MM:
Sehr geehrte Frau Landgraf, sehr geehrter Herr Gulde, ihr Film „Wir
weigern uns Feinde zu sein – den Nahostkonflikt verstehen lernen“ hat
für einige Medienresonanz gesorgt. Worum geht es in dem Film?
Landgraf:
Wir sind mit zwölf jungen Deutschen aus München und Münster nach Israel
und das besetzte Westjordanland gefahren. Mit einem für Deutschland
ungewohnten Blick auf den Nahostkonflikt. Der Film zeigt nämlich beide
Sichtweisen auf den Konflikt, die jüdisch-israelische und die
palästinensische. Es findet dort eine Begegnung auf Augenhöhe statt,
weil beide Sichtweisen gleichwertig nebeneinander stehen. Das ist in
Deutschland ungewohnt, das hat es bislang nicht gegeben, und das hat
auch die starke Medienresonanz hervorgerufen.
Gulde:
Das ganze Projekt war von Beginn an darauf ausgerichtet, einen neuen
Verständniszugang zum Nahostkonflikt zu vermitteln. Dabei spielt ein
kleines Geschichtsbuch eine große Rolle - „Die Geschichte des Anderen
verstehen lernen – Israelis und Palästinenser“. Kern des Buches ist, den
Konflikt mit den Augen des jeweils anderen zu sehen. Geschrieben wurde
es von palästinensischen und israelischen Wissenschaftlern vom
Friedensforschungsinstitut PRIME in Jerusalem. Es setzt sich völlig
anders mit der Entwicklung im Nahen Osten auseinander. Auf der linken
Seite wird die israelische Sichtweise erzählt, auf der rechten Seite die
der Palästinenser. Zu denselben Fakten gibt es völlig unterschiedliche
Interpretationen. Das Jahr 1948 etwa erinnern die Israelis als das Jahr
der Staatsgründung und des Unabhängigkeitskriegs, für die Palästinenser
ist es das Jahr der Katastrophe – „Al-Naqbah“ - die Vertreibung aus
ihrem Land.
MM:
Wie gestaltete sich die Reise?
Landgraf:
Mit dem genannten Buch hat sich die Gruppe der 16- bis 22Jährigen auf
ihre Reise in die Konfliktregion vorbereitet. Und es war faszinierend
mitzuerleben, welches „Aha“-Erlebnis das bei ihnen auslöste. Sie
stellten nämlich fest, dass es nicht nur eine geschichtliche Wahrheit
gibt, dass Geschichte immer eine Frage des Blickwinkels ist, aus der
heraus sie erzählt wird. Das hat ihnen die Möglichkeit eröffnet, den
scheinbar unlösbaren Nahostkonflikt aus einer völlig neuen Perspektive
zu betrachten.
Gulde:
Auf der Reise wurden die Jugendlichen dann von einem gemischten Duo
begleitet, das je eine Seite der Konfliktparteien repräsentiert. Von
einer jüdischen Israelin, deren Angehörige in den Konzentrationslagern
der Nationalsozialisten ermordet wurden, und von einem Palästinenser,
der als Widerstandskämpfer gegen die Besatzung mehrere Jahre in
israelischen Gefängnissen saß. Dass die beiden zusammen arbeiten anstatt
sich zu bekämpfen, ist für die Jugendlichen auf dieser Reise zu einem
Schlüsselerlebnis geworden. Am Ende beantworten sie selbst ihre Frage,
warum die beiden Feindschaft beenden konnten, während andere sich noch
immer gegenseitig bekämpfen.
MM:
Was unterscheidet Ihren Film von anderen derartigen Dokumentationen?
Landgraf:
„Wir weigern uns Feinde zu sein – den Nahostkonflikt verstehen lernen“
läuft bei uns als längerfristiges Projekt. Der Film ist Teil eines
umfassenden Medienpaketes für die Bildungsarbeit. So ist z.B. auf der
DVD der Film sowohl als Ganzes als auch in einzelnen Kapiteln abrufbar.
Zusätzlich gibt es noch eine Fülle an didaktischen Begleitmaterialien.
Der „Nahostkonflikt“ ist zwar in den meisten Bundesländern inzwischen
ein Unterrichtsthema, aber es gibt bisher dafür nur wenig ausgearbeitete
Materialien. Unser Medienpaket war deshalb sehr willkommen.
Gulde:
Zu diesem Projekt gibt es eine Vorgeschichte, ohne die es wahrscheinlich
gar nicht zustande gekommen wäre. Unsere ersten Filme zum Nahostkonflikt
haben wir 1980 in den palästinensischen Flüchtlingslagern in Libanon und
Syrien gedreht. Wir dokumentierten, wie die palästinensische Jugend in
den Lagern lebt, wie sie über ihr Flüchtlingsdasein denkt und welche
Rolle dabei die palästinensische Befreiungsorganisation PLO spielt.
Unser Dreh förderte so einiges zu Tage, über das in Deutschland nicht
berichtet wurde.
MM:
Was zum Beispiel?
Gulde:
Zum Beispiel, dass die PLO in den Lagern eine gut funktionierende
Infrastruktur aufgebaut hatte: mit Kindergärten, Jugendzentren,
Gesundheitszentren, eigenen Handwerksbetrieben mit Ausbildungs- und
Arbeitsplätzen.
Überrascht hat uns,
wie klar in der Erziehungs- und Bildungsarbeit der PLO zwischen
Zionismus und Judentum unterschieden wurde. Selbst in der militärischen
Ausbildung der Jugendlichen - Jungen wie Mädchen - die mit der
politischen Erziehung einherging, wurden immer nur die Zionisten mit
ihrer politischen Ideologie für ihr Flüchtlingsschicksal verantwortlich
gemacht, nicht aber die Juden. „Die Juden sind Angehörige einer
Religion,“ haben wir von den Jugendlichen immer wieder gehört, „wir
respektieren sie...mit ihnen können wir zusammen leben. Aber nicht mit
den Zionisten, die uns unser Land weggenommen haben und uns die Rückkehr
in unsere Heimat verweigern“.
Landgraf:
Mit dieser Unterscheidung waren die Palästinenser schon damals weit
fortschrittlicher als wir es heute in der öffentlichen Debatte bei uns
sind. Für ein Verständnis des Nahostkonflikts ist eine solche
Unterscheidung aber unerlässlich - weil sonst, wie wir es hier in den
Medien erleben, nur Stereotypen und Feindbilder produziert werden. Hier
schließt sich für uns der Kreis, denn heute, 30 Jahre später, ist nichts
besser geworden. Im Gegenteil. Das Freund – Feind – Denken im
Nahostkonflikt emotionalisiert und polarisiert die Öffentlichkeit mehr
denn je, wie alle Untersuchungen belegen. Deshalb jetzt auch unser
Projekt „Wir weigern uns Feinde zu sein - den Nahostkonflikt verstehen
lernen“. Es ist in Deutschland das erste Medienpaket für die
Bildungsarbeit, das sich ausführlich mit den unterschiedlichen
geschichtlichen Darstellungsweisen von Israelis und Palästinensern
befasst.
MM:
Obwohl ihr Film vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg für den
Gebrauch im Unterricht empfohlen wird, gibt es an manchen Orten
Widerstand von der Komunalpolitik und sogar der Kirche gegen den Film
mit der Begründung, der Film fördere „Antisemitismus und Antisraelismus“.
Ist es in Deutschland inzwischen verboten, gegen die nunmehr sechs
Jahrzehnte andauernden Verbrechen Israels gegen ein ganzes Volk Stellung
zu beziehen?
Landgraf:
Juristisch gesehen ist es nicht verboten. Aber politisch ist es höchst
unwillkommen, sich kritisch zur Politik Israels zu äußern. Bestimmte
Kreise in Israel und in Deutschland schüren eine Haltung, die jedwede
Kritik als „antisemitisch“ verunglimpft und zu unterdrücken versucht. In
Nürnberg sind der freikirchliche Pastor Kitzinger und der
Schulbürgermeister Dr. Gsell noch einen Schritt weiter gegangen. Ende
2012 haben sie mit einer Diffamierungs- und Boykott-Kampagne den
städtischen Schulen in Nürnberg untersagt, unseren Film im Unterricht zu
verwenden. Ohne inhaltliche Begründung, nur mit pauschal formulierten
Behauptungen, unser Film würde „die Neo-Nazi-Szene und andere
israel-feindliche Gruppierungen mit vorhandenem Gewaltpotential“
unterstützen. Diese Vorgehensweise wird vielfach in Deutschland
angewendet und hat Methode.
Gulde:
Wie so etwas abläuft kann man auch in der großen Politik erleben. Die EU
z.B. will künftig verhindern, dass Geld aus Europa in israelische
Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten fließt. Eine
Sprecherin in Brüssel begründete das damit, dass die israelischen
Siedlungen nach internationalem Recht illegal sind und dass die EU die
israelische Hoheit über die besetzten Gebiete nicht anerkenne, ganz egal
wie ihr rechtlicher Status nach israelischen Gesetzen sei. Und was war
die Reaktion darauf? Uri Ariel, der israelische Minister für Bau- und
Wohnungswesen sagte: „Das ist eine rassistische Entscheidung, die das
jüdische Volk diskriminiert und an den Boykott gegen Juden vor mehr als
66 Jahren erinnert". Glaubt man ihm, dann tritt die Europäische Union
jetzt in die Fußstapfen des "Dritten Reiches". Der stellvertretende
Minister Ofir Akunis sagte dann noch etwas, was zum Kern des Problems im
Nahostkonflikt führt. Er sagte, „Judäa und Samaria ist kein besetztes
Gebiet, sondern die Wiege des jüdischen Volkes“.
MM:
Was bedeutet solch eine Aussage?
Landgraf:
So etwas sagen religiös - ideologische Juden in Israel, eine Minderheit
mit großem Einfluss auf die Politik. Für sie ist die Tora, sind die fünf
Bücher Mose, der zentrale Teil der Hebräischen Bibel. Sie lesen sie als
göttliches Auftragsbuch, von der Landverheißung an Abraham bis zur
befohlenen Art und Weise, wie gegen die einheimischen Völker in
Palästina vorzugehen sei. Welche Konsequenzen das im politischen Alltag
hat, konnten die Jugendlichen auf ihrer Reise ins militärische
Sperrgebiet südlich von Hebron erfahren, also mitten im religiösen
Kernland Judäa und Samaria. In dieser von Israel völkerrechtswidrig
besetzten „Wiege des jüdischen Volkes“ versuchen religiöse Siedler mit
Waffengewalt und Brandanschlägen dort lebende Palästinenser von ihrem
Land zu vertreiben.
MM:
Welche jüdischen Begleiter haben Ihre Reisegruppe informiert?
Landgraf:
Begleitet wurden die Jugendlichen von dem orthodoxen Juden Yehouda
Shaoul von "Breaking the Silence", einer Organisation israelischer
Soldaten gegen die Besatzung. Bei 40 Grad im Schatten erkundeten sie das
Gelände, sahen auf der linken Seite die religiösen Siedler in festen
Häusern mit Strom und Wasser, auf der rechten Seite palästinensische
Familien in Zelten. „Den Palästinensern ist es verboten, die Strom- und
Wasserversorgung zu nutzen“, erklärte Yehouda den etwas fassungslosen
Jugendlichen. Sie fragten ihn, wie er als gläubiger Jude diese Siedler
sieht, die wieder ins Land ihrer Urväter zurückgekehrt sind, weil Gott
ihnen das befohlen habe. Seine Antwort beschäftigte die Jugendlichen
danach noch lange: „Ich habe kein Problem mit Menschen, die zu Gott
beten, aber mit denen, die behaupten, dass Gott zu ihnen spricht und sie
in seinem Auftrag handeln.“
Gulde:
Auch in Deutschland gibt es unter Christen Anhänger dieser religiös
-ideologischen Haltung, vor allem in gewissen evangelikalen Kreisen. Für
sie haben Völker- und Menschenrechte nicht die gleiche Bedeutung, die
wir ihnen zumessen. Denen können die Palästinenser auch nicht mit einem
Grundbuchauszug kommen, der belegt, dass ihnen das Land rechtmäßig
gehört. Das wird von diesen Ideologen nicht anerkannt. Damit fehlt aber
jegliches gemeinsame Verständnis für die Spielregeln, mit denen Völker
ihr Zusammenleben regeln. Eine israelische Politik, die sagt
„Völkerrecht hin oder her - das Land gehört uns, weil uns von Gott
verheißen“ kann sich nur über Gewaltherrschaft behaupten. Und die
beruht, wie wir wissen, auf der Unterdrückung eines anderen Volks. Was
können Sie von einer solchen Politik erwarten? Etwa Mitgefühl? Das käme
einem Ende von Siedlungspolitik und Demütigung der Palästinenser gleich.
Was den
Jugendlichen auf ihrer Reise noch Mut gemacht hat, war die Begegnung mit
Reuven Moskowitz in Israel. Der über 80jährige Holocaust - Überlebende
sagte ihnen: „Die jüdische Lehre, die ich noch als Kind gelernt habe,
sagt - Tu deinem Nachbarn nicht an, was dir selbst nicht gefällt -“. Er
machte klar, dass für ihn die Politik Israels eine Kriegspolitik ist,
die heute ihren Nachbarn das antut, was sie als Juden selbst erlitten
haben. Solche Kritiken im Film haben die Boykott-Kampagne in Nürnberg
ausgelöst.
MM:
Aber die Reaktionen in Deutschland waren doch nicht immer so wie in
Nürnberg?
Landgraf:
Erfreulicherweise nicht. Im Winter 2011 haben wir Film und Medienpaket
herausgebracht und ein Jahr lang mit über 30 Vorführungen in ganz
Deutschland das Projekt bekannt gemacht. Die Resonanz des Publikums war
eindeutig positiv, ebenso die Resonanz in der Presse, die recht
ausführlich über den neuen Ansatz berichtete, den Nahostkonflikt aus der
Sicht beider Seiten zu vermitteln. In einzelnen Städten war es uns sogar
möglich, die Kooperation jüdischer Einrichtungen zu gewinnen. Im Rahmen
der Lehrerfortbildung konnten wir Film und Medienpaket offiziell in
Deutschland und in Luxemburg vorstellen und mehrere
Schulleitungen haben uns als Autoren des Films und Medienpakets zu ihren
Projekttagen eingeladen. Die Empfehlung des Landesmedienzentrums
Baden-Württemberg tat ihr Übriges und hat zusätzlich Schulen und
Medienzentren motiviert, das Medienpaket mit dem Film für den Unterricht
zu kaufen.
Gulde:
In Nürnberg haben wir es dann mit einem evangelikalen Pastor, einem
Bürgermeister mit christlich-sozialer Ausrichtung und dem Vorsitzenden
der „Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg“ zu tun bekommen, der sich
selbst einen „militanten Juden“ nennt. 2009 hat er empört sein
Bundesverdienstkreuz zurückgegeben, weil die deutsch-israelische
Rechtsanwältin Felicia Langer auch diese Auszeichnung erhalten hat. Mit
ihr, einer Jüdin, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt,
wollte er nicht in einem Atemzug genannt werden. Damit wird auch die
ideologische Ausrichtung dieses Dreier-Gespanns in Nürnberg deutlich.
Für sie ist ein Film, in dem sie eine Annäherung zweier Völker auf
Augenhöhe erleben, in dem Feindbilder verschwinden, ein "verheerendes
Machwerk" und "absolut negativ". Dass die Israelis in unserem Film auch
noch für Völker- und Menschenrechte eintreten und sehr praktisch
aufzeigen, dass es auf einer solchen Grundlage möglich ist, Feindschaft
zu beenden, ist für die Nürnberger Verhinderer der „Größte Anzunehmende
Unfall“, eine Art “Super- GAU“.
MM:
Immerhin wurde die Aufführung in Nürnberger Schulen verhindert, wie
können Nürnberger Schüler den Film dennoch sehen?
Landgraf:
Mit seiner Boykott- und Diffamierungskampagne wollte der Bürgermeister
eigentlich verhindern, dass Schüler in Nürnberg unseren Film zu sehen
bekommen und sich einen eigenen und differenzierten Blick auf den
Nahostkonflikt verschaffen. Diese Bevormundung und Zensur einer
Schulbehörde hat uns veranlasst, unseren Film bei „ken fm“ ins Netz zu
stellen. Damit haben wir „Wir weigern uns Feinde zu sein“ der gesamten
Internet-Community zur Verfügung gestellt - kostenlos. Bereits in den
ersten Wochen wurde er auf youtube über dreißigtausend Mal
runtergeladen. Das sind mehr als tausend Schulklassen. Das konnte der
Bürgermeister nicht verhindern. Für viele, das wissen wir, ist der Film
zu einem „Augenöffner“ über den Nahostkonflikt geworden.
Gulde:
Der Boykott in Nürnberg hat noch eine andere Seite. Wir haben auch sehr
viel Unterstützung erfahren. Nürnberger Bürger haben sich für den Film
engagiert, besonders das „Nürnberger Evangelische Forum für Frieden“ (NEFF)
und die „Evangelische Medienzentrale Nürnberg“, ebenso kirchliche und
politische Gruppen in ganz Deutschland. Sie alle haben sich
unmissverständlich hinter uns und den Film gestellt wie auch
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Der Soziologe und
Politikwissenschaftler Prof. Alfred Grosser, der ehemalige
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Dr. Manfred
Kock, der Gründer von 'Cap Anamur' und Vorsitzender des Friedenskorps
Grünhelme e.V. Rupert Neudeck, das Vorstandsmitglied der
„Deutsch-Israelischen Gesellschaft Osnabrück“ und der
„Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft Osnabrück“ Prof. Reinhold
Mokrosch u.a.
Landgraf:
Ein Problem hatte ganz unerwartet die Evangelisch-Lutherische
Landeskirche in Bayern. Dazu muss man wissen, dass sie gemeinsam mit der
Robert Bosch Stiftung und dem Auswärtigen Amt das Projekt mit auf die
Beine gestellt hat. Der damalige Landesbischof Dr. Johannes Friedrich
war sogar Schirmherr des ganzen Unternehmens. Die Kirche konnte sich die
Endfassung des Films anschauen und war ausdrücklich damit einverstanden.
Als dann ein Jahr später die „Antisemitismus“-Kampagne in Nürnberg
losgetreten wurde, fand sie den Film plötzlich missverständlich. Aus der
Nürnberger Presse erfuhren wir dann: „Kirche bessert beim Nahostfilm
nach“. Im Ergebnis war es ein Drei-Seiten-Papier, das auf Beschluss des
Landeskirchenrats dem Verleih unseres Films in Nürnberg beigelegt werden
musste. Leider übernimmt es einseitig die israelische Position im
Konflikt und steht damit im Widerspruch zum ganzen Projekt, das die
Sichtweise beider Seiten – Israelis und Palästinenser – erzählt. Vor
allem fehlt in diesem Papier jeder Bezug zum Völkerrecht, insbesondere
zur 4. Genfer Konvention, zu den universellen Menschenrechten und den
von Israel missachteten UN-Resolutionen. Damit haben sich im
kircheninternen Machtkampf die Unterstützer der religiösen -
ideologischen Politik Israels durchgesetzt und nicht die Kräfte, für die
Menschenrechte unteilbar sind.
MM:
Wer in Deutschland das Existenzrecht Israels in seiner heutigen Form als
rassistischer Staat nicht garantiert gilt als Verfassungsfeind, hingegen
wird von niemandem verlangt, dass er Palästina ein Existenzrecht
gewährt. Diese sehr einseitige Haltung der deutschen Politik und Medien
wird mit der deutschen Geschichte begründet. Warum fällt es so schwer
darzulegen, dass das Unheil, das einstmals in Deutschland gegen Juden
geschehen ist, nicht zu Lasten der Palästinenser führen darf?
Gulde:
Die geschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus wird bei uns
immer verquickt mit der Frage nach Schuld. Wer aber trägt wann und wie
lange Schuld an historischen Entwicklungen? Es ist eine Frage, wie man
mit Geschichte umgeht. Kann man einem Volk eine „Kollektivschuld“ geben
und sie dann über Generationen aufrechterhalten? Seitens der Zionisten
in Israel und in Deutschland wird mit dieser Schuld bis heute operiert.
Heißt im Klartext: Wir Deutsche sind schuldig und sollen das auch
bleiben. Mit der Konsequenz, wir haben kein Recht, Israel zu
kritisieren. Ich meine aber, dass wir gerade vor dem Hintergrund unserer
eigenen Geschichte besonders empfindsam auf Verletzungen von
Menschenrechten reagieren sollten. Nicht mit lautlosem Schweigen,
sondern dadurch, dass wir Menschenrechts-verletzungen deutlich benennen,
wo immer sie geschehen. Aber in Deutschland gibt es noch immer die
Meinung, wir hätten zu schweigen, weil wir uns schuldig gemacht haben.
Von dieser Seite hören Sie dann auch, dass Sie ein Antisemit und ein
Neo-Nazi sind, wenn Sie Israels Besatzung und Siedlungspolitik
kritisieren. Kritik an Menschen- und Völkerrechtsverstößen eines Staates
aber sind legitim. Damit wird nicht seine Existenz in Frage. Im
Gegenteil. Mit einer solchen Kritik wird ein Staat daran erinnert, dass
es die internationalen Spielregeln verletzt. Und auch daran, dass
Frieden niemals auf Gewaltherrschaft und Unterdrückung beruht.
Landgraf:
Kein Politiker in Deutschland möchte sich dem Vorwurf des
„Antisemitismus“ aussetzen. Obwohl die Völker- und Menschen-
rechtsverletzungen Israels gegenüber den Palästinensern von den
Vereinten Nationen bereits in vielen Resolutionen verurteilt wurden,
sagt niemand etwas dazu, der in der Politik noch Karriere machen will.
Gar nicht zu reden davon, dass jemand politische Konsequenzen von Israel
fordert. Die Politiker schweigen, versichern Israel uneingeschränkt ihre
Loyalität, ganz im Sinn der von Frau Merkel aufgestellten Doktrin, „dass
Israels Existenzrecht Teil der deutschen Staatsräson“ sei.
Altbundeskanzler Schmidt hält dies für eine gefühlsmäßig verständliche,
aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte.
Israels Sicherheit, so hatte die Kanzlerin in Jerusalem gesagt, sei für
sie „niemals verhandelbar“. Wie komme ich dazu, einem Land meine
uneingeschränkte Solidarität zu versichern, das ein anderes Volk
besetzt? Dass sein Staatsgebiet mit illegalen Siedlungen
völkerrechtswidrig vergrößert? Es wird also höchste Zeit, in der Politik
den „Kollektivschuld“-Komplex abzulegen und eine offene Diskussion in
Gang zu bringen, die sich nicht von „antisemitischen“ Diffamierungen
einschüchtern lässt.
MM:
München
scheint eine sehr weltoffene Stadt zu sein, in der sogar eine ganze
Palästina-Woche mit öffentlichen Geldern mitfinanziert wird. Hingegen
wurde ihr Film in Nürnberg verhindert. Hängt es von Einzelpersonen ab,
ob in Deutschland eine Zensur stattfindet oder nicht?
Landgraf:
Es ist immer
auch eine Frage lokaler und kommunalpolitischer Machtverhältnisse, ob
zum israelisch-palästinensischen Konflikt eine politische
Gesprächskultur gefördert wird oder nicht. Das „Eine-Welt-Haus“ in
München, das die Palästina-Woche veranstaltet, wird mit öffentlichen
Geldern mitfinanziert. Das ist richtig. Die öffentlichen Zuwendungen für
die andere Seite sind aber um ein Vielfaches höher. Da gibt es kein
Gleichgewicht.
Wer hier das
Sagen hat ist zum Beispiel 2009 sichtbar geworden. Der deutschstämmige
israelische Professor Ilan Pappe wollte in München sein Buch »Die
ethnische Säuberung Palästinas« vorstellen. Darin macht er die
zionistische Ideologie unter Führung von Ben Gurion dafür
verantwortlich, dass Zehntausende von Palästinensern vor und nach der
israelischen Staatsgründung im Jahre 1948 vertrieben wurden. Die
Deutsch-Israelische Gesellschaft in München sprach von einer
„antiisraelischen Propaganda-Veranstaltung“ und die Stadt reagierte:
Fünf Stunden vor der Veranstaltung widerrief sie den Nutzungsvertrag für
den Vortragsraum und der Veranstalter SALAM SHALOM stand auf der
Strasse. Nirgendwo sonst in Europa habe er eine derart repressive
Haltung und eine solche Bereitschaft zur Unterwerfung erlebt, bemerkte
darauf der international anerkannte Historiker Pappe. Und in einem
offenen Brief an den Münchner Oberbürgermeister schrieb er: „Mein Vater
wurde als deutscher Jude in ähnlicher Weise in den frühen 30er Jahren
zum Schweigen gebracht, und es ist traurig, Zeuge der Wiederkehr der
gleichen Zensur im Jahre 2009 zu sein.“
Gulde: Offiziell
gibt es in Deutschland keine Zensur. Artikel 5 des Grundgesetzes sagt
klar „eine Zensur findet nicht statt“. Dass aber ein Bürgermeister den
Einsatz unseres Films in den Städtischen Schulen in Nürnberg zu
verhindern vermag, zeigt, wie einseitig dieses Grundrecht auch im
schulpolitischen Alltag missbraucht werden kann. Entmutigen lassen
sollten wir uns deshalb nicht. Über vierzig Medienzentren haben unseren
Film und das Medienpaket schon im Programm, über einhundert Schulen,
Büchereien, Akademien und Bildungseinrichtungen arbeiten damit. Das ist
doch die eigentliche Nachricht. „Die Überwindung von Feindschaft muss in
den Köpfen beginnen“, sagen die Wissenschaftler vom
Friedensforschungsinstitut PRIME. Und dass das möglich ist, haben die
Jugendlichen über ihre israelisch - palästinensischen Begleiter auf der
Reise erlebt. Weil beide das Völkerrecht anerkennen und sich auf
universelle Menschenrechte verständigt haben. Jugendliche haben ein
unbestechliches Gefühl für Richtig und Falsch, was gerecht und ungerecht
ist. Das gibt Hoffnung. Am Ende unserer Reise sagte der 22-jährige
Johann:
„Ich verstehe die israelische Seite jetzt besser, kann sie aber immer
noch nicht nachvollziehen... Kann man ernsthaft behaupten, ein religiös
historisches Recht auf Besitz steht über dem Recht anderer auf Leben und
Würde?“
MM:
Sehr geehrte Frau Landgraf, sehr geehrter Herr Gulde, wir danken für das
Interview. |