MM: Sehr
geehrter Herr Prof. Homburg, der Normalbürger, der keine
Wirtschaftwissenschaft studiert hat, hat in den letzten Jahren den
Eindruck erhalten, als wenn ein wesentlicher Teil der
Wirtschaftswissenschaftler von der aktuellen Systemkrise im Finanzsektor
"überrascht" worden ist. Trügt der Eindruck?
Prof. Dr. Homburg: Hier muss man
unterscheiden: Die Probleme der Banken hat kaum ein Außenstehender
erahnt, schließlich darf auch niemand den Banken in die Bücher schauen.
Anders verhält es sich mit der Staatsverschuldung, vor der die meisten
Volkswirte seit Jahr und Tag gewarnt haben. Dieser Teil der
Turbulenzen kam keineswegs unerwartet.
MM: Während jeder weniger gebildete
Haushalt weiß, dass die Zunahme an Schulden früher oder später zur
Insolvenz führen würde, wussten es ganz offensichtlich die gebildeten
Verantwortungsträger in der Politik in ganz Europa nicht und die Stimmen
aus der Wissenschaft haben sie offensichtlich auch nicht hinreichend
erreicht. Wie ist das zu erklären?
Prof. Dr. Homburg: Es gibt zwei
Erklärungen: Erstens war es früher schwierig, Studenten und Bürgern die
Möglichkeit von Staatsbankrotten nahezubringen. Diese Möglichkeit
hielten viele für weit hergeholt, weil es in der Nachkriegszeit in
Westeuropa keinen Staatsbankrott gegeben hat. Es existieren zwar
hunderte Beispiele für Staatsbankrotte, aber diese ereigneten sich zu
anderen Zeiten oder in anderen Regionen. Zweitens gibt es in der
Wissenschaft stets einige Außenseiter, denen zufolge Staatsschulden gut
sind und Staaten angeblich nicht pleite gehen können, weil sie über das
Besteuerungsrecht verfügen. Wer solche Minderheitspositionen vertrat,
konnte in den letzten Jahrzehnten damit rechnen, auf Gewerkschaftsticket
in den Club der "Fünf Wirtschaftsweisen" berufen zu werden. Der Politik waren solche Botschaften natürlich
ganz recht.
MM: Gibt es nicht evtl. ein
grundsätzliches Problem, dass auch außerhalb der Verschuldung zu suchen
ist, wenn selbst eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt, die
Deutschland, inzwischen ein Drittel des Staatshaushaltes allein für die
Zinsen aufbringen muss?
Prof. Dr. Homburg: Das grundlegende
Problem der Staatsverschuldung besteht einfach darin, dass es vielen
Bürgern ganz lieb ist, wenn Lasten auf künftige Generationen verschoben
werden. Man selbst will staatliche Leistungen, Steuern bezahlen sollen
andere.
MM: Wie können Sie einem einfachen
Bürger, der immerhin seine Stimme für die eine oder andere Partei
abgeben und damit die Wirtschaftspolitik mitbestimmen muss, halbwegs
verständlich erklären, warum staatliche Zentralbanken an private Banken
zu extrem niedrigen Zinsen Gelder
verleihen, damit diese zu einem etwas höheren Zinssatz die Gelder
wiederum an den Staat verleihen?
Prof. Dr. Homburg: Dass die
Zentralbanken den Banken günstige Kredite geben ist weder neu noch
skandalös, sondern in Europa der traditionelle Weg der Geldschöpfung.
Jede Bank benötigt eine Zinsmarge, um wirtschaftlich arbeiten zu können,
genau so wie der Händler eine Handelsspanne braucht. Es stimmt zwar,
dass Teile der Kredite an Staaten vergeben werden, doch schauen die
Banken bei der Bonität schon genauer hin als eine Zentralbank dies täte.
Gefährlicher ist daher der Kauf von Staatschuldpapieren durch die
Europäische Zentralbank.
MM: Warum dürfen Privatbanken Gelder
verleihen, die sie gar nicht "haben" (Stichwort Eigenkapitalquote)?
Prof. Dr. Homburg: Die Funktion des
Bankensystems besteht darin, Gelder der Sparer einzusammeln und an
Investoren zu verleihen, das ist für sich genommen auch nicht
bedenklich. Kritisch ist vielmehr folgendes: Erstens sind die
Eigenkapitalquoten vieler Banken so gering, dass sie leicht in Insolvenz
gehen können. Zweitens sind manche Banken wie die Deutsche Bank so groß,
dass sie den Steuerzahler im Notfall erpressen können. Drittens liegt
der Schwerpunkt vieler Banken inzwischen nicht mehr bei der
Kreditvergabe, sondern beim wechselseitigen Erwerb sogenannter
strukturierter Finanzprodukte, mit den sich die Branche wechselseitig
hochschaukelt oder an den Abgrund manövriert. Meiner Ansicht nach
sollten Großbanken zerschlagen werden, weil die von ihnen ausgehenden
wirtschaftlichen und politischen Gefahren zu groß sind. Ganz falsch wäre
es, Banken zu verstaatlichen, weil das Risiko dann vollständig beim
Steuerzahler läge. Die meisten deutschen Landesbanken sind hierfür ein
abschreckendes Beispiel.
MM: Das klingt vernünftig, aber wie soll
es realisiert werden? Einmal ganz praktisch gefragt: Wie können Deutsche
Bank und Goldman Sachs zerschlagen werden, wo sie doch bereits heute so
groß sind, dass sie selbst größte Volkswirtschaften erpressen können.
Ist das nicht ein Widerspruch? Wer soll denn die Kraft aufbringen, gegen
jene "Mächtigen" etwas derart Umwälzendes zu unternehmen, wenn selbst
bei "kleineren" Umwälzungen die Politik immer wieder eingeknickt ist?
Prof. Dr. Homburg: Da gebe ich Ihnen
völlig Recht. Die Finanzindustrie hat die Politik heute weitgehend
unterjocht. Und zwar nicht nur machtpolitisch, sondern vor allem
intellektuell, indem sie den Regierenden einredet, es käme zum
Schlimmsten, wenn nicht alle Banken vom Steuerzahler garantiert werden.
Weil die Medien heutzutage vornehmlich solche "Professoren" zu Worte
kommen lassen, die nicht an einer staatlichen Universität arbeiten,
sondern für eine Bank oder Bankhochschule, ist auch die Öffentlichkeit
inzwischen weichgeklopft. Insofern ist es schwierig, das Richtige
umzusetzen.
MM: Kann es Wachstum in einer
Gesellschaft geben, die schrumpft? Oder anders gefragt: Warum sollen
immer weniger Menschen immer mehr Zahnpaste konsumieren?
Prof. Dr. Homburg: Wachstum ist kein
Selbstzweck, sondern ergibt sich aus dem Bestreben vieler einzelner
Menschen, ihre Lage zu verbessern. Wenn alle mit dem zufrieden wären,
was sie haben, gäbe es auch kein Wachstum. Die Erfahrung zeigt
allerdings, dass Menschen dann, wenn sie genug Zahnpasta kaufen können,
um in Ihrem Beispiel zu bleiben, zusätzlich noch andere Dinge haben
wollen. Daher ist das Wachstum entgegen zahlreichen Prognosen der
letzten Jahrhunderte bisher nicht zum Stillstand gekommen. Eine
schrumpfende Bevölkerung mag das Wachstum dämpfen, aber so lange der
Wohlstand pro Kopf zunimmt, wird dies mindestens ausgeglichen.
MM: Ergibt sich das heutige Wachstum
wirklich aus dem Bestreben der Menschen, ihre Lage zu verbessern oder
aus der Notwendigkeit, die Forderungen des Finanzmarktes zu erfüllen?
Ist qualitatives Wachstum bei schrumpfenden Bevölkerung denn
grundsätzlich hinreichend bei einem Geldsystem, dass ohne Wachstum
zusammenbrechen würde und gibt es denn keine Modelle für eine
qualitative Weiterentwicklung ohne "Wachstum" in dem Sinn, wie es
heutzutage verwendet wird?
Prof. Dr. Homburg: Unser
Wirtschaftssystem würde auch ohne Wachstum funktionieren. Schließlich
gibt es Geld und Märkte seit vielen Jahrtausenden, während nennenswertes
Wirtschaftswachstum eine Erscheinung der späten Neuzeit ist. Unser
Wachstum ist auch durchaus qualitativ, denken Sie einmal an den Zustand
der Flüsse oder der Umwelt vor 50 Jahren und heute.
MM: Gibt es nicht zudem gewisse
Branchen, bei denen Wachstum sogar schädlich wäre? Muss z.B. eine
Pharmaindustrie nicht idealerweise dafür sorgen, dass immer weniger
Medikamente benötigt werden und eine Energie- und Wasserwirtschaft
dafür, dass immer weniger Energie und Wasser verbraucht werden?
Prof. Dr. Homburg: Natürlich werden
manche wirtschaftlichen Aktivitäten als schädlich angesehen. Ich nenne
als drastischeres Beispiel nicht die Pharma-, sondern die
Drogenindustrie. In solchen Fällen ist es Aufgabe des Staates, die für
schädlich gehaltenen Branchen durch Steuern oder Verbote zu begrenzen.
MM: Abschließende Frage: Sie sind ja
auch als Steuerberater für Unternehmen tätig. Was raten Sie derzeit
Unternehmen - aber auch Privatpersonen - im Umgang mit Schulden und
Geldanlagen ganz allgemein?
Prof. Dr. Homburg: Zu dieser Frage
könnte man ein Buch schreiben. Weil hier wenig Raum besteht, beschränke
ich mich auf zwei Tipps. Erstens sollte man sich nicht für schlauer
halten als der Markt. Wer etwa meint, er könne Inflationsgefahren durch
fremdfinanzierte Immobilien entgehen, der beschäftige sich mit der
deutschen Wirtschaftsgeschichte, um zu sehen, dass diese Strategie nicht
aufgehen wird. Zweitens kann niemand vorhersehen, was kommen wird. Dies
spricht dafür, nicht alle Eier in einen Korb zu legen, sondern die
Anlagen breit zu streuen. Gleichwohl werden wohl viele Unternehmen und
Privatpersonen für die derzeitigen wirtschaftspolitischen
Fehlentscheidungen zur Kasse gebeten werden, da sollte man sich keiner
Illusion hingeben.
MM: Prof. Homburg, wir danken für das
Interview.
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