft
dies sicherlich zu. Und dies obwohl die WTO nach dem Prinzip "Ein Land -
eine Stimme" funktioniert und eine Mehrheit der Mitglieder
Entwicklungsländer sind. Ein Grund liegt darin, dass die WTO bzw. ihr
Vorläufer GATT ein Kind der "Westlichen Welt" ist und diese daher
traditionell einen starken Einfluss auf die Organisation ausübt. Viel
entscheidender für die Vereinnahmung der WTO durch den reichen Norden
sind jedoch dessen Überlegenheit im Bereich verhandlungsrelevanter
Ressourcen und fachlichen Kapazitäten, das politische und
wirtschaftliche Machtpotenzial sowie die massive Einflussnahme durch
multinationale Unternehmen. Es ist jedoch interessant festzustellen,
dass in jüngster Zeit eine Gewichtsverschiebung in der WTO stattgefunden
hat. So hat der Einfluss der großen Schwellenländer wie Brasilien, China
und Indien deutlich zugenommen; dies hauptsächlich aufgrund der rasch
zunehmenden Bedeutung ihrer Volkswirtschaften und ihres erstarkten
Selbstbewusstseins. Besonders augenfällig ist die Machtverschiebung
innerhalb der WTO bei der laufenden Doha-Verhandlungsrunde. Der äußerst
zähe Verlauf der Verhandlungen - sie dauern bereits über acht Jahre -
und die schwindende Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss ist
hauptsächlich auf den Widerstand dieser Länder zurückzuführen, die nicht
mehr bereit sind, vom Westen über den Tisch gezogen zu werden.
MM: Sind Sie demnach gegen die WTO?
Braunschweig: Nein, die Erklärung von
Bern steht trotz all ihrer Kritik an der heutigen Funktionsweise und
Orientierung der WTO ganz klar hinter einem multilateralen Handelssystem
mit verbindlichen Regeln. Denn gerade für schwächere Länder ist ein solches Regelwerk
Voraussetzung dafür, dass nicht einfach das Recht des Stärkeren gilt.
Die WTO muss sich jedoch grundlegend ändern: Sie muss viel transparenter
werden und sich stärker an demokratischen Prinzipien ausrichten - nicht
nur auf dem Papier. Wichtiger ist jedoch, dass sie sich endlich von der
Freihandelsideologie verabschiedet und sich stattdessen an Werten wie
Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenrechte
orientiert.
MM: Welches Interesse könnte ein
"Westlicher Staat" - wir wissen jetzt nicht so genau, ob wir die Schweiz
dazu zählen sollen - an fairen Handelsbeziehungen zu schwächeren Ländern
haben, wenn sie doch vor allem in der Ausnutzung der Schwäche ihren
Profit sieht?
Braunschweig: Faire Handelsbeziehungen
sind für mich zuallererst einmal ein moralischer Imperativ. Gerade der
Schweiz, die ja sehr Stolz ist auf ihre humanitäre Tradition, würde es
gut anstehen, hier mit gutem Beispiel voranzugehen und in den
Handelsbeziehungen zu schwächeren Ländern ihre kurzfristigen
Eigeninteressen etwas zurückzunehmen. Schließlich betrachte ich die
zunehmende globale Ungleichheit als eine der ganz großen
Herausforderungen unserer Zeit. Die Schweiz als eines der reichsten
Länder der Welt steht daher besonders in der Pflicht, einen Beitrag zu
mehr Ausgleich zu leisten.
Außerdem würde ein großzügigeres Verhalten bei
der Gestaltung der Handelsbeziehungen durchaus auch die Interessen der
Schweiz bedienen. Denn erstens könnte sie damit ihren international
ramponierten Ruf als Profiteur (Stichwort Bankgeheimnis) aufbessern.
Zweitens ist eine fairere Behandlung der ärmeren Länder das wohl
effektivste Mittel gegen die stark zunehmende Migration, die für den
Westen zu einem immer größeren Problem wird. Und drittens hängt gerade
eine auf Export ausgerichtete Volkswirtschaft wie diejenige der Schweiz von einer
starken Kaufkraft auf ihren Absatzmärkten ab. Woher aber soll diese
Kaufkraft kommen, wenn die Schweiz mit unfairen Handelsbeziehungen die
wirtschaftliche Entwicklung schwächerer Länder hemmt?
MM: Nun ist die aktuelle Krise
sicherlich auch eine Krise der Grundlagen des bestehenden Finanzsystems.
Welche Chance aber sehen sie, das Finanzsystem zu reformieren, wenn die
nicht unerhebliche Macht dazu in den Händen derer liegt, die am alten
System festhalten möchten?
Braunschweig:
Da bin ich, ehrlich gesagt, sehr skeptisch. Der
bisherige Umgang mit der Finanzkrise lief weitgehend nach dem bekannten
Prinzip "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren" ab. Damit wurde
die vielleicht einmalige Chance vergeben, die großen Finanzakteure zu
entmachten und das Finanzsystem wieder in den Dienst der Realwirtschaft
zu stellen. Auch bin ich erstaunt, dass der Neoliberalismus als
ideologische Grundlage des bestehenden Finanzsystems in der
Öffentlichkeit nicht stärker in Frage gestellt wird. Aber vielleicht bin
ich auch zu ungeduldig. Immerhin scheint deren Zenit überschritten, und
der Glaube an die selbstregulierenden Kräfte des Marktes wurde
nachhaltig erschüttert. Für eine nachhaltige Reform des Finanzsystems
muss jedoch vor allem das Primat der Politik über die Wirtschaft wieder
hergestellt werden - und bei den heutigen Machtverhältnissen betrachte
ich dies als wahre Herkules-Aufgabe.
MM: Könnte in diesem Rahmen nicht auch
die Zinswirtschaft grundlegend hinterfragt werden? Wäre das nicht gerade
für die Schweiz ein Katastrophe, da doch ein Großteil ihres Wohlstandes
auf Zinsen beruht?
Braunschweig:
Die Zinswirtschaft erachte ich tatsächlich als ein
zentrales Problem unseres heutigen Wirtschaftverständnisses - nicht nur
im Kontext der aktuellen Finanzkrise, sondern viel grundsätzlicher
bezüglich dem Zwang zu grenzenlosem Wirtschaftswachstum. Denn es ist ja
in erster Linie die Zinswirtschaft, die uns zu diesem Wachstum verdammt.
Dass ewiges Wachstum, auch mit stark vermindertem Ressourcenverbrauch,
keine Option ist, hat ein neuer
Bericht von progressiven Ökonomen und Ökonominnen
eben wieder überzeugend dargelegt. Ganz abgesehen
davon demonstrieren die Resultate der Glücksforschung in konsistenter
Weise, dass steigender materieller Wohlstand - das Ergebnis von
Wirtschaftswachstum - in unseren westlichen Gesellschaften nicht zu mehr
Zufriedenheit führt. Es ist ja auch bezeichnend, dass in den meisten
großen Weltreligionen, darunter auch dem Islam, das Zinsgeschäft
verboten oder zumindest stark eingeschränkt ist; oder - wie im Fall des
Christentums - war.
Was die Schweiz betrifft, muss diese ihren
Finanzsektor ohnehin redimensionieren - aus Gründen des verstärkten
ausländischen Drucks, aber auch aus Risikoüberlegungen. Im Übrigen hat
die Schweiz lange genug auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse gelebt
und wird sich zunehmend daran gewöhnen müssen, dass für sie die fetten
Jahre vorbei sind.
MM: In wissenschaftlichen Theorien gibt
es ja durchaus Betrachtungen, wie vereinfacht dargestellt im so
genannten "Gefangenendilemma", bei dem der wahre Egoist mit seinem
Partner teilt, da der faire Ausgleich letztendlich für alle Beteiligten
von größerem Vorteil ist und zu größerem Wohlstand führt. Warum setzen
sich solche wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ja nicht aus
Entwicklungsländern stammen, so wenig in der Praxis durch?
Braunschweig:
Das Gefangenendilemma zeigt auf, wie individuell
rationale Entscheidungen zu einem schlechteren Ergebnis für das
Kollektiv führen können. Ein anderes Beispiel für dieses soziale Dilemma
ist die Situation, in der sich eine Gruppe Menschen in einem Raum
aufhält, in dem Feuer ausbricht. Es ist aus der individuellen
Perspektive durchaus rational, so schnell als möglich auf die Türe
zuzustürmen um dem Feuer zu entkommen. Das dadurch entstehende Gedränge
an der Türe führt jedoch zu einem Stau und damit zu einer höheren
Opferzahl. Aus kollektiver Sicht wäre es daher sinnvoller, ruhig und
geordnet den Raum zu verlassen. Dies bedingt jedoch Kooperation und
Vertrauen. Wenn sich nun in der Praxis diese kollektive Sicht nicht
durchsetzt, bedeutet dies offensichtlich, dass es den Menschen in vielen
Situationen an diesen beiden grundlegenden Elementen des
gesellschaftlichen Zusammenlebens mangelt. Dies ist nicht weiter
erstaunlich, dominiert doch in der Schule wie auch im täglichen Leben
allzu oft das Konkurrenz- und nicht das Kooperationsprinzip. Und dazu
trägt unser wirtschaftliches System in nicht unwesentlichem Maße bei.
Ein wichtiger Aspekt bei diesen Überlegungen
sind die üblicherweise existierenden Machtungleichgewichte. In einer
solchen Situation (die im Beispiel des Gefangenendilemmas nicht
vorgesehen ist) kann sich der egoistisch agierende Mächtige einen
Vorteil auf Kosten des Schwächeren sichern ohne ein Risiko einzugehen.
Dies weist auf die Bedeutung von solidarischem Handeln als Grundprinzip
für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben hin. Oder in den Worten
von Richard von Weizsäcker: "Nur eine solidarische Welt kann eine
gerechte und friedvolle Welt sein."
MM: Eine abschließende Frage an den
Mitarbeiter einer Schweizer Organisation. Wurde das Minarettverbot auch
in Ihrem Haus diskutiert?
Braunschweig:
Im Vorfeld der Abstimmung zu dieser Initiative gab es bei uns keine
großen Diskussionen: Wir kennen ja die regelmäßigen fremdenfeindlichen
Attacken aus der rechten Politikecke und sind davon ausgegangen, dass
die Initiative über die üblichen Kreise hinaus kaum Unterstützung finden
wird. Nach der Abstimmung waren wir entsprechend konsterniert. Das
Resultat hat uns einmal mehr in schmerzlicher Weise vor Augen geführt,
wie unterentwickelt die Schweiz in vielen Bereichen noch ist. Die Arbeit
wird der Erklärung von Bern also nicht so schnell ausgehen.
MM: Herr Dr. Braunschweig, wir danken
für das Interview. |