MM: Sehr
geehrter Herr Prof. Brodbeck, erlauben Sie ein kurze Vorabfrage zu Ihrem
Lebenslauf. Wie kommt ein Ingenieur der Elektrotechnik, der zudem in
seinem Beruf arbeitet, dazu Philosophie und Volkswirtschaftslehre zu
studieren?
Prof. Dr. Brodbeck:
Es war die Erfahrung des Zivildienstes
bei einer Einrichtung für behinderte Kinder, den ich noch zu absolvieren
hatte. Ich habe dabei nicht nur meine Frau kennen gelernt, sondern
bemerkt, dass mich andere als technisch-naturwissenschaftliche Fragen
weit mehr fesseln. Philosophie war seit meiner Jugend etwas, das mich
bewegt hat – ich habe früh die alten Griechen, Sartre, aber auch Herbert
Marcuse und Karl Marx gelesen. Dadurch war auch mein Interesse für
ökonomische Fragen geweckt und nicht zuletzt durch die 68er Bewegung
emotional aufgeladen. Mir half andererseits gerade die Kenntnis der
Mathematik aus meinem Ingenieurstudium, nicht auf den äußeren
wissenschaftlichen Schein der Volkswirtschaftslehre in ihrer
mathematischen Form hereinzufallen.
MM: Erlauben Sie einem Laien in
Volkswirtschaftslehre den Experten zu den aktuellen Ereignissen zu
fragen. Wir erleben, dass europäische Staaten bei Banken zu stark
verschuldet sind, so dass die Gefahr besteht, dass die Banken ihr Geld
nicht zurück erhalten. Deshalb leihen sich derzeit andere ebenfalls
verschuldete Staaten wiederum von den gleichen Banken Geld, um es den
noch stärker verschuldeten Staaten zu geben, damit diese es wieder an
die Banken geben. Für den Nichtexperten drängt sich der Eindruck auf,
dass die Banken sich selbst auszahlen und die Staaten (also die
Steuerzahler) für diese Selbstaufzahlung in Form von Zinsen noch etwas
drauflegen. Können Sie diesem laienhaften Eindruck entgegen wirken?
Prof. Dr. Brodbeck:
Das ist kein laienhafter Eindruck,
sondern die genaue Beschreibung der Sachlage. Es ist den Finanzmärkten,
vor allem den Banken, in den letzten rund 30 Jahren gelungen, die
gesamte übrige Wirtschaft für ihr Renditeinteresse zu
instrumentalisieren. Das wichtigste Mittel dazu ist die Verschuldung
bzw. Finanzierung von Unternehmen. Die Rendite trat die Herrschaft über
alle anderen Formen des Gewinns an und hat die übrige Wirtschaft für die
Interessen der Renditemaximierung in Geiselhaft genommen. Die Ökonomen
haben in ihren unsinnigen Vorstellungen von der "Effizienz der
Finanzmärkte" diese Entwicklung mit mathematischen Spielchen legitimiert
und so der Ideologie zur Herrschaft verholfen, dass "effiziente"
Finanzmärkte der Dreh- und Angelpunkt der weltweiten Produktion sein
müssten. Das Gegenteil ist der Fall. Das Finanzsystem ist inzwischen
nahezu völlig parasitär geworden und hindert die übrige Wirtschaft auf
vielfältige Weise. Das Mittel dazu ist die Verschuldung. Da Finanzmärkte
nur fiktive Werte produzieren können – eben durch die Verschuldung –
führte diese Entwicklung zur heutigen weltweiten Schuldenblase, die 2008
im Banksystem zu platzen begann. Nun hat man die Schuldenlast auf
Staaten übertragen mit der unsinnigen Vorstellung, man sei auf das
parasitäre Finanzsystem angewiesen und müsse es "retten". Die
Schuldenblase schwelt weiter, doch nun platzt sie zudem dadurch, dass
Staaten von der Pleite bedroht sind. Die "Bankenrettung" ist zur größten
Verarmungsaktion der Bevölkerung geworden, die in den letzten
Jahrzehnten zu beobachten war.
MM: Grundlage einer jeden Philosophie oder
Ideologie ist das jeweilige Menschenbild. Das deutsche Grundgesetz geht
von einer Würde des Menschen aus, die unantastbar ist. Warum ist es so
schwer, dieses Menschenbild der Wirtschaft zu vermitteln?
Prof. Dr. Brodbeck:
Durch das Geld vermittelte
Marktprozesse bergen in sich immer die Tendenz, die Geldgier neu
hervorzubringen. Märkte wirken als Moralzehrer. Sie verlocken
unaufhörlich die Menschen dazu, sich wechselseitig zu
instrumentalisieren und nur noch daran zu bemessen, wieviel Geld man
besitzt oder wieviel Geld man durch andere verdienen kann. Der Versuch
allerdings, das Geld abzuschaffen, endete in der stalinistischen
Katastrophe und erwies sich als unmöglich. Man versuchte deshalb, die
Märkte durch Regeln zu begrenzen; das war die Idee des Ordo-Liberalismus,
auch der Väter des Grundgesetzes. Doch hier wurde verkannt, dass
Regelsysteme international in Wettbewerb zueinander stehen. Die
Ideologie der De-Regulierung und der Globalisierung der Geldgier auf den
Finanzmärkten hat nach und nach Regelsysteme ausgehöhlt und die Politik
selbst instrumentalisiert – bis hin zur umfassenden Herrschaft des
globalen Banksystems. Es gibt zweifellos in jedem Bereich viele
anständige Menschen, auch in der Finanzwelt. Doch die in diesem Sektor
institutionalisierte Geldgier – die Renditemaximierung – wirkte
verheerend auf die Moral der Menschen. Und, wie in Boomzeiten sichtbar,
diese Unmoral war ansteckend. Im Kampf der Regelsysteme, der Regierungen
mit der globalisierten Geldgier hat bislang in fast allen Ländern die
Geldgier gesiegt. Die verantwortlichen Politiker der vergangenen Jahre
haben in der falschen Behauptung, die finanzielle Globalisierung ließe
keine Alternativen zu, dem Vorschub geleistet und die Menschenwürde
darin mit Füßen getreten. Die Armut wächst, aber auch der Zorn der
Menschen.
MM: Das kapitalistische System geht in
seiner real existierenden Form faktisch von einem ewigen
schuldenbasierten Wachstum aus. Warum fällt es so schwer ein
funktionierendes System anzudenken, in dem man in dem Rahmen seiner
Möglichkeiten bleibt und dennoch zu einem gewissen Wohlstand für alle
gelangt?
Prof. Dr. Brodbeck:
Es gibt alternative Systementwürfe.
Doch ist in allen mir bekannten Entwürfen das Dilemma unterschätzt
worden, das aus dem Geldverkehr selbst hervorgeht. Platon und
Aristoteles, die arabischen Kommentatoren, die meisten Religionen – sie
alle gehen davon aus, dass man Märkte und Geldverkehr zwar als quasi
naturgegeben oder sogar gottgewollt betrachtet, die Geldgier und ihre
institutionalisierte Form im Zins aber ablehnt. Man hoffte, wie übrigens
auch Pierre Joseph Proudhon und Silvio Gesell, dass man eine
Marktwirtschaft ohne Zins einrichten könne. Obwohl ich mit dieser Idee
durchaus sympathisiere, bemerke ich dennoch einen grundlegenden Mangel
in folgendem Gedanken: Die Geldgier erwächst immer wieder neu aus dem
durch Geld vermittelten Marktverkehr, und deshalb wird sich der Zins und
der Gewinn als Ziel auch immer wieder in verschiedensten Formen daraus
entwickeln. Man kann und sollte diese Geldgier vielfältig einschränken
und vor allem die Menschen dazu erziehen, in der Geldgier jenes
hässliche Antlitz zu erkennen, das in der Neuzeit gänzlich unter einem
Mantel scheinbarer Rationalität verborgen wurde. Ich unterstütze jede
Anstrengung, die dies mit einer lauteren Absicht erstrebt. Doch keine
äußere Regel wird die Geldgier völlig beherrschen. Sie war historisch
immer noch "kreativ" genug, alle Regelungen zu umgehen. Es gibt deshalb
nach meiner Überzeugung keine Musterlösung, nur die unaufhörliche
moralische Aufklärung über die Wirkungen dieser Untugend.
MM: Obwohl inzwischen die Spatzen von den
Dächern pfeifen, dass das bestehende Finanzsystem so nicht weiter gehen
kann, haben viele Bürger den Eindruck, als wenn die Wissenschaft - bis
auf wenige Ausnahmen - gar keine Alternative aufzuzeigen hat bzw. die
Mehrheit der Denker und Hochschullehrer am alten System verharren. Trügt
der Eindruck?
Prof. Dr. Brodbeck:
Nein, dieser Eindruck trügt eher nicht.
Es gibt zwar in den letzten zwei Jahren eine große Unruhe unter
Wirtschaftswissenschaftlern. Doch sie müssten ihre gesamte Grundlage –
das Bild vom gewinnmaximierenden Menschen, des homo oeconomicus –
aufgeben, wollten sie wirklich anderes denken. Man ist zwar nun
bestrebt, es "realistischer" zu machen, indem man Experimente macht und
das tatsächliche Verhalten beobachtet. Dabei kommt immerhin heraus, dass
die Menschen nicht nur egoistisch handeln. Dass das nun auch Ökonomen
begreifen, das ist schon etwas. Doch die Wirtschaftswissenschaft ist in
ihren Hauptströmungen (der Neoklassik und der Effizienzmarkttheorie) so
etwas wie die ideologische Hülle über der tatsächlichen Herrschaft der
von der Rendite versklavten Märkte. Deshalb ist sie schon institutionell
ungeeignet, eben dies zu kritisieren. An den Eliteuniversitäten werden
in dieser Denkform jene ausgebildet, die an den Märkten dann praktisch
diese Herrschaft realisieren. Von Ethik versteht man an den
Business-Schools nur dann etwas, wenn sich damit ein Geschäft machen
lässt; das heißt dann "Business-Ethics" und ist eine Hilfswissenschaft
der Gewinnmaximierung. Ich fürchte, die Kritik dieser Denkformen kann
nicht aus dem Zentrum ihrer Erzeugung und Reproduktion kommen.
MM: Einer der vernünftigen Ansätze besteht
möglicherweise in einer Art Regulierung, welche die "Wirtschaft" zu
einem Minimum an "Moral" zwingt. Wie aber kann das erreicht werden, wenn
der Einfluss der "Wirtschaft" auf die Entscheidungsträger so groß ist,
dass nicht nur Hotels und Impfpräparate-Hersteller jubeln, sondern die
vom Volk gewählten Verantwortlichen sich niemals trauen, irgendetwas
gegen das gesamte Bankenwesen zu regulieren?
Prof. Dr. Brodbeck:
Ich sehe nur dann eine Chance, wenn die
Bevölkerung sich von den Nebelkerzen, die von der Politik unter dem
Einfluss einer schier allmächtigen Bankenlobby unter der Generallüge,
"Bankenrettung" sei alternativlos, nicht mehr blenden lässt und den
jetzt Regierenden auf demokratische Weise den Gehorsam aufkündigt. Die
Menschen beginnen am eigenen Leib zu erfahren, dass man der breiten
Bevölkerung einen knallharten Kapitalismus der Armut verordnet, während
die Finanzwelt für sich den Sozialismus abgesicherter Risiken
einfordert. Dieser ungeheuere Skandal, dass man zur "Rettung" eines für
die Gesamtwirtschaft längst nutzlosen, im Gegenteil, nur noch
schädlichen Sektors des Investmentbanking nach und nach in allen Staaten
Sparprogramme zur Auslösung der Schulden verordnet, wird nicht ohne
Folgen bleiben. Ich hoffe nur, dass sich die völlig berechtigte Empörung
darüber vernünftig artikuliert, so dass Verhältnisse wie in den 30er
Jahren vermieden werden können.
MM: Nehmen wir einmal optimistischerweise
an, es gäbe eine Art goldenen Mittelweg, die Politik wäre sogar dazu
bereit, und das Volk würde es mittragen. Wie aber kann man weltweite
Schuldenberge, die inzwischen astronomische Dimensionen erreicht haben
und allein durch ihre Existenz zu einer unvorstellbaren Vermehrung des
Geldes führen, was durch die Wirtschaft nie auch nur annähern
ausgeglichen werden kann, jemals wieder abbauen? Ist die aktuelle
Situation nicht eine Sackgasse?
Prof. Dr. Brodbeck:
Das ist richtig. Allein die auf den
weltweiten Konten weiter schlummernden Derivate betragen, nach Angaben
der Bank für internationalen Zahlungsausgleich, etwa das Zehnfache des
weltweiten BIP. Diese Schuldenblase muss platzen, d.h. entwertet werden.
Dies könnte durch eine weltweite Geldreform geschehen. Doch obgleich es
dazu Ansätze gibt, sind die gegensätzlichen Interessen zwischen
Nordamerika, Europa, China und den anderen ostasiatischen Staaten sowie
den Golfstaaten vermutlich zu groß. Historisch wurden gewaltige
Schuldenblasen immer nur auf einem Weg abgebaut: Durch eine Kette von
Insolvenzen. Die Folgen für die Weltwirtschaft wären allerdings fatal.
Man müsste das globale Banksystem – wenigstens den
Investmentbankingbereich – vorübergehend unter die Kontrolle eines
internationalen Gremiums stellen, das alle Schulden aufdeckt und in
geordneter Insolvenz mit minimaler Auswirkung auf die übrige Wirtschaft
den weltweiten Bankensektor bereinigt. Doch leider ist die Lobby der
Banker so mächtig, dass sie sich Regelungen hartnäckig widersetzen
werden. Was bislang geschah, war nur Kosmetik oder Rhetorik – in den USA
und in Europa. Was man nun eingeschlagen hat, ist der Weg langfristiger
Inflation. Zunächst wird allerdings diese Tendenz von einer Deflation
der Schulden überlagert, die noch eine ganze Weile andauern kann. Die
Geldmengenausweitung der Zentralbanken versickert vorläufig völlig im
Banksystem und wird dort genutzt, Risiken abzusichern und Schulden zu
tilgen. Dass auch die EZB nun toxische Papiere von den Banken aufkauft,
ist eine Ungeheuerlichkeit.
MM: Was kann denn der einzelne Bürger mit
seinem möglicherweise wenigen Ersparten Ihrer Meinung nach tun, um
morgen nicht in Form von extremer Inflation oder auf anderen Weg quasi
enteignet zu werden, denn bei Lehmans "Brüdern" möchte er sicherlich
nicht mehr investieren?
Prof. Dr. Brodbeck:
Es gibt alternative Anlageformen – und
sicher denken Sie an das Islamic Banking, das durchaus eine Alternative
in einigen Bereichen sein kann. Es gibt andere alternative
Anlagemöglichkeiten in ethischen Fonds usw. Die Erfahrung hat gezeigt,
dass man dort etwa einen Prozentpunkt an Rendite verliert, aber dafür
sicherer investiert ist. Doch wird in solchen alternativen Bankformen
oder Versuchen mit Regionalwährungen die Wurzel des Übels - die aus dem
Geldverkehr immer wieder neu hervorgehende Geldgier – nicht bekämpft.
Wir befinden uns nicht einfach in einer ökonomischen Krise, sondern in
einer Krise des Geldsubjekts, also der Herrschaft des rechnenden Denkens
über alle menschlichen Lebensbereiche. Es ist eine Krise der Moderne in
vielen Spielarten. Die ökonomische Krise ist nur der sichtbarste Aspekt
hierbei. Wir stehen deshalb vor einer Zeit großer Unruhe und kommender
kultureller Umwälzungen. Hier kommt es darauf an, all jene miteinander
ins Gespräch zu bringen, die auf friedliche Weise Konflikte lösen wollen
und einem interkulturellen und interreligiösen Dialog das Wort reden.
MM: Herr Prof. Bordbeck, wir danken
für das Interview. |