MM: Sehr
geehrter Herr Bahlo, von Diplom-Mathematikern wird in der Regel
angenommen, dass sie logisch denken können. Ist es logisch sich auf die
Seite eines von der gesamten Westlichen Welt als Diktator bezeichneten
Präsidenten wie Assad zu schlagen?
Bahlo: Da Sie die Mathematik erwähnen: In der Tat wird man als
Mathematiker darin geschult, nichts als richtig anzunehmen, das nicht
bewiesen werden kann, und dieses Prinzip wende ich auch auf Behauptungen
an, die "in der gesamten westlichen Welt" vorherrschend sind. Allerdings
kommt man in der Politik mit den logischen Instrumenten der Mathematik
nicht weit, denn diese gehen von rein geistigen Grundbegriffen und
Axiomen aus, die ihrer Natur nach nicht hinterfragbar sind. Wenn man
sich wissenschaftlich mit gesellschaftlichen (oder überhaupt realen)
Erscheinungen befasst, muss man sich aber gerade vor solchen "Axiomensystemen"
hüten. In Bezug auf Syrien wollen uns interessierte Kreise mittels der
von ihnen kontrollierten Medien glauben machen, dass ein Volk gegen
einen Unterdrücker kämpft. Schon dadurch, dass in den Nachrichten wie
selbstverständlich von der syrischen Regierung als dem "Regime"
gesprochen wird und ihre Gegner als "Opposition" bezeichnet werden, wird
uns tagtäglich eingehämmert, was wir zu glauben haben. Dabei ist es
schon lange kein Geheimnis mehr, dass die der "Opposition" zugerechneten
Kämpfer zu einem großen Teil aus dem Ausland mit Waffen versorgt und
angeleitet, ja sogar aus anderen Ländern nach Syrien eingeschleust
werden, dass sie nackten Terror nicht nur gegen den Staatsapparat,
sondern auch gegen die Zivilbevölkerung ausüben und dass ihre Ziele
nichts mit "Demokratie" zu tun haben, sondern, dass sie "für eine
Handvoll Dollar" (auch wenn die Währung in Katar anders heißt) die
Zerstörung einer modernen Gesellschaft und ihre Spaltung entlang
religiöser und ethnischer Linien betreiben. Geld und Waffen kommen aus
Saudi-Arabien und Katar, die Türkei gewährt den Terroristen einen
Rückzugsraum, die USA und andere NATO-Staaten koordinieren ihre Einsätze
und liefern ihnen zu diesem Zweck Kommunikationstechnologie. Israel hat
bereits mehrfach direkte Luftangriffe gegen Syrien verübt. Die regulären
syrischen Streitkräfte schützen die Bevölkerung vor diesem Terror. D.h.,
die - immer noch weit verbreiteten - Grundannahmen über den Krieg in
Syrien halten den Tatsachen nicht stand. Es handelt sich im Kern nicht
um einen Volksaufstand, sondern um einen Krieg der NATO-Mächte im
Verbund mit den Golfmonarchien und Israel gegen Syrien. Dass ich mich in
dieser Situation - wie Sie es ausdrücken - “auf die Seite Assads
schlage”, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Ich bin mit dem
syrischen Volk, wie mit allen angegriffenen Völkern, solidarisch in
seiner Abwehr dieses Angriffs. Aber diese kann ihm nur gelingen, wenn es
sich fest hinter seiner Führung zusammenschließt. Vorausgesetzt, dass
die Führung das Volk nicht verrät. Assad hätte jede Gelegenheit gehabt,
sich mit seiner Familie aus dem Staub zu machen und sich von den Feinden
ein “goldenes” Exil finanzieren zu lassen, wenn er ihnen im Gegenzug
Syrien überließe. Dass er das nicht getan hat, sondern - mit allen
möglichen Konsequenzen - auf seinem Posten an der Spitze des Widerstands
verharrt, sehen viele Syrer und auch ich als heldenhaftes Verhalten an,
das ihn erst recht zu einer Integrations- und Symbolfigur gemacht hat.
Assad steht nicht nur für die Verteidigung der Souveränität Syriens,
sondern auch für die Verteidigung des Säkularismus und der Einheit und
Einigkeit des syrischen Volkes. Das ist im Moment die Rolle, die ihm
durch die Ereignisse und, weil er den Verrat abgelehnt hat, zugewiesen
wurde. Sie anzuerkennen bedeutet nicht, ihn zu vergöttern oder ihm für
alle Zeiten blind ergeben zu sein, wie manche Leute gerne argwöhnen.
MM: Worin besteht die Aufgabe und
Zielsetzung des Frankfurter Solidaritätskomitees für Syrien?
Bahlo: Wir sind ein sehr breiter
Zusammenschluss unterschiedlichster Menschen und Organisationen, die auf
politischem, religiösem oder kulturellem Gebiet aktiv sind. Was uns
eint, ist die Einsicht, dass gegen Syrien ein imperialistischer Krieg
geführt wird, wie ich eben umrissen habe, und natürlich die Ablehnung
dieses Krieges sowie die Verurteilung der allgegenwärtigen
Medienmanipulationen. Wir wollen durch unsere Aktivitäten teils unsere
Auffassung in die Öffentlichkeit tragen, andererseits wollen wir
Menschen, die bereits im Stillen zu der gleichen Überzeugung gelangt
sind wie wir, ermutigen, sie offen zu vertreten, da sie nicht allein
sind. Wir veranstalten regelmäßig Kundgebungen und Diskussions- oder
Informationsabende in Frankfurt und rufen gerade zu unserer dritten
Demonstration auf. Am 31. August gehen wir mit Gleichgesinnten aus ganz
Deutschland anlässlich des traditionellen Antikriegstags (1. September)
in Frankfurt auf die Straße unter der Losung “NATO, Golfmonarchien,
Israel: Hände weg von Syrien!” Unsere Antikriegstagsdemonstration im
letzten Jahr war unsere erste Aktion, die gerade einmal vier Wochen nach
unserer Gründung stattfand und mit rund 3.000 Teilnehmern ein
bedeutender Erfolg wurde. Auch in diesem Jahr rechnen wir mit einer
beeindruckenden Demonstration, denn erstens hat die von der
Kriegspropaganda gelieferte Interpretation der Geschehnisse in Syrien im
Laufe des zurückliegenden Jahres stark an Glaubwürdigkeit verloren, und
selbst Medienorgane, die sie vorher vehement vertreten hatten, mussten
sich korrigieren; zweitens wird die Drohung einer direkten militärischen
Invasion durch eine US-geführte Koalition immer greifbarer. Gerade jetzt
dient der angebliche Giftgasangriff in Ghouta als Vorwand, um die
Angriffsvorbereitungen zu verstärken. Und das, obwohl sogar öffentlich
starke Zweifel daran geäußert werden, dass die regulären syrischen
Streitkräfte einen etwaigen Giftgasangriff verübt haben sollten. Diese
mit Händen greifbare Verlogenheit wird viele weitere Menschen
wachrütteln. Man ist schon längst kein einsamer
“Verschwörungstheoretiker” mehr, wenn man vermutet, dass hier eine
grausame Provokation im Auftrag der Kriegstreiber verübt wurde, um ihnen
einen Vorwand für die weitere Eskalation des Krieges bis hin zur
direkten Invasion zu liefern.
Was unsere Ziele betrifft: Natürlich könnten
selbst 10.000 Demonstranten in Frankfurt den Imperialisten nicht das
Handwerk legen. Aber jeder muss in seinem Wirkungskreis das ihm mögliche
tun, und ich bin sicher, dass unsere vergangen Aktivitäten keinen
unerheblichen Einfluss auf die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung
des Krieges hatten. In diesem Sinne setzen wir unsere Arbeit
zuversichtlich fort.
MM: Sehen Sie Parallelen zu früheren
Kriegsfällen; schließlich haben Sie sich auch bei der Aufarbeitung des
Jugoslawienkrieges ungewöhnlich positioniert?
Bahlo: Die Kriege, die seit dem Ende
des Kalten Krieges geführt wurden und werden, haben viele
Gemeinsamkeiten. Sie alle dienten der Unterwerfung souveräner Länder
unter das Diktat der imperialistischen Länder unter Führung der USA,
wurden aber von gleichgeschalteten Medien als “Befreieungsmissionen”
ausgegeben, nachdem die politische Führung der angegriffenen Länder
vorher gründlich und unter Verbreitung von allerhand Lügen als Geißel
ihrer Bevölkerung dämonisiert wurde. Besonders frappierend sind die
Parallelen zwischen den Szenarien, die in den Amtszeiten der
“demokratischen” US-Präsidenten Clinton und Obama geschaffen wurden -
in Jugoslawien, Libyen und Syrien. In allen drei Fällen wurden innere
ethnische oder religiöse Konflikte durch Unterstützung terroristischer
Elemente und durch diplomatische Coups sowie das Ausspielen sämtlicher
Register der psychologischen Kriegsführung von außen angeheizt, um den
Boden dafür zu bereiten, auf einer Seite in den Krieg einzugreifen -
vorgeblich zu deren “Schutz”, aber natürlich nicht, um ihr tatsächlich
an die Macht zu verhelfen, sondern um instabile, zersplitterte, allein
nicht lebensfähige Staaten zu kreieren. Erfunden wurde dieses Vorgehen
allerdings schon früher. Ich erwähne in diesem Zusammenhang besonders
Hitlers Strategie zur Vorbereitung der Annexion des Sudetenlandes, die
darin bestand, von Berlin aus deutschen Terror in der Tschechoslowakei
zu unterstützen, um zu erreichen, dass die damalige “Internationale
Gemeinschaft” die deutsche Minderheit vor den konsequenten
Gegenmaßnahmen der Prager Regierung “schützen” würde.
MM: ... und Jugoslawien ...?
Bahlo: Es würde hier wohl den Rahmen sprengen,
detailliert auf die Entwicklung der Kriege in Jugoslawien einzugehen.
Zentral ist aber die Feststellung, dass es sich dabei um einen einzigen
Krieg ausländischer Mächte gegen Jugoslawien handelte. Anfangs spielte
die deutsche Kohl-Genscher-Regierung eine treibende Rolle, vor allem
durch die einseitige völkerrechtswidrige diplomatische Anerkennung der
kroatischen und slowenischen Separatstaaten. Nach der Wahl Clintons zum
US-Präsidenten übernahmen die USA das Ruder in der gewaltsamen
Aufspaltung des jugoslawischen Staates. Ihr Hauptfeind war dabei stets
die serbische Volksgruppe, denn diese lebte nicht nur in Serbien,
sondern auch in Kroatien und Bosnien-Herzegowina in großen
zusammenhängenden Gebieten, so dass sie naturgemäß das stärkste Interesse
an der Erhaltung Jugoslawiens hatte. Die Aggressoren ergriffen also
vorgeblich Partei für die kroatische und bosnisch-muslimische Seite und
stellten sie als Opfer eines angeblichen “großserbischen” Wahns dar. Zu
diesem Zeitpunkt wurden zum ersten Mal islamistische Terroristen aus den
Golfstaaten auf der Seite der NATO eingesetzt - wie später in Libyen
und Syrien. Letztlich waren alle jugoslawischen Völker gleichermaßen
Opfer des Imperialismus, der sie in einem zerstörerischen Krieg gegeneinander hetzte. Was haben sie gewonnen? Statt einem großen,
international gewichtigen Staat gibt es nun viele kleine, ausgeblutete,
wirtschaftlich und politisch machtlose Splitterstaaten. Ihre Leser
dürften sich insbesondere für das Schicksal der bosnischen Muslime
interessieren. Diese haben heute ihren eigenen Staat, aber dessen
Verfassung wurde im tausende Kilometer entfernten Dayton beschlossen,
sie enthält alle möglichen Regelungen für das direkte Eingreifen
internationaler Organisationen in die bosnische Politik und Verwaltung.
Darüber hinaus wurde das Amt des internationalen Hohen Repräsentanten für
Bosnien-Herzegowina eingeführt, der die Macht hat, jedes Gesetz zu
annullieren und jeden Amtsträger abzusetzen. Das Land ist ein
Protektorat. Noch schlimmer ist die Situation im Kosovo, das nach dem
Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 faktisch von Serbien
abgetrennt wurde. Dort herrscht unter dem Schutz der USA, die dort eine
riesige Militärbasis errichtet haben, die kosovo-albanische Mafia. Eine
vielleicht noch größere Katastrophe droht den Menschen in Syrien, wenn
ihr Staat fällt, der seine Stärke nicht nur aus der Koexistenz, sondern
aus der organischen Verwobenheit verschiedener ethnischer und religiöser
Gruppen bezieht.
MM: Sowohl die bosnische Gesellschaft,
als auch die heutige syrische Gesellschaft sind religiös geprägt (Gegner
wie Befürworter). In wie weit kann ein Vertreter des Freidenkerverbandes eine
religiöse Gesellschaft überhaupt verstehen und beurteilen?
Bahlo: Ich halte es für ein Vorurteil
religiöser Menschen, dass sie
davon ausgehen, wer sich vom Glauben abgewandt hat, müsse völlig anders
ticken, quasi aus einer anderen Substanz gemacht sein. Das Bestreben,
dem Leben einen Sinn zu geben, den eigenen Platz in der Welt zu finden,
einen Maßstab für richtiges und falsches Handeln zu haben, sich stets
auf das Wesentliche zu besinnen, einem festen Lebensrhythmus zu folgen, das ist allen kultivierten Menschen gemeinsam. Wir Freidenker
schöpfen seine Erfüllung nicht aus dem Glauben, sondern aus der
rationalen Erkenntnis der Welt und der menschlichen Gesellschaft. Ich
persönlich habe große Sympathie und Achtung für alle Menschen, die
Religion im genannten Sinne praktizieren, sicher mehr als für die
ignoranten Banausen, die einem trügerischen Individualismus frönen und
jede Besinnung auf höhere Werte verspotten. Um auf Ihre Frage
zurückzukommen: Ich maße mir in der Tat nicht an, die bosnische oder die
syrische Gesellschaft vollständig verstehen und beurteilen zu können.
Religion ist dafür aber viel weniger ausschlaggebend als die Tatsache,
dass ich Deutscher bin.
MM: Zweifelsohne steht der
Syrienkonflikt auch im Zusammenhang mit der Besetzung Palästinas. Können
derartige Konflikte überhaupt separat betrachtet werden?
Bahlo: Der Krieg gegen Syrien fügt sich
in die imperialistische Unterwerfung der arabischen Länder ein, und es
ist kein Wunder, dass
Israel klar an der Seite der Aggressoren gegen seinen alten Feind Syrien
kämpft. Wundern könnte man sich darüber nur, wenn man die jahrzehntelang
von den Zionisten verkündete Propaganda, Israel verteidige sich gegen
islamistischen Terror, für bare Münze genommen hätte. Denn in Syrien
steht Israel an der Seite der schlimmsten salafistischen Terrorbanden.
Israel stellt fast seit seiner Gründung einen Brückenkopf des
US-Imperialismus in der Levante dar und erfüllt jetzt seine strategische
Rolle. Dabei spielen die eigenen zionistischen Interessen eine große
Rolle, sind aber meiner Meinung nach nicht ursächlich für die Ereignisse
in Syrien. Hier stehen die globalen imperialistischen Interessen im
Vordergrund: Syrien unterhält enge Beziehungen mit Russland und
beherbergt den einzigen russischen Marinestützpunkt im Mittelmeerraum,
es ist der engste Verbündete des Iran, es ist ein wichtiger Partner
Nordkoreas, es ist ein Knotenpunkt für den Güterverkehr zwischen Europa,
Asien und Afrika. Separat betrachten sollte man keinen Konflikt,
allerdings muss man in der Lage sein, auf einzelne Konflikte separat zu
reagieren, wie wir es zum Beispiel mit unserem Komitee tun, das sich
bewusst nur auf Syrien bezieht. So lassen sich verschiedene Kräfte
bündeln, die selbst in nahe verwandten Fragen auseinanderstreben.
Angesichts der Bedeutung Syriens bei der imperialistischen
Weltkriegseskalation ist es auch notwendig, sich derart auf die
Unterstützung des syrischen Widerstands zu fokussieren.
MM: Es ist geschichtlich belegt, dass
der Zusammenbruch eines internationalen Finanzsystems mit allerlei
Kriegen verbunden ist. In wie weit wird ein solcher globaler
Zusammenhang bei der Beurteilung der Syrienkrise berücksichtigt?
Bahlo: Ich betrachte den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg
stets als Ausgangspunkt für die Beurteilung militärischer Konflikte. Die
kapitalistischen Konzerne brauchen eine gesicherte Rohstoffzufuhr und
Absatzmärkte. Wenn das eine oder das andere nicht mehr langfristig
gesichert erscheint, laufen ihnen die Aktionäre davon. Wenn die
Aktionäre den Konzernen eines Landes davonlaufen, stürzt das Land in die
Krise. Zur Sicherung der nationalen Wirtschaftskraft werden politische
Maßnahmen zur Sicherung der Rohstoffzufuhr und der Erschließung neuer
Absatzmärkte ergriffen. Wenn die politischen Maßnahmen nicht ausreichen,
stehen gewaltsame Maßnahmen auf dem Plan. Da gibt es für die Regierungen
der wichtigsten kapitalistischen Länder kaum einen Spielraum. Natürlich
kann man nicht immer sagen: Land X wird überfallen, um Rohstoff Y zu
kontrollieren, im Rahmen der imperialistischen Gesamtstrategie spielen
vielfältige Erwägungen eine Rolle. Verschärft wird das durch eine
globale kapitalistische Krise, die als Krise des Finanzsystems
erscheint, aber ursächlich eine Krise des Produktions- und
Verteilungsprozesses materieller Güter ist, d.h. die produzierten Waren
werden nicht verkauft, die Aktien sinken, die Wetten auf die Aktien und
die Wetten auf die Wetten, alles zerplatzt, Banken und
Fondgesellschaften gehen pleite. Jetzt wird es für die Menschheit
besonders gefährlich, denn in dieser Situation ist Krieg der einzige
Ausweg und das einzige noch lohnende Geschäft. Dass wir uns gegenwärtig
in so einer Krisenperiode befinden, muss tatsächlich bei der Beurteilung
des Krieges gegen Syrien berücksichtig werden: Das Handeln der
Imperialisten wird nicht mehr nur durch nüchterne Abwägung ihrer
Möglichkeiten und der Möglichkeiten ihrer Gegner und eine Kalkulation zu
erwartender und in Kauf zu nehmender Verluste sowie vorausschauende
Analysen bestimmt, sondern durch den ökonomischen Druck sind auch
unüberlegte Schritte denkbar. Während jeder vernünftige Mensch den USA
von einer direkten Invasion Syriens abraten würde, angesichts der
Erfahrungen in Irak und Afghanistan, angesichts der Erfolge des
syrischen Streitkräfte und angesichts der Gefahr eines Krieges mit
Russland, so kann man nicht sicher sein, dass die politische und
militärische Führung diesen Argumenten den Vorrang geben wird, wenn das
Kapital nach der Frischzellenkur des Krieges ruft. Derzeit sieht es in
der Tat so aus, als ob ein solcher direkter Angriff kurz bevor steht.
MM: Was kann ein Deutscher tun, um das
zu verhindern? Bahlo: Bahlo: Wenn
Sie mit Deutschen normale Bürger meinen, so lautet die Antwort: Nichts.
Die deutsche Regierung ist mit im Boot der Aggressoren, selbst wenn sie
sich auch zurückhaltend gibt, was teils mit ihren eigenen kolonialen
Interessen in der Region, teils mit Rücksichtnahme auf Russland zu tun
hat. Die Stimmen der Kriegsgegner sind nicht einmal laut genug, um
wenigstens in Wahlkampfzeiten auf die Bundesregierung einwirken zu
können. Wir können unmittelbar nichts tun, um einen direkten Angriff der
Aggressoren gegen Syrien zu verhindern, so wie wir bisher nichts tun
konnten, um ihre indirekten Angriffe zu verhindern oder zu beenden. Und
doch macht es einen Unterschied, ob sie ihre Verbrechen ohne Protest
begehen und ihre Lügen ohne Widerspruch verbreiten können oder nicht.
Wenn ihre Macht absolut wäre, hätten sie es dann nötig, ihre Verbrechen
mit so aufwendig gestrickten Lügen zu verbrämen? Wenn sie tatsächlich
alles tun könnten, was sie wollen, wozu existiert dann die ganze
Propagandaindustrie? Dass sie nicht einfach sagen: Und jetzt reißen wir
uns Syrien unter den Nagel, sondern sich so viel Mühe geben, ihre Taten
als moralisch gerecht erscheinen zu lassen, beweist klar, dass sie dem
öffentlichen Bewusstsein große Bedeutung beimessen. Und indem wir auf
diesem Feld wirken, üben wir Einfluss auf die Ereignisse aus. Der
NATO-Krieg gegen Libyen 2011 folgte demselben Muster, das wir in Syrien
sehen: Bewaffnete Banden wurden von außen unterstützt, um einen
vermeintlichen „Volksaufstand“ zu inszenieren, als die regulären
Streitkräfte kurz vor dem Sieg über die Terroristen standen, griff die
NATO fünf Monate lang direkt aus der Luft an. Es gab damals überhaupt
keinen nennenswerten Protest in den verantwortlichen Ländern, und wenn,
dann war er bis auf wenige Ausnahmen (etwa seitens unseres
Freidenkerverbandes) zaghaft und darum bemüht, die Darstellung der
NATO-Propaganda nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Vergleich
dazu hat der Protest gegen den Krieg gegen Syrien hier bei uns schon
eine neue Qualität. Er wird natürlich immer noch von sehr wenigen
scharfsichtigen und mutigen Menschen getragen, aber er bildet die
Voraussetzung dafür, dass der weiteren Eskalation des Weltkrieges noch
größerer Protest entgegengebracht wird, und, je näher der Krieg an
unsere Haustür kommt, desto mehr Menschen, die sich bisher an solchen
heiklen Themen nicht die Finger verbrennen wollen, werden die
Wichtigkeit des Protests erkennen. Aber eine solche breite
Protestbewegung kann nicht aus dem Nichts entstehen, ihre Entwicklung
durchläuft verschiedene Stadien, und wir haben die Aufgabe, sie in ihrem
derzeitigen Stadium voranzutreiben. MM: Wofür und/oder
wogegen richtet sich die bevorstehende Demonstration am kommenden
Samstag (31.8.2013) in Frankfurt? Bahlo:
Letztes Jahr haben wir am Antikriegstag gegen die Einschleusung von
Söldnerbanden nach Syrien zum Zweck der Zerrüttung von Staat und
Gesellschaft demonstriert, was wir als Krieg gegen Syrien, wenn auch mit
indirekten Mitteln anprangerten. Wir drückten unsere Solidarität mit dem
syrischen Volk und seiner Regierung in der Abwehr dieser Aggression aus.
Dieses Jahr war die Situation schon während unserer Vorbereitungen
verschärft, da die USA sich offen zur Unterstützung der Terroristen
bekennen, und Israel mehrere Luftangriffe gegen syrische Ziele verübt
hat. Unsere Losung heißt deshalb „NATO, Golfmonarchien, Israel: Hände
weg von Syrien“. Wir fordern unter anderem wie im letzten Jahr das Ende
des Söldnerkrieges, das Ende der Sanktionen gegen Syrien, und
insbesondere von Deutschland den Rückzug der Patriot-Raketen aus der
Türkei sowie - eine allgemeinere, aber sehr wichtige Forderung -
Deutschlands NATO-Austritt. Durch die aktuelle Entwicklung rückt
natürlich der Protest gegen den offenen Angriffskrieg, der am Samstag
vielleicht schon begonnen haben wird, in den Vordergrund. Er wird auch
Menschen dazu bewegen, mit uns auf die Straße zu gehen, die unsere
Bewertung der zurückliegenden Kriegsphase nicht geteilt haben. MM:
Was geschieht mit dem Solidaritätskomitee für Syrien, wenn der
Syrienkonflikt überstanden ist oder - Gott bewahre - Syrien ein
ähnliches Schicksal erlebt wie Afghanistan oder Libyen? Bahlo:
Ein Szenario, in dem seine Existenz obsolet würde, ist derzeit nicht in
Sicht. Das Komitee wird im Zusammenhang mit unserer Demonstration erst
einmal Zulauf gewinnen und mehr Gewicht erhalten, da es deutschlandweit
die einzige Organisation ist, die dem Krieg gegen Syrien, der nun
drastisch eskaliert wird, frühzeitig die entsprechende Bedeutung
beigemessen und die Tradition der Antikriegstagsdemonstrationen
wiederbelebt hat, die in den letzten Jahren mehr und mehr eingeschlafen
war. Auf diese Schwäche wird jetzt ein grelles Schlaglicht geworfen,
indem der offene Angriffskrieg gegen Syrien sozusagen pünktlich zum
Antikriegstag entfesselt wird, wenn Sie mir diese sarkastische Bemerkung
erlauben. Wie auch immer die Zukunft des Komitees konkret aussieht, es
hat bewiesen, dass es möglich ist, ein erfolgreiches Bündnis aus
Personen und Organisationen zu schmieden, die hinsichtlich ihrer
Herkunft, ihrer politischen und weltanschaulichen Überzeugungen und
Ziele sehr unterschiedlich sind. Aus dieser Erfahrung kann man auch auf
anderen Kampffeldern schöpfen, und das ist das bleibende Verdienst des
Komitees. MM:
Herr Bahlo, vielen Dank für das Interview. |