Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Hajo G. Meyer
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Hajo G. Meyer, ehemaliger Leiter der Phillips Forschungsabteilung und Auschwitzüberlebender
22.3.2010

Hajo G. Meyer (Jahrgang 1924) ist als deutscher Jude in Bielefeld geboren und musste 1939 ohne seinen Eltern nach Holland fliehen, da er in Deutschland als Jude nicht mehr auf das Gymnasium gehen durfte. Dort lebte er ein Jahr im Untergrund. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert. Er überlebte dort zehn Monate. Nach dem Krieg studierte er Theoretische Physik und arbeitete nach seiner Promotion in der Forschungsabteilung bei Philips, die er später auch leitete. 1984 wurde Hajo G. Meyer pensioniert und war fortan u.a. als Geigenbauer tätig. Seit 2002 sind von ihm das Buch "Das Ende des Judentums" sowie zahlreiche Essays und Artikel erschienen. In seinem zweiten Buch, TRAGISCHES SCHICKSAL, Das Deutsche Judentum und die Wirkung historischer Kräfte geht er auf die historischen Kräfte ein die von Deutschland aus auf die Juden gewirkt haben und gleichfalls auf die in umgekehrter Richtung. In seinem 2009 erschienenen Buch "Judentum, Zionismus, Antizionismus und Antisemitismus." versucht er die deutlichen Unterschiede dieser gerne von Zionisten vermischten Begriffe zu verdeutlichen. Zu Ellen Rohlfs Buch "Nie wieder!"? - Was geschieht hinter der Mauer in Palästina hat er das Vorwort geschrieben.

Dr. Hajo Meyer ist verheiratet hat einen Sohn und lebt in den Niederlanden.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Meyer, wie kommt ein ehemaliger Leiter einer Forschungsabteilung dazu Geigen zu bauen?

Dr. Meyer: Ich habe seit meinem siebten Jahr Geige gespielt aber leider auf einem sehr schlechten Instrument. Ab meinem Flüchtlingsleben bis nach dem Krieg habe ich zu meinem Bedauern kaum spielen können, habe aber als Student dann wieder angefangen Stunden zu nehmen. Dann fiel ich beim Skifahren auf meinen Daumen und konnte eine Weile nicht mehr spielen. Ich wollte aber irgendwas mit Geigen zu tun haben und hatte einen Mitarbeiter, der als Amateur gute Geigen baute. Das hat mich ermutigt, aus Büchern zu lernen und danach habe ich 20 Jahre lang in England ausgezeichnete Kurse besucht. Gerade durch die Physik war es möglich, so viel von der Akustik von Geigen zu verstehen, dass ich darüber in amerikanischen Fachzeitschriften veröffentlicht habe und trotz des späten Anfangs dieses neuen Faches im Stande war, gute Konzertgeigen zu bauen.

MM: Sie bauen aber nicht nur Geigen, sondern schreiben auch Bücher und halten Vorträge. Ihr oft gehaltener Vortrag "Zionismus – Entstehung, Aufstieg und Niedergang" führt in Deutschland bei einem meist überraschten und teils verstörten Publikum zu sehr kontroversen Reaktionen. Glauben Sie ernsthaft, dass der Zionismus am Ende ist?

Dr. Meyer: Ja ganz gewiss. Politologisch gehört der Zionismus in die Klasse der eschatologischen Ideologien. Er ist also eine Ideologie die einen Heilszustand erwartet, der aber erst dann eintreten wird, wenn ein gewisser Feind vollständig vernichtet ist. Ob der Feind nun alle Palästinenser, alle Araber oder gar alle Nichtjuden bedeutet, ist vielleicht der einzige Unterschied, der noch innerhalb des reell existierenden politischen Zionismus besteht. Er ist in dieser Hinsicht also vergleichbar mit dem Bolschewismus, der auch untergegangen ist, wie auch andere Ideologien, die zu dieser Klasse gehören. Obendrein, ist durch den Holocaust eine Vielzahl der Juden, vor allem der in Israel, paranoid geworden. In Israel hat das zu einer völlig militarisierten Gesellschaft geführt, die vom Kindergarten bis zum Heer ideologisch indoktriniert wird, was zu einer Entmenschlichung der israelischen Gesellschaft geführt hat. Diese weitgehende Entmenschlichung führt ihrerseits dazu, dass junge Israelis in den besetzten Gebieten Verbrechen begehen, die durch nicht hundertprozentig gelungene Gehirnwäsche zu posttraumatischem Stresssyndromen führt. An diesem Syndrom leiden so viele junge Israelis, dass hierdurch die Gesellschaft von innen heraus unterminiert wird.

MM: Einer ihrer Bücher trägt den Titel "Das Ende des Judentums". Warum sollte der Zionismus in der Lage sein, sich selbst und das Judentum gleichermaßen zu beenden?

Dr. Meyer: Der Zionistische Staat Israel, der vor einem guten Jahr den grausamen Massenmord in Gaza ausgeübt hat, wobei unerlaubte Mittel wie Phosphorbomben und den Boden vergiftende Schwermetallgeschosse gebraucht wurden, nennt sich leider völlig zu Unrecht "Jüdischer Staat". Es ist statistisch erwiesen, dass während dieses Überfalls auf Gaza die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Europa mit einem Faktor vier angestiegen sind. Neben dieser Bedrohung von außen gibt es auch noch eine Bedrohung des Judentums von innen dadurch, dass immer noch sehr viele Juden meinen, dass man nicht jüdisch sein kann ohne Zionist zu sein.

MM: Sie stellen in sehr prägnanten Worten den Zionismus als unmenschliche Ideologie und damit im krassen Widerspruch zum Humanismus des Judentums dar. Wie beschreiben Sie das Wesen des wahren Judentums?

Dr. Meyer: Für mich ist das wahre Judentum das - vor allem in Deutschland ab Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zur Hitler-Zeit entwickelte - Reformjudentum, das die mitmenschliche Ethik völlig in das Zentrum dieses Judentums gesetzt hat. Die kürzeste Charakterisierung findet man im dritten Buch Mose 19:34, wo unter Verweis auf die Erlebnisse der Juden als Fremdlinge in Ägypten ausgesagt wird, wie man sich Fremdlingen gegenüber im eigenen Land verhalten sollte: Man sollte sie so behandeln als ob sie im eigenen Land geboren wären. Genau diese Haltung wird auch ausgedrückt durch die so genannte goldene Regel von Rabbi Hillel (100 v.Chr.) die lautet: "Was du nicht willst dass man dir tue, das füg auch keinem anderen zu."

MM: Sie scheuen sich auch nicht, Ihre Ansichten an die Bundeskanzlerin zu schreiben. Was erhoffen Sie sich von der Bundesregierung?

Dr. Meyer: Es gibt im holländischen ein schönes Sprichwort das sagt: "Es sind gerade deine Freunde die dir deine Fehler zeigen." In diesem Sinn ist die Bundesrepublik überhaupt kein Freund von Israel, weil sie jedes Verbrechen dieses Staates gegen das humanitäre oder internationale Recht nicht bemerkt, geschweige denn tadeln will. Dieses kontraproduktive handeln gegenüber Israel wird verursacht von einem völlig zurecht bestehenden Schuldgefühl, das jedoch gänzlich falsch interpretiert wird. Hierdurch ist die Gefahr groß, dass Deutschland aufs neue mitschuldig wird am Untergang eines weiteren Volkes nämlich das der Palästinenser. Obendrein, wie ich bereits bemerkt habe, führt diese kritiklose Haltung von Seiten Deutschlands und Europas dazu, dass die Gefahr groß ist, dass Israel sich selbst vernichtet.

MM: Von zionistischer Seite wird ihnen in sehr massiver und persönlicher Art vorgeworfen, dass Sie ein Antisemit seien. Wie kann man den bei solchen Vorwürfen aufschreckenden Normalbürger erläutern, dass ein Antizionist nicht das Gleiche ist, wie ein Antisemit?

Dr. Meyer: Der Zionismus - daran erinnere ich noch einmal - ist eine eschatologische politische Ideologie. Er beruht leider auf völlig veralteten kolonialistischen Ideen. Beinahe alle Zionisten heutzutage sind sich einig, dass das Ziel des reell bestehenden politischen Zionismus daraus besteht, ganz Palästina zu beherrschen mit einer minimalen Zahl von Palästinensern. Das Judentum in der nach Moses Mendelssohn entwickelten Form (das Reformjudentum) ist primär eine ethische Lehre in dem Zionismus diametral gegenüber steht. Der Zionismus steht zu diesem Judentum, - das für die meisten modernen Juden nicht mehr beinhaltet wie ein gemeinschaftliches soziokulturelles Erbe -, wie der französische Kolonialismus des vorigen Jahrhunderts, der weitermachen will mit der Ausbeutung und Unterdrückung der Algerier, sich zur französischen Kultur verhält. Ein anderer Vergleich, und vielleicht ein besserer wäre der, des Bolschewismus zu russischen Kultur. Auch in der Sowjet-Zeit konnte ein Anti-Bolschewist durchaus ein Liebhaber der russischen Kultur sein. Auch beim Bolschewismus handelte es sich um eine eschatologische politische Ideologie.

MM: Wenn Sie als Holocaust-Überlebender von einer Holocaust-Religion sprechen, verstört es viele deutsche Zuhörer. Kann man das nicht auch diplomatischer ausdrücken, damit die Deutschen "mitkommen" können?

Dr. Meyer: Es tut mir aufrichtig leid, aber wenn der Quasi-Hohepriester Wiesel sagt, dass Auschwitz nur mit einem einzigen Ereignis vergleichbar ist und zwar der Offenbarung auf dem Berg Sinai, dann macht Er doch den Vergleich mit der Religion. Warum darf ich das nicht so nennen?

MM: Dennoch müssten Sie als Auschwitzüberlebender doch ein besonderes Verständnis für die Sensibilität der Deutschen bei diesem Thema haben. Wie können gerade Deutsche ihre Solidarität mit Juden zum Ausdruck bringen?

Dr. Meyer: Das habe ich bereits erwähnt. Gute Freunde zeigen einem, wo man Fehler macht. Die heutigen Antisemiten sind diejenigen, denen kein einziges Wort von Kritik über die Lippen kommen kann, auch nicht bei dramatischen humanitären Verbrechen wie Phosphorbomben auf Gaza und die Schwermetallgeschosse. Sie sind darum Antisemiten, weil sie die Juden wieder in eine Ausnahmeposition setzen. Diesmal nicht weil alles, was ein Jude tut, darum schlecht ist, weil es von einem Juden kommt, sondern darum weil man nach den Hitler-Verbrechen, aus einem verständlichen, aber falsch interpretierten Schuldgefühl heraus meint, man dürfe  überhaupt keine einzige Kritik mehr an einem Juden üben, wie groß die Verbrechen auch sind, die Israel oder die Besatzungsarmee auch begehen mag. Das ist die heutige Form des Antisemitismus. Man verwehrt den Juden das "normale Menschsein".

MM: Die von Ihnen angeprangerte Apartheid der Zionisten könnte doch in ähnlicher Weise überwunden werden, wie einstmals in Südafrika. Glaubens Sie nicht an eine mögliche gemeinsame Zukunft von Juden, Christen und Muslimen in Jerusalem?

Dr. Meyer: Ja, ganz gewiss könnte dies passieren. Aber da muss erst Deutschland in aller erster Linie, und weiter ganz Europa endlich die Anforderungen erfüllen, die der EU-Assoziationsvertrag an das Betragen von Israel stellt. Ohne Druck auf Israel und zwar auf allen Ebenen der Boykott, Abzug der Investitionen, und Sanktions-Kampagnen wird sich nie etwas ändern, und werden die Palästinenser und vielleicht auch Israelis und vielleicht sogar die ganze Welt daran kaputtgehen.

MM: Erlauben Sie abschließend eine Frage zu Ihrer neuen Wahlheimat Niederlande, dessen Staatsbürgerschaft Sie ja auch haben. Den Medien zufolge gewinnt dort derzeit ein ausgewiesener Zionistenfreund und Islamhasser eine Wahl nach der anderen. Wie kommentieren Sie das als wahlberechtigter Bürger?

Dr. Meyer: Dies ist eine furchtbare Situation die man historisch nur vergleichen kann mit den letzten Monaten der Weimarer Republik, sehr ernst und sehr gefährlich also. Es gibt da mehrere Vergleiche, wie zum Beispiel die ökonomische Krise nach dem Zusammenbruch der Finanzwelt, die große Arbeitslosigkeit, die politische Instabilität durch zu viel Parteien, die Islamophobie in der ganzen westlichen Welt, die ja auch von vielen Seiten geschürt wird.

MM: Dr. Meyer, wir danken für das Interview.

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