Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. B. Hontschik
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Bernd Hontschik - Facharzt für Chirurgie und Autor
10.5.2011

Dr. Bernd Hontschik (Jahrgang 1952) hat nach dem Abitur in Frankfurt am Main Medizin studiert und begann 1978 die Ausbildung zum Facharzt im Bereich Chirurgie. 1987 folgte die Promotion zum Thema "Theorie und Praxis der Appendektomie" (operative Entfernung des Wurmfortsatzes). Diese Arbeit wurde als Buch veröffentlicht und 1989 mit dem Roemer-Preis des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin ausgezeichnet. Bis 1991 war er Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt/Main-Höchst. Im Anschluss daran machte er sich selbständig und führt heute gemeinsam mit seinem Partner, Dr. Ulf Bromberger, eine chirurgische Gemeinschaftspraxis mit ambulantem OP-Zentrum in der Frankfurter Innenstadt.

Dr. Hontschik ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen und Herausgeber der Taschenbuchreihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Einige seiner Veröffentlichungen sind Kapitel in bekannten Lehrbüchern der Medizin, wie z.B. "Unfallchirurgie" oder "Psychosomatische Medizin" (Uexküll), das inzwischen in der siebten Auflage erschienen ist. Seine Bücher behandeln ganzheitliche Aspekte, so auch in seinem Taschenbuch "Körper, Seele, Mensch", das als Band 1 der inzwischen zwölfbändigen Reihe "medizinHuman" zum Bestseller geworden ist (www.medizinHuman.de).

Er schreibt seit Jahren regelmäßig Kolumnen in der Frankfurter Rundschau. Er ist Vorstandsmitglied (seit 1998) der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin und Mitherausgeber der Schriftenreihe der Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin im Schattauer Verlag, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis" und wurde als Bürgervertreter in die Betriebskommission der Städtischen Klinik Frankfurt am Main/Höchst berufen. Er ist Mitglied u.a. in der IPPNW ("Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung") sowie in der Ärztevereinigung MEZIS "Mein Essen zahle ich selbst".

Seit 2008 hat er einen Lehrauftrag im Masterstudiengang "Komplementäre Medizin - Kulturwissenschaften - Heilkunde" am Institut für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder; seit 2010 ist er zudem Projektleiter für Integrierte Medizin am Institut für therapeutische Kommunikation der Steinbeis-Hochschule in Berlin.

Dr. Hontschik ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Frankfurt am Main.

MM: Im Islam wird Medizin stets als Gesamtdisziplin zwischen Körper (irdische Hülle), Seele (das uns anvertraute und zu bändigende "Ich" im Herzen) und Geist (das Licht Gottes in jedem Herzen) verstanden. Wie kommt ausgerechnet ein Chirurg dazu, einen ähnlich ganzheitlichen Ansatz in die heutige Medizin integrieren zu wollen?

Dr. Hontschik: Zunächst muss ich vorausschicken, dass ich ein kein religiöser Mensch bin. Mein 'Glaubensbekenntnis' wäre am ehesten in den Artikeln 1 bis 19 des deutschen Grundgesetzes zu finden, mit dem alle Menschen friedlich zusammenleben könnten. Ich fühle mich der Aufklärung, den Menschenrechten und dem Humanismus verpflichtet. Darin wurzelt das, was Sie als einen 'ganzheitlichen Ansatz' in meinem medizinischen und publizistischen Handeln erkennen. Und auf dieser Basis denke ich, dass eigentlich Chirurgen sogar vor allen anderen auf die Idee kommen müssten, dass irgendetwas mit der rein künstlichen Trennung von Körper einerseits und Seele oder Geist andererseits nicht stimmen kann. Chirurgen werden ja gemeinhin eher als Handwerker wahrgenommen, und auch im Selbstbild gehören sie zumeist zu einer Sorte von Ärzten, die sich "nur" mit dem Körper befassen, also aufschneiden, entfernen, einsetzen, hämmern, schrauben, nageln, zunähen, verbinden usw. Wenn man aber diese chirurgische Arbeit eine Zeitlang macht und dabei nicht ganz in Stress und Routine versinkt, beginnt man sich immer mehr zu wundern. Warum weint der eine Mensch bei der Versorgung einer kleinen Wunde bitterlich, warum erträgt der andere Mensch die Einrichtung eines verschobenen Knochenbruchs ohne Betäubung mit großer Ruhe? Warum heilt eine Wunde bei dem einen Patienten, warum heilt sie bei einem anderen nicht, obwohl man als Chirurg genau die gleiche Operation vorgenommen hatte? Solche Fragen gibt es viele, und ein mechanisches Körperbild, das nur Ursache und Wirkung kennt und so tut, als seien Menschen technische Maschinen, hilft bei der Arbeit des Arztes gar nicht. Und ein Chirurg ist eben auch ein Arzt, kein Mechaniker. Das Problem beginnt eigentlich schon in der medizinischen Ausbildung, und bei der ärztlichen Tätigkeit wird einem mit der Zeit immer deutlicher: Wenn man Körper und Geist erst einmal getrennt hat, kommt man von dieser Haltung nur mühsam wieder los. Ein Lebewesen ist aber keine Ursache-Wirkungs-Maschine, sondern dazwischen findet etwas statt, das man 'Bedeutungserteilung' nennen könnte. Der Umgang mit der Bedeutungserteilung ist der eigentliche Inhalt der ärztlichen Arbeit, auch der chirurgischen. Oder anders gesagt: In der Medizin geht es nicht um das 'Körper haben', sondern um das 'Körper sein'.

MM: Es klingt ungewöhnlich, einerseits zu behaupten, kein religiöser Mensch zu sein, und andererseits sich so intensiv sich mit Geist und Seele zu beschäftigen. Gemäß mystischer Vorstellung im Islam ist der Körper ein Spiegel unseres spirituellen Daseins. Beispielsweise ist das Herz des Menschen - grob vereinfacht dargestellt - in zwei Bereiche aufgeteilt. In dem einen wirkt der Geist Gottes, im anderen die "Seele", also das Ich. Bei Neugeborenen waren die Bereiche noch direkt miteinander verbunden, aber die Verbindung schließt sich beim körperlich gesunden Menschen sehr schnell. Wessen beide Herzbereiche im Gleichklang schlagen, der hat ein gesundes Herz, ansonsten kann es Probleme geben. Können Sie solchen - hier verkürzt wiedergegebenen - Darstellungen mit Ihren praktischen Erfahrungen etwas abgewinnen?

Dr. Hontschik: Für mich ist die Beschäftigung mit Körper und Seele, mit Krankheit und Gesundheit weder mystisch noch spirituell. Vielleicht kann ich Ihnen meine Einstellung dazu mit Bertolt Brechts berühmten Herrn Keuner illustrieren, der eines Tages gefragt wurde, ob es einen Gott gäbe. Da antwortete Herr Keuner: "Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch soweit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott."

Mir gefällt Ihre Metapher des Gleichklangs sehr gut. Dieser Gedanke scheint mir zumindest verwandt mit einem zentralen Begriff der Integrierten Medizin, nämlich der Passung. Um in Ihrem Bild zu bleiben, stellt sich im Falle einer Krankheit ja die zentrale Frage, warum die beiden Teile des Herzens nicht mehr im Gleichklang schlagen. Oder in meinen Worten: In der Integrierten Medizin verstehen wir Krankheit als eine Passungsstörung, und wir betrachten es als die vornehme Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit, die Lokalisation dieser Passungsstörung zu suchen und zu finden – gemeinsam mit den Patienten. In Ihrem Bild geht es um die Passung zwischen zwei Bereichen des Herzens, die Sie sich vorstellen. In unserer Theorie versuchen wir, uns Systemebenen vorzustellen und zu verstehen, in denen Lebewesen existieren, also z.B. molekulare, zelluläre, organische, körperliche, seelische, soziale oder globale. Irgendwo in diesem komplexen System zwischen Lebewesen und Welt ist die Passungsstörung angesiedelt, die wir Krankheit nennen. Letzteres ist – nebenbei bemerkt – allerdings keine universal gültige Kategorie, sondern eine rein historische, ständigem Wandel unterworfen. Krankheiten, bzw. die Diagnose von Krankheiten, ändern sich ständig. Als man noch nichts von Bakterien wusste, wusste man natürlich nichts über Infektionskrankheiten. Oder: Vor wenigen Jahren noch war zum Beispiel die Homosexualität eine Krankheit und hatte in der Internationalen Krankheitsklassifikation ICD einen eigenen Code. Heute ist sie längst ersatzlos gestrichen.

MM: Heutzutage ist die Wahrnehmung in der Bevölkerung gegenüber der Medizinbranche - abgesehen von dien vielen guten Ärzten, die es im Land noch gibt - zunehmend von einer Gewinnmaximierungsorientierung geprägt. Haben hier - neben der Politik und der Pharmaindustrie - auch Ärzte eine gewisse Mitverantwortung?

Dr. Hontschik: Das ist nun ein ganz anderes Feld, das Sie mit dieser Frage ansprechen: nicht das der medizinischen Philosophie, sondern das der Gesundheitspolitik. In unserem Land findet seit geraumer Zeit, spätestens seit der unseligen Regierungserklärung von Gerhard Schröder zu seiner 'Agenda 2010' vom März 2003, eine rasante sozialpolitische Wende statt. Man könnte das so zusammenfassen: Während das Gesundheitswesen bislang ein Bereich war, in das unsere Gesellschaft einen Teil ihres Reichtums hineingesteckt hat, um erkrankten und verletzten Menschen eine optimale gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen, ist mit dieser Umorientierung, diesem Wertewandel das Gesundheitswesen plötzlich als ein Wirtschaftszweig entdeckt worden, in den man investieren kann, um eine Rendite zu erwirtschaften. Über den Krankenhausbereich, aber auch über den ambulanten Bereich rollt heute eine zunehmende Privatisierungswelle. Kein Land der Welt hat einen so hohen Anteil an privatisierten Krankenhausbetten wie Deutschland. Und die Rendite der Investoren ist – wenn man das Gesamtsystem betrachtet – eine Summe, die dem sozialen Feld des Gesundheitswesens entzogen wird. Als Arzt, der sich der Humanmedizin verpflichtet fühlt, sehe ich hier einen unauflösbaren Zielkonflikt: man kann es nicht gleichzeitig dem Wohl des Kranken und dem Wohl der Shareholder recht machen. Und die Macht der Investoren nimmt leider ständig zu, sie haben einfach die stärkere Lobby als die Kranken. Ärzte haben an dieser unseligen Entwicklung insofern eine Mitverantwortung, als sie teilweise als Profiteure dieser Zerstörung des sozialen Gesundheitswesens agieren. Ich bin allerdings – zum Glück – nicht der einzige, der mit seinen bescheidenen Mitteln versucht, dagegen anzukämpfen. Im Gesundheitswesen gelten die Marktgesetze nicht, denn der Patient ist kein Kunde und der Arzt kein Anbieter. Der Patient ist ein kranker Mensch, und sein Arzt muss – mit ihm gemeinsam – einen Weg suchen, um zu Linderung oder Heilung zu finden. Das ist ein individueller Vorgang, sozusagen Beziehungsarbeit. Das ist die einfache Wahrheit, das läßt sich nicht industrialisieren oder privatwirtschaftlich organisieren, das verspricht keine Rendite. Der eigentliche Auftrag der Humanmedizin ginge dabei verloren. Ein hoher Preis für gute Renditen für Wenige, oder?

MM: Die Wahrnehmung komplexer medizinischer Zusammenhänge wird heutzutage sehr stark auch durch die Medien geprägt, was teilweise zu sehr großer Verwirrung führt. So hatte bisher jeder unter dem Begriff "weltweite Pandemie" die Vorstellung einer unvorstellbar großen und schwer zu beherrschenden Gefahr. Bei der letzten "weltweite Pandemie" sind aber weltweit weniger Menschen gestorben, als allein durch "normale" Grippe jedes Jahr in Deutschland. Wie kommt es zu solch einer Verwirrung?

Dr. Hontschik: Die Medien haben eine große Verantwortung, der sie jedenfalls in der Gesundheitspolitik überhaupt nicht gerecht werden. Alle Medien faseln z.B. von einer 'Kostenexplosion' in unserem Gesundheitswesen, obwohl es keine gibt. Alle Medien malen die hohen Lohnnebenkosten an die Wand, obwohl Deutschland im europäischen Vergleich eine mittlere Stellung einnimmt – bei sehr hoher Produktivität. Und alle Medien machen den medizinischen Fortschritt und die zunehmende 'Überalterung' unserer Gesellschaft für Probleme im Gesundheitswesen verantwortlich, obwohl beides ganz und gar falsch ist. Und wenn Sie nach der 'weltweiten Pandemie' fragen: Hier muss man ganz klar die mafiösen Strukturen der sogenannten Global Player der Gesundheitswirtschaft in den Blick nehmen, besonders die der Pharmaindustrie. Die WHO hat bei der sogenannten Schweingrippe zur Pandemiestufe 6 gegriffen, die für die gefährlichsten, tödlichsten und ansteckendsten weltweiten Pandemien vorgesehen ist. Die Regierungen haben weltweit für Milliarden Euro, Dollar oder was auch immer tonnenweise unwirksame Grippemedikamente eingelagert und in den öffentlichen Gesundheitswesen zu Impfungen aufgerufen, was man nur als Propaganda oder hochprofessionell gesteuerte Werbekampagnen verstehen konnte, wissenschaftlich gesichert war davon aber gar nichts. Und letztlich war alles eine riesige Blamage für die gekauften Fachleute, eben auch einschließlich der Weltgesundheitsorganisation WHO. Allerdings ist zunächst ungeheuer viel Geld verdient worden, bis der Schwindel aufflog. Auch bei den nationalen Institutionen, z.B. der Ständigen Impfkommission in Deutschland, sind sogenannte 'Interessenkonflikte' gang und gäbe. Das war bei der Vogelgrippe so, das war bei der Schweinegrippe so, und auf den nächsten 'grippalen' Knüller kann man schon warten.

MM:  Eine weitere Verwirrung stellt der Umgang mit der für uns unsichtbaren Strahlung dar. Da ist die Rede von Hunderten von Arbeitern, die tagtäglich sich der Strahlung aussetzen, aber außer einer Handvoll Strahlenopfer passiert medial eigentlich kaum etwas Gesundheitliches. Wie ist das zu verstehen?

Dr. Hontschik: Die Antwort auf diese Frage wüsste ich auch gerne. Was soll man zum Beispiel von der Meldung halten, dass japanische Onkologen, also Krebsspezialisten, zu einer Entnahme von Stammzellen bei den tapferen Arbeitern von Fukushima aufrufen, um deren Krebserkrankungen, mit deren Auftreten mit Sicherheit zu rechnen ist, in späteren Jahren behandeln zu können. Damit ist doch klar, was auf die Betroffenen zukommt! Radioaktivität ist unsichtbar, Radioaktivität tut nicht weh, Radioaktivität ist erst nach Jahren, Jahrzehnten, bei einigen Stoffen sogar erst nach vielen Jahrtausenden aus den natürlichen Kreisläufen des Wassers, der Luft und der Nahrung allmählich wieder verschwunden. Radioaktivität schädigt die Erbinformationen in den Genen; solche Schäden treten zum Teil erst in der zweiten oder dritten Generation zu Tage. Und das Entscheidende aus ärztlicher Sicht ist: Wir Ärzte werden Euch verstrahlten Patienten nicht helfen können! Eher schon werden wir genauso daran zu Grunde gehen. Und deswegen wird das alles von offizieller Seite gerne verschwiegen, ganz abgesehen von der großen Decke, unter der die Politik und die Atomwirtschaft stecken. Der Gipfel der Ignoranz und der Verlogenheit ist ein Geheimvertrag zwischen der WHO und der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEO, der erst jüngst bekannt geworden ist. Er datiert aus dem Jahre 1959 und verpflichtet die WHO, keine wissenschaftlichen Untersuchungen und keine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, keine Maßnahmen zu propagieren ohne vorherige Genehmigung durch die IAEO. Damit ist doch klar, warum die WHO weder in 25 Jahren seit der Katastrophe von Tschernobyl noch in den letzten Wochen nach der Katastrophe von Fukushima die "Gesundheit aller Völker" zur Maxime ihres Handelns gemacht hat. Nur zu Desinformation, Bagatellisierung und abwiegelnden Stellungnahmen war und ist sie in der Lage. Selbst die Dokumente von zwei UN-Konferenzen zum Thema Tschernobyl, die 1995 in Genf und 2001 in Kiew stattfanden, werden von der WHO bis heute geheim gehalten. Denn laut IAEO sind durch die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl "weniger als 50 Tote" zu beklagen. Ein makabrer Witz! Aber dazu muss die WHO halt schweigen.

MM: Wenn die Weltgesundheitsorganisation tatsächlich solch einen Geheimvertrag hat (der jetzt ja nicht mehr ganz so geheim ist), warum gibt es nicht einen weltweiten Aufschrei der Politik oder zumindest der Ärzteschaft?

Dr. Hontschik: Da täuschen Sie sich. Sie verwechseln den Aufschrei damit, dass er auch gehört wird. Seit 30 Jahren gibt es die IPPNW, die "Internationale Ärztevereinigung für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung", die 1985 sogar den Friedensnobelpreis erhalten hat. In Deutschland hat diese Vereinigung etwa 7.000 Mitglieder, weltweit dürften es etwa 120.000 sein. Nach Tschernobyl für kurze Zeit und jetzt nach Fukushima wieder hört man vermehrt darauf, was diese Ärzte unermüdlich erforschen und sagen, z.B. auch über Krebserkrankungen bei Menschen, die nahe an Atomkraftwerken wohnen. Am Aufschrei der Ärzte hat es also noch nie gefehlt. Der Aufschrei der Politik, nach dem sie fragen, den vermisse ich allerdings auch. Denn die hysterischen Reaktionen nach Fukushima sind doch alle unglaubwürdig. Es gibt nicht ein einziges neues Argument, nicht einen einzigen neuen Gedanken, kein einziges neues Szenario durch Fukushima: Alles war bis ins Detail längst bekannt, auch wenn unsere Politiker staunen wie kleine Kinder. Ein kleines Beispiel: In meinem Bücherregal steht ein 30 Jahre altes Buch, es hat 1292 Seiten und heißt "Friedlich in die Katastrophe" von Holger Strohm. Es war ein Bestseller damals und wurde vom Verlag an alle damaligen Bundestagsabgeordneten, an die Bundesregierung, an den Bundespräsidenten, die Ministerpräsidenten, die Oberbürgermeister, an EU-Abgeordnete, die Gewerkschaften, an die Kirchen, sogar an Erich Honecker und Willi Stoph in der DDR verschickt. In diesem Buch steht alles schon drin, wirklich alles. Und was hat es bewirkt? Wir leben immer noch in einem Atomstaat. Meine große Hoffnung ist, dass die Bevölkerung sich diesmal nicht von Ethik- und anderen Kommissionen einlullen lassen wird. Im Unterschied zu Tschernobyl ist Fukushima vor laufenden Fernsehkameras, sozusagen live in allen Wohnzimmern, Stück für Stück explodiert. Wer kann diese Bilder jemals wieder vergessen?

MM: Sie sind Mitglied der Ärztevereinigung “Mezis – Mein Essen zahle ich selbst!“ Was bedeutet das? Gibt es denn Ärzte, die ihr Essen nicht selbst bezahlen bzw. beschränkt es sich denn allein auf das Essen?

Dr. Hontschik: Es ist zwar nur ein winziger Haufen von Ärzten in dieser Vereinigung MEZIS, der aber trotzdem schon einigen Staub aufgewirbelt hat. Es geht darum, dass Ärzte einerseits ja ganz gut verdienen, andererseits aber schon immer durch kleine Geschenke manipulierbar sind. Besonders auffällig ist die Übernahme der Kosten von Reise, Kost und Logis bei einem Kongress an schönen Plätzen irgendwo auf dieser Welt durch Pharmafirmen, wo von eben jenen Pharmafirmen bezahlte Referenten die versammelte Ärzteschaft auf ein Medikament von eben jener Pharmafirma einschwören. Sehr aufwändig und lästig ist auch der hunderttausendfache Besuch von Pharmavertretern in Arztpraxen, die mit kleinen Geschenken von Kugelschreibern über Bücher bis zu medizinischen Geräten die Ärzte zur Verordnung von Präparaten ihrer Firma bewegen wollen. Schon fast lächerlich sind außerdem die sogenannten Anwendungsbeobachtungen, bei denen sich Ärzte verpflichten, ein bestimmtes Medikament zu geben, um anschließend dessen Wirkung zu beobachten und auf einem wissenschaftlich völlig unbrauchbaren Fragebogen die Ergebnisse einzutragen. Jeder solche abgegebene Fragebogen wird dem Arzt gut honoriert, dann aber wandert er in irgendeine Kellerablage oder den Reißwolf der Pharmafirma, die nun wiederum bestens im Verordnungsgedächtnis des Arztes verankert ist. Das alles wird von MEZIS angeprangert, denn von einer wissenschaftlich fundierten Medizin kann da ja keine Rede sein. Es geht um die Unabhängigkeit der Ärzte, auf die sich Patienten eigentlich verlassen können müssten.

MM: In Deutschland gibt es zunehmend Menschen mit Migrationshintergrund, die zuweilen ein anderes Schamgefühl und andere Reinlichkeitsregeln (z.B. Wasserreinigung nach Urin- und Stuhlgang) haben. In wie weit kann die moderne Medizin solche Aspekte berücksichtigen? Hilft interkulturelle Kompetenz auch im medizinischen Bereich?

Dr. Hontschik: Das ist wirklich ein großes Problem, und ich stelle immer wieder fest, wie gering meine "interkulturelle Kompetenz" in dieser Hinsicht ist. Ich bin z.B. immer wieder überrascht, was Patienten während des Ramadans alles nicht machen, obwohl es medizinisch notwendig wäre. Oder es verblüfft mich, dass männliche Patienten sich im Anal- oder Genitalbereich nicht von einer Ärztin untersuchen oder behandeln lassen wollen. Mit am schwierigsten sind Situationen, wo Frauen erkrankt sind und eine unbeeinflusste Kommunikation zwischen Arzt und Patientin nicht möglich ist, weil die Männer dieser Frauen den Untersuchungsraum unter gar keinen Umständen verlassen wollen. Über allem schwebt natürlich das Problem der Sprache: Wie die meisten Ärzte in Deutschland spreche ich bestenfalls eine oder zwei europäische Fremdsprachen leidlich gut. Wenn also Patienten mit Migrationshintergrund der deutschen Sprache nicht wirklich mächtig sind, ist die wichtigste Grundlage der Medizin, nämlich die Kommunikation, von vorneherein schwer gestört. Das verursacht sicherlich viele Behandlungsfehler.

Hier liegt also noch viel Arbeit vor uns allen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle, sozusagen stellvertretend für diese notwendige Arbeit, das Projekt "Helpinghand" am HIV-Center der Universitätsklinik Frankfurt erwähnen. Dort wird eine Gruppe von Patienten und anderen kompetenten Personen, die selbst einen Migrationshintergrund haben und schon lange genug in Deutschland leben, um sich auch in den Institutionen unseres Gesundheitswesens auszukennen, im Umgang mit Patienten aus ihrem eigenen Kulturkreis geschult, so dass sie diese beraten und begleiten können. Die HIV-Infizierten finden dort also im Idealfall einen Ansprechpartner aus ihrem eigenen Kultur- und Sprachkreis, was Aufklärung, Beratung und letztendlich auch Behandlung erst möglich macht. Solche vorbildlichen Projekte müsste es viel mehr geben, auch für weniger dramatische Krankheiten als die HIV-Infektion.

MM: Dr. Hontschik, wir danken für das Interview.

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