MM:
Sehr geehrte Frau Amar-Dahl, zweifelsohne
wurden Sie am häufigsten gefragt, warum sie ihre israelische
Staatsbürgerschaft aufgegeben und ausgerechnet die deutsche
Staatsbürgerschaft angenommen haben. Dürfen wir auch noch einmal fragen?
Dr. Amar-Dahl:
Im Juli 2006, als der Libanonkrieg ausbrach,
hatte ich lange genug in Deutschland gelebt, die Sprache erworben und
somit den Anspruch auf einen deutschen Pass gehabt. Doch ihn zu
beantragen war über die Jahre hinweg nicht notwendig. Ich fühlte mich
als Israeli, der israelische Pass war eine Selbstverständlichkeit. Als
der Krieg im Libanon ausbrach, hatte sich dieses Gefühl eben verändert.
Die israelische Wucht in Beirut und auch in Südlibanon hat mich
erschüttert. Die Entscheidung fiel gerade in diesen sechs Wochen. Es
fühlte sich einfach richtig an. Das war eine Art Befreiung.
Israels Kriegspolitik mutete mir schon
immer unbehaglich an, aber ich wusste nicht genau weshalb. 2006 schrieb
ich noch meine Dissertation, die auch das große Thema "vom Krieg und
Einsatz nationalstaatlicher Gewalt" behandelt. Gerade dieses Kapitel
habe ich fertig geschrieben, als der Krieg ausbrach. Gerade weil ich
dann dies verstanden habe, konnte ich diese Entscheidung treffen. Es hat
sich alles quasi gefügt, meine Thesen wurden durch die bittere Realität
bestätigt und auch ich mit meiner politisch-persönlichen Konsequenz.
MM:
Ihre Arbeiten sind vor allem historisch
orientiert. In 2007 haben Sie über die in Deutschland weniger bekannte
Lavon-Affäre
eine Veröffentlichung geschrieben. Was war Ihre Motivation dazu und
sehen Sie Aspekte darin, wie wir heute aus jener Geschichte lernen
können?
Dr. Amar-Dahl:
Ich glaube nicht, dass Menschen wirklich aus
der Geschichte lernen. Die Geschichte hat uns viel zu sehr im Griff, als
dass wir sie wirklich beeinflussen können. Das heißt aber nicht, dass
wir uns nicht bemühen sollen, sie wenigstens zu verstehen, und uns auch
der Illusion begeben, dass wir sie ein Stück beeinflussen könnten.
Die Lavon-Affäre behandelte ich in meiner
Doktorarbeit, die das politische Denken und Leben von Shimon Peres
analysiert. Er ist eine ihrer wichtigen Figuren. Da sich die Affäre in
den formativen 1950ern Jahren ereignet, somit die politische Kultur des
Landes nachhaltig prägt, halte ich sie für eine Schlüsselaffäre.
MM:
Worum ging es in der Lavon-Affäre?
Dr. Amar-Dahl:
Die Affäre ist sehr kompliziert und kann
lästig anmuten, wenn man sich darauf wirklich einlässt. Im Grunde geht
es dabei um einen 1954
von israelischer Seite unternommenen
Sabotageversuch im Ägypten. Das Ziel war, den geplanten Rückzug von
britischen Militärstützpunkten aus Ägypten zu verhindern.
Man wollte die Briten davon
überzeugen, das Land sei noch nicht reif für die Unabhängigkeit. In
Israel hatte man nämlich Angst vor dem kurz davor an die Macht gelangten
General Abdul al-Nasser, der
auch
den Anspruch erhob, den arabischen Nationalismus zu führen. Die Aktion
scheiterte, die Einheitsmitglieder wurden gefasst, verurteilt und
bestraft. Die Ereignisse in Ägypten wurden zu einer innerisraelischen
Affäre, weil dann die Frage der Verantwortung für diese Schlamperei
geklärt werden musste. Eine Reihe von Ermittlungen wurden angestellt,
die immer wieder heftig angefochten wurden, sodass sich die regierende
Arbeiter-Partei 1965 letztlich aufspaltet.
Klar ist, dass die Sabotageaktion ohne die
Genehmigung der politischen Ebene durchgeführt wurde. Der 1954
amtierende Premierminister Moshe Sharett konnte sie nicht billigen, weil
man ihn nicht mal informiert hatte. Nicht von ungefähr: Der neue Premier
war im Begriff, Annährungsversuche mit Nasser abzutasten, die nicht
zuletzt wegen der Sabotage eingestellt wurden. Sein umstrittener
Verteidigungsminister Pinhas Lavon, dessen Namen die Affäre trägt,
meinte auch, nicht von der bestimmten Befehlsanordnung gewusst zu haben.
Seine Gegner im Sicherheitsestablishment, u.a. der Generaldirektor des
Verteidigungsministeriums, Shimon Peres, der Generalstabschef, Moshe
Dajan und die an der Aktion beteiligten Generäle haben es geschafft,
Lavons Verantwortung zu beweisen.
Mit falschen Aussagen und fingierten Dokumenten – wie es sich im
Nachhinein feststellen lässt. Mit Lavons Absetzung
Anfang 1955 beginnt erst recht die verzwickte
und, wie gesagt, leidige Geschichte.
Die
Affäre stellt
die Weichen für die politische Kultur des neuen Staates. Die Details
blieben der israelischen Öffentlichkeit sehr lange geheim; es waren
heftige Auseinandersetzungen in Partei- und Staatsführung, denn man
konnte sich nicht einigen über die "Wahrheit".
Die eigentliche skandalöse Sache an der Affäre, also mit Gewalt und
Risiko für die eigenen Leute die politische Lage im Nachbarstaat
beeinflussen zu können, wurde nie wirklich debattiert. Denn das ganze
hat man sehr lange dementiert bzw.
verschwiegen, so dass die israelische
Öffentlichkeit nicht mal wusste, worum es dabei geht. Bei Peres‘ Version
der Affäre kann man das sehr gut beobachten. Die Sabotage in Ägypten als
Ausgangspunkt der Affäre wird kaum erwähnt;
sie wird
verdrängt,
ausgeblendet. Sie sei nicht das Thema. Mit
Peres‘ Verarbeitung dieser Affäre lässt sich veranschaulichen, was ich
als Entpolitisierung der Sicherheit bezeichne. Das heißt, die
Sicherheitspolitik sei kein Gegenstand der politischen öffentlichen
Debatte. Sie bleibt eine Sache für die Sicherheitsexperten.
MM:
Das erwähnte Buch handelt über das Leben des aktuellen israelischen
Staatspräsidenten Shimon Peres,
der hier vor allem als Friedensnobelpreisträger geehrt wird. Warum
wollen sie dieses Bild eintrüben?
Dr. Amar-Dahl:
Das ist nicht eine Frage des Wollens. Es geht darum, was die Quellen
hergeben und natürlich mit welchem Auge der Historiker sie ließt. Mein
Buch heißt "Shimon Peres: Friedenspolitiker und Nationalist", was
letztlich auf den Punkt die Grundthese von Israels Friedensunfähigkeit
bringt. Peres als Gestalter und "Produkt" der israelischen Ordnung
vertritt diese Unfähigkeit wie kein anderer, weil er eben auch ein
jüdischer Nationalist ist. Den Frieden will er zweifelsohne, doch er
verfolgte als zionistischer Politiker in den diversen Ämtern, die er
über die vielen
Jahre hinweg inne hatte, keine andere Politik, als dass, was auch die
jetzige Regierung macht: Die jüdische Besiedlung von Erez Israel; dies
gehört zu den Grundprinzipien der israelischen Politik seit der Gründung
des jüdischen Staates.
Der zionistische Grundsatz war und bleibt:
Der jüdische Staat für das jüdische Volk in Erez Israel. Daraus
resultiert eine bestimmte Sicherheitspolitik, die sich mit der gegebenen
bi-nationalen Realität und der als
feindselig aufgefassten Umgebung
konfrontiert sieht. Dazu gehört auch die Besatzungsordnung. Und wie ich
zeige, spielte Peres eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der
israelischen Ordnung.
Fakt ist, dass Peres zusammen mit Itzhak
Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat 1994 für das erste Oslo-Friedenabkommen
von September 1993 (Oslo I) den Nobelpreis erhält. Doch die politische
Zweistaatenlösung, die man von diesem Prozess erhofft hatte, war nicht
das politische Ziel des Politikers Peres. Das ergibt meine Untersuchung
mit aller Deutlichkeit.
MM:
In wie weit ist es wissenschaftlich haltbar zu behaupten, dass eines der
Haupthinderungsgründe für einen - wie auch immer gearteten -
Friedensprozess an der Intention scheitert, dass maßgebliche
Verantwortungsträger in Israel nach wie vor von Erez Israel träumen bzw.
sich dafür einsetzen?
Dr. Amar-Dahl:
Bei der Siedlungspolitik ist bekanntlich
nicht alleine die Intention oder der Traum im Spiel. Sie ist eine
zentrale Praxis der israelischen Politik. Die sogenannte "Judaisierung
von Erez Israel" ist neben der Eroberung des Landes (in den zwei Kriegen
1948, 1967) und der Rückkehr des jüdischen Volkes in sein Land die
Politik-Achse des zionistischen Israel. Das kann man wissenschaftlich
nachweisen. Es gibt Gesetze, Reden, Politik usw., die man unter die Lupe
nehmen und deren Logik, deren Räson erschließen
kann. Alle zionistische Parteien
agierten seit der Gründung des Staates nach dem Prinzip, dass Erez
Israel das Land des jüdischen Volkes und Israel ein jüdischer und
demokratischer Staat sei. Das stand nicht wirklich zur Debatte.
Das Problem war, wie dieses Konzept in
der gegebenen bi-nationalen
Realität umzusetzen wäre.
Es gibt durchaus solche wissenschaftlichen
Ansätze, die dem Nahostkonflikt nicht die Palästina-Frage zugrunde
legen, sondern die prinzipielle arabische Ablehnung eines jüdischen
Staates in der Region. Demnach sei
die Palästina-Frage nur eine marginale in dem Konflikt, und
Israel werde mit der Aufhebung der Besatzung
der palästinensischen Gebiete nicht viel geholfen.
Diese
fatalistische Haltung ist
in Israel
weit verbreitet, weshalb der Frieden
kaum vorstellbar ist. Für Israel ist zurzeit nicht sosehr
die Normalisierung der Verhältnisse zu den
arabischen Nachbarvölkern auf der Tagesordnung, sondern
das nationalstaatliche Überleben
nach eigener Vorstellung.
Das ist die Tragik: Um den Konflikt mit
den Palästinensern zu lösen, muss sich Israel quasi von dem sogenannten
maximalistischen Zionismus trennen. Es muss die Palästina-Frage wieder
auf den Verhandlungstisch bringen. Das ist genau, was es nicht kann,
weil Israel in diesem Zionismus die alternativlose Lösung für die
sogenannte "jüdische Frage" versteht. Dabei sind ja existenzielle Fragen
im Spiel.
MM:
Ihre Eltern stammen aus einem Umfeld, in dem sie viel mit Muslimen zu
tun hatten. Gibt es einen Unterschied zwischen den verschiedenen
jüdischen Gruppen der z.B. Sepharden und Aschekenasi usw. im Umgang mit
Muslimen? Wir fragen das auch aus einer Situation heraus, in der viele
Deutsche weder wissen, dass viele Juden in Frieden mit Muslimen leben,
noch wissen das es unterschiedliche jüdische Gruppen gibt.
Dr. Amar-Dahl:
Die israelische Gesellschaft ist eine sehr komplexe, multiethnische und
gleichzeitig nationalistische, daher schwer durchschaubare. Die
Spannungen zwischen europäischen und arabischen Juden in Israel – also
zwischen Aschekenasim und Sepharadim – sind nur ein Bestandteil dieses
Komplexes. Die arabischen Juden haben noch immer um Stellung und
Geltung zu kämpfen in einem nach wie vor von Aschkenazim dominierten
Establishment. Alleine die Tatsache, dass die arabischen Juden ihre
arabische Prägung mit ins zionistische, also sich als europäisch
verstehende Land mitgebracht haben, hat sie in eine heikle Lage
versetzt. Das Arabische galt recht schnell nach der Gründung Israels als
feindselig, verwerflich, jedenfalls etwas, was man sich entziehen soll.
Und unter den arabischen Juden Israels
hatten es die marokkanischen Juden
haben am schwersten, weil sie als laut und rebellisch gelten.
Als ich 2008 zum ersten Mal in Marokko
war, war ich überrascht, wie ruhig die Menschen dort waren. Als ich
meiner Mutter von diesem Eindruck erzählt habe, antwortete sie voller
Verbitterung, „was glaubst du, in Marokko hatten wir es gut, wir
hatte die Ruhe, hier in diesem Land gibt es nur Kriege.“
Diese Reaktion hat mich irritiert, da ich nie geahnt hatte, dass sie so
denkt, dass sie es sogar bereut, (1956)
nach Israel gekommen zu sein. Als Kind
war es für mich selbstverständlich, dass meine religiösen Eltern froh
waren, nach Zion aufgestiegen zu sein, wie es heißt. Da bin ich zum
ersten Mal auf den Gedanken gekommen, dass es nicht der Fall war.
Ähnliche Geschichten hörte ich von anderen jüdischen Israelis arabischer
Herkunft. Der Tenor ist gleich, wir hatten eigentlich ein gutes Leben,
der Grund für die Aliye war entweder religiös motiviert oder
durch israelisch-zionistische Agitation beeinflusst.
Zu Ihrer Frage: Heute haben sowohl die
aschkenasischen
also auch die sepharadischen Juden in Israel ein recht festes Feindbild
vom Muslim bzw. Araber verinnerlicht - leider. Das ist aber ein
historisch gewachsener Prozess der letzten 63 Jahre, der durch die
Konfliktgeschichte erklärbar ist. Wenn Sie so wollen – das ist die
Tragik des Zionismus: Anstatt die Beziehungen zwischen Juden und Gojim
zu normalisieren, hat die Errichtung eines jüdischen Staates das
Gegenteil bewirkt. Die Beziehungen zwischen Juden und Arabern war in der
Geschichte wahrscheinlich noch nie so angespannt wie in den letzten
sechs Jahrzehnten. Das halte ich für eine wirkliche Tragödie.
MM:
Das grundsätzliche Recht, Eretz Israel zu
besiedeln, bestreitet keine zionistische Partei. Wird diese Tatsache in
der Westlichen Welt, vor allem auch in Deutschland, übersehen oder
bewusst ignoriert, um Zeit für weitere Besiedlung zu gewähren?
Dr. Amar-Dahl:
Der offizielle Standpunkt des Westens ist die
Zweistaatenlösung als ein politisches Ziel, worauf hin man arbeiten
müsste. Auch wenn gleichzeitig die Basis des grundsätzlichen Rechts der
Juden auf Erez Israel natürlich nicht wirklich bestritten wird. Ich
glaube aber nicht, dass die deutsche Regierung die Siedlungspolitik
bewusst ignoriert, um Israel Zeit zu gewähren. Sie hätte lieber diesen
Konflikt längst auf besagter Grundlage gelöst. Sie hätte lieber eine
kooperativere Regierung in Jerusalem. Das hätte auch Obama. Das ist aber
nicht zu haben. Das muss man wenigstens realisieren. Man könnte
natürlich mehr Druck auf Israel ausüben, aber das scheint nicht zu
helfen. Obama hat es ja versucht, und wir wissen mit welchem Ausgang.
Deutschland kann offensichtlich noch weniger.
MM:
Wenn Sie einerseits davon ausgehen, dass auf
offizieller israelischer Seite wenig Bereitschaft zu einem gerechten
Ausgleich mit Palästinensern besteht und andererseits Palästinenser
offensichtlich nicht die Bereitschaft mitbringen aufzugeben, wie kann
man dann Hoffnung für einen Frieden haben?
Dr. Amar-Dahl:
Als Historikerin stelle ich solche Fragen nach Hoffnung bzw. Lösungen
nicht. Vielmehr suche ich nach Erklärungen. Ich versuche zu verstehen,
wie es dazu gekommen ist, wie es ist. Als politisch denkender Mensch bin
ich, was diesen Konflikt betrifft, recht pessimistisch und sehr traurig.
Also ich bin nicht die richtige für die Frage nach Hoffnung auf Frieden.
Wir haben es hier mit der militärisch stärkeren Partei in diesem
Konflikt zu tun, die viel zu hartnäckig, selbstgerecht und uneinsichtig
ist, und offensichtlich entschlossen ist, ihre politischen Ziele gegen
jeden Widerstand zu erreichen. Das kann nicht gut ausgehen.
MM: Eines Ihrer
Postdoc-Forschungsprojekte handelt über den Holocaust-Diskurse in
Israel. Was meinen Sie damit?
Dr. Amar-Dahl:
Der
Holocaust kann meiner Meinung nach
einige Erklärungen liefern für die israelische Haltung. Die Shoah gilt
neben der Errichtung des jüdischen Staates als das konstitutive
Geschichtsereignis, das die jüdische Identität und das jüdische
Selbstverständnis in der zweiten Hälfte des 20. Jh. geprägt hat. Mit
diesem Projekt suche ich nach Antworten u.a. auf
besagte
Hartnäckigkeit der Israelis. Es geht dabei um die Frage der
israelischen
Verarbeitung
der jüdischen Katastrophe, die
sich in
Europa ereignete und im Kontext des
Nahostkonfliktes rezeptiert wird.
Eine Vermutung wäre, dass die Shoah
beträchtlichen
Einfluss auf die Sicherheitspolitik Israels
hat, die wiederum mit existenziellen Grundängsten zu erklären wäre.
Prof. Moshe Zuckermann aus Tel Aviv stellte in Frage, ob die Juden je
das Shoah-Trauma überwinden könnten. Ich gehe der Frage nach, wie
die jüdischen Israelis dies im nahöstlichen Kontext tun.
MM: Erlauben Sie abschließend eine
schwierige Frage: Wie glauben Sie ist Frieden zwischen Juden, Christen,
Muslimen und anderen im für alle drei Religionen Heiligen Land möglich?
Dr. Amar-Dahl:
Sie meinen, ob der Weltfriede möglich sei? In der Tat eine schwierige
Frage. Das ist aber keine Frage für Historiker, geschweige denn für
säkulare Historiker. Das wäre eher eine Frage für Gott, den wir
offensichtlich mehr brauchen als wir es glauben.
MM: Frau Amar-Dahl, wir danken für das
Interview. |