MM: Sehr
geehrter Herr Dr. Werner Rügemer. Ihr Leben kann als voller Kampf und
Einsatz gegen den Kapitalismus empfunden werden. Von
Auseinandersetzungen gegen Banken wie Sal. Oppenheim über die Kölner
Müllverbrennungsanlage und den Präsidenten eines Bundesligaclubs bis zum
es Verband kommunaler Unternehmen (VKU), die sie ursprünglich ja
ausgezeichnet hatten, haben Sie schon so manches Gefecht vor Gericht
ausgetragen. Was treibt sie? Dr.
Rügemer: In meiner Jugend habe ich mit
den Armen in den "Entwicklungsländern" mitgefühlt. Während des Studiums
habe ich die genaueren Ursachen verstanden, auch die Ursachen für die
Ungerechtigkeiten in Deutschland und gerade in den am höchsten
"entwickelten" Gesellschaften. Gegenwärtig beschäftigt mich vor allem
das Problem des Arbeits-Unrechts. Zur Gerechtigkeit, die mich antreibt,
kommt die Wahrheit, der ich aus philosophischem Impuls verpflichtet bin.
MM: Sind Sie immer noch für ein
Springer-Tribunal oder war jene Forderung der Eifer der Jugend?
Dr. Rügemer:
Das Springer-Tribunal, das ich 1968 in Berlin mit
vorbereitet habe und das sich gegen die Praktiken der BILD-Zeitung
richtete, wäre heute genauso wichtig. Meine Gegenstände und Formen der
Kritik und des Widerstands haben sich inzwischen geändert, aber noch
2010 habe ich in der Organisation attac vorgeschlagen, ein
Banken-Tribunal durchzuführen. Das Tribunal fand in Berlin statt.
Zahlreiche Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell
haben in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Tribunale organisiert, etwa
gegen den US-Krieg in Vietnam, auch in den letzten Jahren fanden
zahlreiche Tribunale in Afrika und Lateinamerika statt. Das ist keine
überholte Form der Anklage, der Kritik und der Urteilsfindung.
MM: Müsste es dann nicht ein
Merkel-Tribunal von Intellektuellen in Deutschland geben angesichts der
Intensität mit der die Bundeskanzlerin Deutschland an die Seite von
Staaten manövriert hat, die man wegen Besatzung, Kriegsverbrechen (z.B.
Einsatz von Uranmunition im Irak und Überfall auf souveräne Staaten ohne
UN-Mandat) anklagen müsste und die mit dem "Recht des Stärkeren" tagaus
tagein "Präventivschläge" androhen finanziert mit Geldern, die man gar
nicht hat?
Dr. Rügemer:
Bundeskanzlerin Merkel war bereits angeklagte beim
Bankentribunal 2010 wegen Mitverantwortung für die Finanzkrise. Ihre
Taten für weitere Tribunale wären gewiss vorhanden. Anklagen wegen
Mitverantwortung bei Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete und an
diktatorische Regimes (U-boote an Israel, Panzer an Saudi-arabien...)
kämen dazu. Es ist allerdings das Problem, dass es gegenwärtig
zahlreiche Gründe und Personen gibt, die vor ein Tribunal gehören. Das
Instrument kann sich abnutzen. Und ob das Tribunal von intellektuellen
organisiert werden muss, ist nicht zwingend, aber es müssen wichtige
Unterstützer mitmachen und es muss um eine zentrale Frage gehen, die
noch gewichtiger ist als die anderen wichtigen fragen. Es sind meines
Erachtens nur pragmatische Gründe, die mir gegenwärtig ein Tribunal
ungeeignet erscheinen lassen.
MM: Sie haben im Bereich der
Privatisierung öffentlichen Eigentums durch Cross-Border-Leasing und
Public Private Partnership (PPP) belegt, dass entgegen öffentlichen
Behauptungen der Staat den Unternehmen und Banken das Risiko abnimmt und
Gewinne garantiert, was durch die prinzipielle Geheimhaltung der
Verträge, Beschlüsse und Nebenabreden abgesichert werde. Wie ist es in
unserer heutigen Medienlandschaft noch überhaupt möglich, dass derartige
Verträge öffentlicher Stellen zum Schaden des Volkes geheim gehalten
werden können?
Dr. Rügemer: Es ist richtig: Die
Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark
erweitert und differenziert. Aber gerade wegen dieser Bedeutung für
moderne Gesellschaften haben mächtige Finanzgruppen sich die am meisten
verbreiteten Medien gekauft oder haben neue geschaffen. Dieser Einfluss
hat auch auf die öffentlichen Medien übergegriffen - sie sind keine
Korrekturinstanz mehr, jedenfalls nicht in den wichtigen Fragen der
Gerechtigkeit und der Demokratie. Umso mehr setzen sie auf hochgepuschte
und manipulierte Themen. Sie attackieren ausgewählte, tatsächliche oder
angebliche Diktatoren, die der "westlichen" Macht entgegenstehen; aber
sie schützen gleichzeitig andere Diktatoren, die dem Westen dienlich
sind. Genauso decken diese Medien familiären Kleinkram bei Politikern
auf (eigentlich nie bei den Managern und Eigentümern von Banken und
Konzernen) wie zuletzt bei dem deutschen Bundespräsidenten Wulff, aber
die jahrzehntelang gültigen Geheimverträge wie zu Cross Border Leasing,
Public Private Partnership, Privatisierungen und Bankenrettungen decken
sie nie auf. Die großen Medien stehen heute einseitig auf der Seite der
Kapital-Macht.
MM: Kann man das im Internetzeitalter so
einfach darstellen? Wo bleibt die Verantwortung des Bürgers in Ihren
Betrachtungen, denn schließlich ist ja niemand verpflichtet, die
Bild-Zeitung zu kaufen und im Internet gibt es inzwischen durchaus
ansehnliche Alternativangebote? Oder anders gefragt: Ist das, was sie im
"Großen" beschreiben, nicht ein Spiegelbild unseres Kollektivs?
Dr. Rügemer: "Wir" in der sogenannten
westlichen Wertegemeinschaft sind gegenwärtig kein "Kollektiv", sondern
eine gemischte, vielfältige, zufällige Zwangsversammlung von
Vereinzelten Individuen und vereinzelten Gruppen/Organisationen.
dadurch, dass wir das "Internetzeitalter" haben - ich halte das Internet
übrigens nicht für ausreichend, um das wesentliche unseres Zeitalters zu
charakterisieren - hat sich das verhalten der Bürger noch nicht
geändert. Gut, durch das Internet sind einige Kommunikationswege
leichter. Die sollten "wir" nutzen und das tun ja auch schon viele. Aber
Kommunikation ist noch kein gemeinsames demokratisches handeln. Da
müssen sich Menschen erstmal persönlich treffen.
MM: In Ihrem 2006 erschienenen Buch über
die größte Privatbank Europas legen Sie sich ja nicht gerade mit einem
"Kleinen" an. Die Folge waren 22 gerichtlich veranlasste geschwärzte
Passagen in dem Buch. Wollen sie noch immer behaupten, dass die Bank
"kriegswichtiges" Finanzinstitut für das NS-Regime und an Arisierungen
beteiligt war? Ist das nicht antisemitisch?
Dr. Rügemer: Ich habe keineswegs einfach
behauptet, dass die Bank Sal. Oppenheim für das NS-Regime eine
"kriegswichtige" Bank war. Ich habe das mit Dokumenten belegt. Dieses
Faktum – wie die Beteiligung der Bank an der Arisierung jüdischen
Eigentums - wurde von der Bank in den zahlreichen juristischen Verfahren
auch nie infrage gestellt. Das von der Dresdner Bank selbst in Auftrag
gegebene Forschungsprojekt über die Dresdner Bank während des
Nationalsozialismus enthält weitere solche Belege, denn die Bank
Oppenheim hat eng mit der "SS-Bank" Dresdner Bank zusammengearbeitet.
Das hing auch damit zusammen, dass der Mitgesellschafter der Bank
Oppenheim, Robert Pferdmenges, 1930 Regierungsberater bei der
staatlichen Rettung der bankrotten Dresdner Bank war und dann in deren
Aufsichtsrat vertreten war. Der Vorwurf des Antisemitismus gegen mich
ist also absurd. Vielmehr müsste man die ehemals jüdische Bank Oppenheim
als antisemitisch bezeichnen, da sie an Arisierungen beteiligt war. Von
den 22 geschwärzten Stellen haben die Gerichte inzwischen die Hälfte
freigegeben; die restlichen Stellen korrigiere ich gerne, z.B. dass
Alfred von Oppenheim nicht Vorstandschef, sondern Sprecher der
persönlich haftenden Gesellschafter war - die Privatbank Oppenheim hatte
damals keinen Vorstand nach Aktienrecht, diese Funktion wurde vielmehr
von den vier persönlich haftenden Gesellschaftern eingenommen; dieser
rechtliche Unterschied spielt für die das allgemeine Publikum keine
Rolle.
MM: Sie werfen der "westlichen
Wertegemeinschaft" vereinfacht dargestellt vor, dass die Korruption und
Selbstbereicherung von ungewählten Eliten die Demokratie gefährdende
Ausmaße erreicht hat. Warum wählen wir sie dann zumindest nicht ab?
Dr. Rügemer: Warum wählen wir die
westlichen Regierungen nicht ab, die seit Jahrzehnten von Banken und
Konzernen finanziert und korrumpiert werden? Ein Grund sind die oben
genannten Medien, die in diesen Angelegenheiten die Wahrheit
verschweigen. Ein weiterer Grund ist zum Beispiel in Deutschland, dass
zwei wichtige dieser Parteien sich als "christlich" bezeichnen und enge
Beziehungen zu den christlichen Großkirchen pflegen. Die Mehrheit der
deutschen Bevölkerung lehnt die Praktiken der Banken, der Lobbyisten,
die Korruption und Selbstbereicherung ab, aber sie hat Angst vor Neuem.
Ich hoffe, dass sich das ändert.
MM: In Ihrem neusten Buch geht es um
eine Art Wirtschaftskrieg, in dem die Ratingagenturen eine wirksame
Waffe zur Unterdrückung von Europäern zu sein scheinen. Warum haben wir
Europäer keine wirksame Gegenwaffe oder zumindest die gleiche Waffe?
Dr. Rügemer: "Wir Europäer": dieses
"Wir" gibt es nicht, leider. Die Regierungen, Großmedien, die
EU-Kommission, die großen europäischen Banken und Konzerne haben sich
unter den militärischen Schutz der USA gestellt und haben die Finanz-
und Wirtschaftspraktiken der westlichen Führungsmacht übernommen. So
haben auch die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und die
Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten die Vorherrschaft der drei führenden
US-Agenturen anerkannt. Auch die vom EU-Parlament mehrheitlich
beschlossene europäische Ratingagentur soll nach US-Vorbild
funktionieren: Sie soll nicht staatlich sein, sondern in der Hand
privater Sponsoren. Daraus kann keine Alternative entstehen. Bekanntlich
haben sich die meisten EU-Regierungen geweigert, Volksabstimmungen über
den Euro und die EU-Verfassungstexte abzuhalten. Gegenwärtig werden die
riesigen "Rettungs"pakete für Griechenland und so weiter ohne die
notwendige Beteiligung der Parlamente in Deutschland, Frankreich und so
weiter beschlossen. Es gibt kein europäisches "Wir". Die Mehrheiten in
den EU-Staaten müssen sich jetzt selbst und direkt zusammenschließen und
den Weg zu einem demokratischen Europa gehen.
MM: Ist denn Europa - mit dem US-U-Boot
Großbritannien - stark genug, um sich von dem US-Imperialismus zu
befreien? Und ist das überhaupt möglich ohne realistische
Alternativmodelle zum Kapitalismus? Dr. Rügemer:
Die gegenwärtig in der EU herrschenden Kräfte arbeiten bei aller
relativen Konkurrenz sehr eng, wenn auch oft verdeckt, mit den
herrschenden US-Kräften zusammen. So kann natürlich keine Alternative
entstehen. Die bisherige EU und der Euro sind aus Sicht der Mehrheit und
der Demokratie gescheitert. Deshalb unterstütze ich den Vorschlag,
Europa neu zu gründen. Ich habe den Vorschlag gemacht, einen
demokratischen europäischen Konvent einzuberufen.
MM: Wenn man Ihre Worte auf die Spitze
treibt, dann müsste man neben der derzeitigen Politik, darunter die
mächtigsten Parteien, auch die Medienmacht und damit die größten
Verlagshäuser und zudem die Finanzmacht, darunter die weltgrößten Banken
und einige mehr entmachten, um halbwegs demokratische und vor allem
gerechte Verhältnisse zu erzielen. Woher soll der "kleine Mann" bei
dieser Konstellation Hoffnung erhalten, dass er jemals auch nur einen
Hauch von Gerechtigkeit anstreben kann, wenn sie auch noch die Kirchen
in jene Front einreihen? Dr. Rügemer:
Die gegenwärtig herrschenden Kräfte können sich schon lange nicht mehr
auf eine aktive Mehrheit stützen, sie regieren mithilfe von Minderheiten
und widerwilliger Zustimmung. Der "kleine Mann" - zusammen mit der
"kleinen Frau"!! - sie sind nur schwach, wenn sie nicht zu neuen und
auch schon erprobten Formen des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit
finden. MM:
Herr Dr. Rügemer, wir danken für das Interview. |