Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Homburg
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Stefan Homburg - Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover
10.1.2012

Prof. Dr. Stefan Homburg (Jahrgang 1961) hat nach seinem Abitur in Düsseldorf das Studium der Volkswirtschaftslehre, Mathematik und Philosophie an der Universität zu Köln als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes begonnen und 1985 als Diplom-Volkswirt abgeschlossen. 1987 folgte an gleicher Stelle die Promotion mit Auszeichnung zum Dr. rer. pol. und 1991 die Habilitation an der Universität Dortmund. Zwischen 1985 und 1990 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Akademischer Rat in Köln und Dortmund und begann seine Laufbahn als Professor 1990 an der Universität Bonn im Bereich Wirtschaftstheorie. Ab 1992 wurde er zum Professor für Finanzwissenschaft an die Universität Magdeburg berufen und ab 1997 zum Professor für Öffentliche Finanzen an die Leibniz Universität Hannover, wo er heute noch lehrt. 

Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war er bis 2003 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, ein Jahr lang Mitglied der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat (bis 2004) und drei Jahre lang Mitglied des Nachhaltigkeitsrats (RNE) der Bundesregierung (bis 2007). Er war Herausgeber der "Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" bzw. "Perspektiven der Wirtschaftspolitik" des Vereins für Socialpolitik. Acht Jahre lang war er zudem Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (bis 2007) und arbeitet seit 2003 zudem als Steuerberater und sitzt in Aufsichtsräten deutscher Unternehmen. Er ist Autor unzähliger Bücher und Veröffentlichungen.

Prof. Dr. Stefan Homburg ist verheiratet und lebt im Großraum Hannover.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Homburg, der Normalbürger, der keine Wirtschaftwissenschaft studiert hat, hat in den letzten Jahren den Eindruck erhalten, als wenn ein wesentlicher Teil der Wirtschaftswissenschaftler von der aktuellen Systemkrise im Finanzsektor "überrascht" worden ist. Trügt der Eindruck?

Prof. Dr. Homburg: Hier muss man unterscheiden: Die Probleme der Banken hat kaum ein Außenstehender erahnt, schließlich darf auch niemand den Banken in die Bücher schauen. Anders verhält es sich mit der Staatsverschuldung, vor der die meisten Volkswirte seit Jahr und Tag gewarnt haben. Dieser Teil der Turbulenzen kam keineswegs unerwartet.

MM: Während jeder weniger gebildete Haushalt weiß, dass die Zunahme an Schulden früher oder später zur Insolvenz führen würde, wussten es ganz offensichtlich die gebildeten Verantwortungsträger in der Politik in ganz Europa nicht und die Stimmen aus der Wissenschaft haben sie offensichtlich auch nicht hinreichend erreicht. Wie ist das zu erklären?

Prof. Dr. Homburg: Es gibt zwei Erklärungen: Erstens war es früher schwierig, Studenten und Bürgern die Möglichkeit von Staatsbankrotten nahezubringen. Diese Möglichkeit hielten viele für weit hergeholt, weil es in der Nachkriegszeit in Westeuropa keinen Staatsbankrott gegeben hat. Es existieren zwar hunderte Beispiele für Staatsbankrotte, aber diese ereigneten sich zu anderen Zeiten oder in anderen Regionen. Zweitens gibt es in der Wissenschaft stets einige Außenseiter, denen zufolge Staatsschulden gut sind und Staaten angeblich nicht pleite gehen können, weil sie über das Besteuerungsrecht verfügen. Wer solche Minderheitspositionen vertrat, konnte in den letzten Jahrzehnten damit rechnen, auf Gewerkschaftsticket in den Club der "Fünf Wirtschaftsweisen" berufen zu werden. Der Politik waren solche Botschaften natürlich ganz recht.

MM: Gibt es nicht evtl. ein grundsätzliches Problem, dass auch außerhalb der Verschuldung zu suchen ist, wenn selbst eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt, die Deutschland, inzwischen ein Drittel des Staatshaushaltes allein für die Zinsen aufbringen muss?

Prof. Dr. Homburg: Das grundlegende Problem der Staatsverschuldung besteht einfach darin, dass es vielen Bürgern ganz lieb ist, wenn Lasten auf künftige Generationen verschoben werden. Man selbst will staatliche Leistungen, Steuern bezahlen sollen andere.

MM: Wie können Sie einem einfachen Bürger, der immerhin seine Stimme für die eine oder andere Partei abgeben und damit die Wirtschaftspolitik mitbestimmen muss, halbwegs verständlich erklären, warum staatliche Zentralbanken an private Banken zu extrem niedrigen Zinsen Gelder verleihen, damit diese zu einem etwas höheren Zinssatz die Gelder wiederum an den Staat verleihen?

Prof. Dr. Homburg: Dass die Zentralbanken den Banken günstige Kredite geben ist weder neu noch skandalös, sondern in Europa der traditionelle Weg der Geldschöpfung. Jede Bank benötigt eine Zinsmarge, um wirtschaftlich arbeiten zu können, genau so wie der Händler eine Handelsspanne braucht. Es stimmt zwar, dass Teile der Kredite an Staaten vergeben werden, doch schauen die Banken bei der Bonität schon genauer hin als eine Zentralbank dies täte. Gefährlicher ist daher der Kauf von Staatschuldpapieren durch die Europäische Zentralbank.

MM: Warum dürfen Privatbanken Gelder verleihen, die sie gar nicht "haben" (Stichwort Eigenkapitalquote)?

Prof. Dr. Homburg: Die Funktion des Bankensystems besteht darin, Gelder der Sparer einzusammeln und an Investoren zu verleihen, das ist für sich genommen auch nicht bedenklich. Kritisch ist vielmehr folgendes: Erstens sind die Eigenkapitalquoten vieler Banken so gering, dass sie leicht in Insolvenz gehen können. Zweitens sind manche Banken wie die Deutsche Bank so groß, dass sie den Steuerzahler im Notfall erpressen können. Drittens liegt der Schwerpunkt vieler Banken inzwischen nicht mehr bei der Kreditvergabe, sondern beim wechselseitigen Erwerb sogenannter strukturierter Finanzprodukte, mit den sich die Branche wechselseitig hochschaukelt oder an den Abgrund manövriert. Meiner Ansicht nach sollten Großbanken zerschlagen werden, weil die von ihnen ausgehenden wirtschaftlichen und politischen Gefahren zu groß sind. Ganz falsch wäre es, Banken zu verstaatlichen, weil das Risiko dann vollständig beim Steuerzahler läge. Die meisten deutschen Landesbanken sind hierfür ein abschreckendes Beispiel.

MM: Das klingt vernünftig, aber wie soll es realisiert werden? Einmal ganz praktisch gefragt: Wie können Deutsche Bank und Goldman Sachs zerschlagen werden, wo sie doch bereits heute so groß sind, dass sie selbst größte Volkswirtschaften erpressen können. Ist das nicht ein Widerspruch? Wer soll denn die Kraft aufbringen, gegen jene "Mächtigen" etwas derart Umwälzendes zu unternehmen, wenn selbst bei "kleineren" Umwälzungen die Politik immer wieder eingeknickt ist?

Prof. Dr. Homburg: Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Die Finanzindustrie hat die Politik heute weitgehend unterjocht. Und zwar nicht nur machtpolitisch, sondern vor allem intellektuell, indem sie den Regierenden einredet, es käme zum Schlimmsten, wenn nicht alle Banken vom Steuerzahler garantiert werden. Weil die Medien heutzutage vornehmlich solche "Professoren" zu Worte kommen lassen, die nicht an einer staatlichen Universität arbeiten, sondern für eine Bank oder Bankhochschule, ist auch die Öffentlichkeit inzwischen weichgeklopft. Insofern ist es schwierig, das Richtige umzusetzen.

MM: Kann es Wachstum in einer Gesellschaft geben, die schrumpft? Oder anders gefragt: Warum sollen immer weniger Menschen immer mehr Zahnpaste konsumieren?

Prof. Dr. Homburg: Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern ergibt sich aus dem Bestreben vieler einzelner Menschen, ihre Lage zu verbessern. Wenn alle mit dem zufrieden wären, was sie haben, gäbe es auch kein Wachstum. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Menschen dann, wenn sie genug Zahnpasta kaufen können, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, zusätzlich noch andere Dinge haben wollen. Daher ist das Wachstum entgegen zahlreichen Prognosen der letzten Jahrhunderte bisher nicht zum Stillstand gekommen. Eine schrumpfende Bevölkerung mag das Wachstum dämpfen, aber so lange der Wohlstand pro Kopf zunimmt, wird dies mindestens ausgeglichen.

MM: Ergibt sich das heutige Wachstum wirklich aus dem Bestreben der Menschen, ihre Lage zu verbessern oder aus der Notwendigkeit, die Forderungen des Finanzmarktes zu erfüllen? Ist qualitatives Wachstum bei schrumpfenden Bevölkerung denn grundsätzlich hinreichend bei einem Geldsystem, dass ohne Wachstum zusammenbrechen würde und gibt es denn keine Modelle für eine qualitative Weiterentwicklung ohne "Wachstum" in dem Sinn, wie es heutzutage verwendet wird?

Prof. Dr. Homburg: Unser Wirtschaftssystem würde auch ohne Wachstum funktionieren. Schließlich gibt es Geld und Märkte seit vielen Jahrtausenden, während nennenswertes Wirtschaftswachstum eine Erscheinung der späten Neuzeit ist. Unser Wachstum ist auch durchaus qualitativ, denken Sie einmal an den Zustand der Flüsse oder der Umwelt vor 50 Jahren und heute.

MM: Gibt es nicht zudem gewisse Branchen, bei denen Wachstum sogar schädlich wäre? Muss z.B. eine Pharmaindustrie nicht idealerweise dafür sorgen, dass immer weniger Medikamente benötigt werden und eine Energie- und Wasserwirtschaft dafür, dass immer weniger Energie und Wasser verbraucht werden?

Prof. Dr. Homburg: Natürlich werden manche wirtschaftlichen Aktivitäten als schädlich angesehen. Ich nenne als drastischeres Beispiel nicht die Pharma-, sondern die Drogenindustrie. In solchen Fällen ist es Aufgabe des Staates, die für schädlich gehaltenen Branchen durch Steuern oder Verbote zu begrenzen.

MM: Abschließende Frage: Sie sind ja auch als Steuerberater für Unternehmen tätig. Was raten Sie derzeit Unternehmen - aber auch Privatpersonen - im Umgang mit Schulden und Geldanlagen ganz allgemein?

Prof. Dr. Homburg: Zu dieser Frage könnte man ein Buch schreiben. Weil hier wenig Raum besteht, beschränke ich mich auf zwei Tipps. Erstens sollte man sich nicht für schlauer halten als der Markt. Wer etwa meint, er könne Inflationsgefahren durch fremdfinanzierte Immobilien entgehen, der beschäftige sich mit der deutschen Wirtschaftsgeschichte, um zu sehen, dass diese Strategie nicht aufgehen wird. Zweitens kann niemand vorhersehen, was kommen wird. Dies spricht dafür, nicht alle Eier in einen Korb zu legen, sondern die Anlagen breit zu streuen. Gleichwohl werden wohl viele Unternehmen und Privatpersonen für die derzeitigen wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen zur Kasse gebeten werden, da sollte man sich keiner Illusion hingeben.

MM: Prof. Homburg, wir danken für das Interview.

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