Im Namen des Erhabenen  
Interview mit Landgraf & Gulde
 

Muslim-Markt interviewt
Stefanie Landgraf und Johannes Gulde - Mitbegründer der MedienWerkstatt München
10.8.2013

Stefanie Landgraf, geb. 1949 in Siegmar-Schönau, studierte zwischen 1969 und 1975 Geschichte, Kommunikationswissenschaften, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Hamburg und München (M.A.phil.). Lehrtätigkeiten von 1974 bis 1979 u.a. zum Thema „Kino und Gesellschaft in der DDR“ am Institut für Zeitgeschichte in München sowie wissenschaftliche Arbeiten über den Einsatz von AV-Medien im Bildungsbereich. Stefanie Landgraf ist seit 1980 als Filmautorin und Regisseurin tätig, war Mitbegründerin der MedienWerkstatt München und ist seit 1989 geschäftsführende Gesellschafterin der Terra Media Corporation (TMC). Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Johannes Gulde, geb. 1947 in Lindau. 1969 Kamera-Assistent beim Bayerischen Fernsehen. 1970 Lehrauftrag an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF) und erster Produktionsassistent der Hochschulleitung. Studium an der HFF Abt. Information, Dokumentation und Bildung im Fernsehen von 1970 bis 1974. Aufbaustudium der Medienpädagogik und Kommunikationswissenschaften mit dem Fokus „Wirkungsforschung“ an der LMU München bis 1978. Lehrtätigkeit u.a. am Institut für Zeitgeschichte und beim Internationalen Bund für Sozialarbeit. Johannes Gulde ist seit 1978 Autor, Regisseur und Kameramann, war Mitbegründer der MedienWerkstatt München und ist seit 1989 geschäftsführender Gesellschafter der Terra Media Corporation (TMC). Er ist Vater von drei Kindern.

Landgraf & Gulde entwickeln seit 1980 medienpädagogische Modelle und Curricula, die Umweltbewusstsein, interkulturelles Lernen und eine demokratische Alltagskultur fördern, u.a. in Zusammenarbeit mit dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht / FWU und dem Deutschen Jugendinstitut. („Jugend und aktive Medienarbeit – ein Weg zu interkulturellem Dialog und Integration“)

Ihre Reportagen und Dokumentarfilme, überwiegend aus Konflikt- und Kriegsregionen in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, befassen sich schwerpunktmäßig mit den Themen Menschen- und Völkerrecht, Kinderrechtskonvention und Ökologie. Dafür haben sie verschiedene Auszeichnungen erhalten u.a. den „Preis des OCIC“ und den „Deutschen Journalistenpreis für Entwicklungspolitik“. Beide leben im Großraum München.

MM: Sehr geehrte Frau Landgraf, sehr geehrter Herr Gulde, ihr Film „Wir weigern uns Feinde zu sein – den Nahostkonflikt verstehen lernen“ hat für einige Medienresonanz gesorgt. Worum geht es in dem Film?

Landgraf: Wir sind mit zwölf jungen Deutschen aus München und Münster nach Israel und das besetzte Westjordanland gefahren. Mit einem für Deutschland ungewohnten Blick auf den Nahostkonflikt. Der Film zeigt nämlich beide Sichtweisen auf den Konflikt, die jüdisch-israelische und die palästinensische. Es findet dort eine Begegnung auf Augenhöhe statt, weil beide Sichtweisen gleichwertig nebeneinander stehen. Das ist in Deutschland ungewohnt, das hat es bislang nicht gegeben, und das hat auch die starke Medienresonanz hervorgerufen.

Gulde: Das ganze Projekt war von Beginn an darauf ausgerichtet, einen neuen Verständniszugang zum Nahostkonflikt zu vermitteln. Dabei spielt ein kleines Geschichtsbuch eine große Rolle - „Die Geschichte des Anderen verstehen lernen – Israelis und Palästinenser“. Kern des Buches ist, den Konflikt mit den Augen des jeweils anderen zu sehen. Geschrieben wurde es von palästinensischen und israelischen Wissenschaftlern vom Friedensforschungsinstitut PRIME in Jerusalem. Es setzt sich völlig anders mit der Entwicklung im Nahen Osten auseinander. Auf der linken Seite wird die israelische Sichtweise erzählt, auf der rechten Seite die der Palästinenser. Zu denselben Fakten gibt es völlig unterschiedliche Interpretationen. Das Jahr 1948 etwa erinnern die Israelis als das Jahr der Staatsgründung und des Unabhängigkeitskriegs, für die Palästinenser ist es das Jahr der Katastrophe – „Al-Naqbah“ - die Vertreibung aus ihrem Land.

MM: Wie gestaltete sich die Reise?

Landgraf: Mit dem genannten Buch hat sich die Gruppe der 16- bis 22Jährigen auf ihre Reise in die Konfliktregion vorbereitet. Und es war faszinierend mitzuerleben, welches „Aha“-Erlebnis das bei ihnen auslöste. Sie stellten nämlich fest, dass es nicht nur eine geschichtliche Wahrheit gibt, dass Geschichte immer eine Frage des Blickwinkels ist, aus der heraus sie erzählt wird. Das hat ihnen die Möglichkeit eröffnet, den scheinbar unlösbaren Nahostkonflikt aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten.

Gulde: Auf der Reise wurden die Jugendlichen dann von einem gemischten Duo begleitet, das je eine Seite der Konfliktparteien repräsentiert. Von einer jüdischen Israelin, deren Angehörige in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden, und von einem Palästinenser, der als Widerstandskämpfer gegen die Besatzung mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen saß. Dass die beiden zusammen arbeiten anstatt sich zu bekämpfen, ist für die Jugendlichen auf dieser Reise zu einem Schlüsselerlebnis geworden. Am Ende beantworten sie selbst ihre Frage, warum die beiden Feindschaft beenden konnten, während andere sich noch immer gegenseitig bekämpfen.

MM: Was unterscheidet Ihren Film von anderen derartigen Dokumentationen?

Landgraf: „Wir weigern uns Feinde zu sein – den Nahostkonflikt verstehen lernen“ läuft bei uns als längerfristiges Projekt. Der Film ist Teil eines umfassenden Medienpaketes für die Bildungsarbeit. So ist z.B. auf der DVD der Film sowohl als Ganzes als auch in einzelnen Kapiteln abrufbar. Zusätzlich gibt es noch eine Fülle an didaktischen Begleitmaterialien. Der „Nahostkonflikt“ ist zwar in den meisten Bundesländern inzwischen ein Unterrichtsthema, aber es gibt bisher dafür nur wenig ausgearbeitete Materialien. Unser Medienpaket war deshalb sehr willkommen.

Gulde: Zu diesem Projekt gibt es eine Vorgeschichte, ohne die es wahrscheinlich gar nicht zustande gekommen wäre. Unsere ersten Filme zum Nahostkonflikt haben wir 1980 in den palästinensischen Flüchtlingslagern in Libanon und Syrien gedreht. Wir dokumentierten, wie die palästinensische Jugend in den Lagern lebt, wie sie über ihr Flüchtlingsdasein denkt und welche Rolle dabei die palästinensische Befreiungsorganisation PLO spielt. Unser Dreh förderte so einiges zu Tage, über das in Deutschland nicht berichtet wurde.

MM: Was zum Beispiel?

Gulde: Zum Beispiel, dass die PLO in den Lagern eine gut funktionierende Infrastruktur aufgebaut hatte: mit Kindergärten, Jugendzentren, Gesundheitszentren, eigenen Handwerksbetrieben mit Ausbildungs- und Arbeitsplätzen.

Überrascht hat uns, wie klar in der Erziehungs- und Bildungsarbeit der PLO zwischen Zionismus und Judentum unterschieden wurde. Selbst in der militärischen Ausbildung der Jugendlichen - Jungen wie Mädchen - die mit der politischen Erziehung einherging, wurden immer nur die Zionisten mit ihrer politischen Ideologie für ihr Flüchtlingsschicksal verantwortlich gemacht, nicht aber die Juden. „Die Juden sind Angehörige einer Religion,“ haben wir von den Jugendlichen immer wieder gehört, „wir respektieren sie...mit ihnen können wir zusammen leben. Aber nicht mit den Zionisten, die uns unser Land weggenommen haben und uns die Rückkehr in unsere Heimat verweigern“.

Landgraf: Mit dieser Unterscheidung waren die Palästinenser schon damals weit fortschrittlicher als wir es heute in der öffentlichen Debatte bei uns sind. Für ein Verständnis des Nahostkonflikts ist eine solche Unterscheidung aber unerlässlich - weil sonst, wie wir es hier in den Medien erleben, nur Stereotypen und Feindbilder produziert werden. Hier schließt sich für uns der Kreis, denn heute, 30 Jahre später, ist nichts besser geworden. Im Gegenteil. Das Freund – Feind – Denken im Nahostkonflikt emotionalisiert und polarisiert die Öffentlichkeit mehr denn je, wie alle Untersuchungen belegen. Deshalb jetzt auch unser Projekt „Wir weigern uns Feinde zu sein - den Nahostkonflikt verstehen lernen“. Es ist in Deutschland das erste Medienpaket für die Bildungsarbeit, das sich ausführlich mit den unterschiedlichen geschichtlichen Darstellungsweisen von Israelis und Palästinensern befasst.

MM: Obwohl ihr Film vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg für den Gebrauch im Unterricht empfohlen wird, gibt es an manchen Orten Widerstand von der Komunalpolitik und sogar der Kirche gegen den Film mit der Begründung, der Film fördere „Antisemitismus und Antisraelismus“. Ist es in Deutschland inzwischen verboten, gegen die nunmehr sechs Jahrzehnte andauernden Verbrechen Israels gegen ein ganzes Volk Stellung zu beziehen?

Landgraf: Juristisch gesehen ist es nicht verboten. Aber politisch ist es höchst unwillkommen, sich kritisch zur Politik Israels zu äußern. Bestimmte Kreise in Israel und in Deutschland schüren eine Haltung, die jedwede Kritik als „antisemitisch“ verunglimpft und zu unterdrücken versucht. In Nürnberg sind der freikirchliche Pastor Kitzinger und der Schulbürgermeister Dr. Gsell noch einen Schritt weiter gegangen. Ende 2012 haben sie mit einer Diffamierungs- und Boykott-Kampagne den städtischen Schulen in Nürnberg untersagt, unseren Film im Unterricht zu verwenden. Ohne inhaltliche Begründung, nur mit pauschal formulierten Behauptungen, unser Film würde „die Neo-Nazi-Szene und andere israel-feindliche Gruppierungen mit vorhandenem Gewaltpotential“ unterstützen. Diese Vorgehensweise wird vielfach in Deutschland angewendet und hat Methode.

Gulde: Wie so etwas abläuft kann man auch in der großen Politik erleben. Die EU z.B. will künftig verhindern, dass Geld aus Europa in israelische Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten fließt. Eine Sprecherin in Brüssel begründete das damit, dass die israelischen Siedlungen nach internationalem Recht illegal sind und dass die EU die israelische Hoheit über die besetzten Gebiete nicht anerkenne, ganz egal wie ihr rechtlicher Status nach israelischen Gesetzen sei. Und was war die Reaktion darauf? Uri Ariel, der israelische Minister für Bau- und Wohnungswesen sagte: „Das ist eine rassistische Entscheidung, die das jüdische Volk diskriminiert und an den Boykott gegen Juden vor mehr als 66 Jahren erinnert". Glaubt man ihm, dann tritt die Europäische Union jetzt in die Fußstapfen des "Dritten Reiches". Der stellvertretende Minister Ofir Akunis sagte dann noch etwas, was zum Kern des Problems im Nahostkonflikt führt. Er sagte, „Judäa und Samaria ist kein besetztes Gebiet, sondern die Wiege des jüdischen Volkes“.

MM: Was bedeutet solch eine Aussage?

Landgraf: So etwas sagen religiös - ideologische Juden in Israel, eine Minderheit mit großem Einfluss auf die Politik. Für sie ist die Tora, sind die fünf Bücher Mose, der zentrale Teil der Hebräischen Bibel. Sie lesen sie als göttliches Auftragsbuch, von der Landverheißung an Abraham bis zur befohlenen Art und Weise, wie gegen die einheimischen Völker in Palästina vorzugehen sei. Welche Konsequenzen das im politischen Alltag hat, konnten die Jugendlichen auf ihrer Reise ins militärische Sperrgebiet südlich von Hebron erfahren, also mitten im religiösen Kernland Judäa und Samaria. In dieser von Israel völkerrechtswidrig besetzten „Wiege des jüdischen Volkes“ versuchen religiöse Siedler mit Waffengewalt und Brandanschlägen dort lebende Palästinenser von ihrem Land zu vertreiben.

MM: Welche jüdischen Begleiter haben Ihre Reisegruppe informiert?

Landgraf: Begleitet wurden die Jugendlichen von dem orthodoxen Juden Yehouda Shaoul von "Breaking the Silence", einer Organisation israelischer Soldaten gegen die Besatzung. Bei 40 Grad im Schatten erkundeten sie das Gelände, sahen auf der linken Seite die religiösen Siedler in festen Häusern mit Strom und Wasser, auf der rechten Seite palästinensische Familien in Zelten. „Den Palästinensern ist es verboten, die Strom- und Wasserversorgung zu nutzen“, erklärte Yehouda den etwas fassungslosen Jugendlichen. Sie fragten ihn, wie er als gläubiger Jude diese Siedler sieht, die wieder ins Land ihrer Urväter zurückgekehrt sind, weil Gott ihnen das befohlen habe. Seine Antwort beschäftigte die Jugendlichen danach noch lange: „Ich habe kein Problem mit Menschen, die zu Gott beten, aber mit denen, die behaupten, dass Gott zu ihnen spricht und sie in seinem Auftrag handeln.“

Gulde: Auch in Deutschland gibt es unter Christen Anhänger dieser religiös -ideologischen Haltung, vor allem in gewissen evangelikalen Kreisen. Für sie haben Völker- und Menschenrechte nicht die gleiche Bedeutung, die wir ihnen zumessen. Denen können die Palästinenser auch nicht mit einem Grundbuchauszug kommen, der belegt, dass ihnen das Land rechtmäßig gehört. Das wird von diesen Ideologen nicht anerkannt. Damit fehlt aber jegliches gemeinsame Verständnis für die Spielregeln, mit denen Völker ihr Zusammenleben regeln. Eine israelische Politik, die sagt „Völkerrecht hin oder her - das Land gehört uns, weil uns von Gott verheißen“ kann sich nur über Gewaltherrschaft behaupten. Und die beruht, wie wir wissen, auf der Unterdrückung eines anderen Volks. Was können Sie von einer solchen Politik erwarten? Etwa Mitgefühl? Das käme einem Ende von Siedlungspolitik und Demütigung der Palästinenser gleich.

Was den Jugendlichen auf ihrer Reise noch Mut gemacht hat, war die Begegnung mit Reuven Moskowitz in Israel. Der über 80jährige Holocaust - Überlebende sagte ihnen: „Die jüdische Lehre, die ich noch als Kind gelernt habe, sagt - Tu deinem Nachbarn nicht an, was dir selbst nicht gefällt -“. Er machte klar, dass für ihn die Politik Israels eine Kriegspolitik ist, die heute ihren Nachbarn das antut, was sie als Juden selbst erlitten haben. Solche Kritiken im Film haben die Boykott-Kampagne in Nürnberg ausgelöst.

MM: Aber die Reaktionen in Deutschland waren doch nicht immer so wie in Nürnberg?

Landgraf: Erfreulicherweise nicht. Im Winter 2011 haben wir Film und Medienpaket herausgebracht und ein Jahr lang mit über 30 Vorführungen in ganz Deutschland das Projekt bekannt gemacht. Die Resonanz des Publikums war eindeutig positiv, ebenso die Resonanz in der Presse, die recht ausführlich über den neuen Ansatz berichtete, den Nahostkonflikt aus der Sicht beider Seiten zu vermitteln. In einzelnen Städten war es uns sogar möglich, die Kooperation jüdischer Einrichtungen zu gewinnen. Im Rahmen der Lehrerfortbildung konnten wir Film und Medienpaket offiziell in Deutschland und in Luxemburg vorstellen und mehrere Schulleitungen haben uns als Autoren des Films und Medienpakets zu ihren Projekttagen eingeladen. Die Empfehlung des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg tat ihr Übriges und hat zusätzlich Schulen und Medienzentren motiviert, das Medienpaket mit dem Film für den Unterricht zu kaufen.

Gulde: In Nürnberg haben wir es dann mit einem evangelikalen Pastor, einem Bürgermeister mit christlich-sozialer Ausrichtung und dem Vorsitzenden der „Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg“ zu tun bekommen, der sich selbst einen „militanten Juden“ nennt. 2009 hat er empört sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben, weil die deutsch-israelische Rechtsanwältin Felicia Langer auch diese Auszeichnung erhalten hat. Mit ihr, einer Jüdin, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt, wollte er nicht in einem Atemzug genannt werden. Damit wird auch die ideologische Ausrichtung dieses Dreier-Gespanns in Nürnberg deutlich. Für sie ist ein Film, in dem sie eine Annäherung zweier Völker auf Augenhöhe erleben, in dem Feindbilder verschwinden, ein "verheerendes Machwerk" und "absolut negativ". Dass die Israelis in unserem Film auch noch für Völker- und Menschenrechte eintreten und sehr praktisch aufzeigen, dass es auf einer solchen Grundlage möglich ist, Feindschaft zu beenden, ist für die Nürnberger Verhinderer der „Größte Anzunehmende Unfall“, eine Art “Super- GAU“.

MM: Immerhin wurde die Aufführung in Nürnberger Schulen verhindert, wie können Nürnberger Schüler den Film dennoch sehen?

Landgraf: Mit seiner Boykott- und Diffamierungskampagne wollte der Bürgermeister eigentlich verhindern, dass Schüler in Nürnberg unseren Film zu sehen bekommen und sich einen eigenen und differenzierten Blick auf den Nahostkonflikt verschaffen. Diese Bevormundung und Zensur einer Schulbehörde hat uns veranlasst, unseren Film bei „ken fm“ ins Netz zu stellen. Damit haben wir „Wir weigern uns Feinde zu sein“ der gesamten Internet-Community zur Verfügung gestellt - kostenlos. Bereits in den ersten Wochen wurde er auf youtube über dreißigtausend Mal runtergeladen. Das sind mehr als tausend Schulklassen. Das konnte der Bürgermeister nicht verhindern. Für viele, das wissen wir, ist der Film zu einem „Augenöffner“ über den Nahostkonflikt geworden.

Gulde: Der Boykott in Nürnberg hat noch eine andere Seite. Wir haben auch sehr viel Unterstützung erfahren. Nürnberger Bürger haben sich für den Film engagiert, besonders das „Nürnberger Evangelische Forum für Frieden“ (NEFF) und die „Evangelische Medienzentrale Nürnberg“, ebenso kirchliche und politische Gruppen in ganz Deutschland. Sie alle haben sich unmissverständlich hinter uns und den Film gestellt wie auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Der Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Alfred Grosser, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland  Dr. Manfred Kock, der Gründer von 'Cap Anamur' und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V. Rupert Neudeck, das Vorstandsmitglied der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft Osnabrück“ und der „Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft Osnabrück“ Prof. Reinhold Mokrosch u.a.

Landgraf: Ein Problem hatte ganz unerwartet die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern. Dazu muss man wissen, dass sie gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung und dem Auswärtigen Amt das Projekt mit auf die Beine gestellt hat. Der damalige Landesbischof Dr. Johannes Friedrich war sogar Schirmherr des ganzen Unternehmens. Die Kirche konnte sich die Endfassung des Films anschauen und war ausdrücklich damit einverstanden. Als dann ein Jahr später die „Antisemitismus“-Kampagne in Nürnberg losgetreten wurde, fand sie den Film plötzlich missverständlich. Aus der Nürnberger Presse erfuhren wir dann: „Kirche bessert beim Nahostfilm nach“. Im Ergebnis war es ein Drei-Seiten-Papier, das auf Beschluss des Landeskirchenrats dem Verleih unseres Films in Nürnberg beigelegt werden musste. Leider übernimmt es einseitig die israelische Position im Konflikt und steht damit im Widerspruch zum ganzen Projekt, das die Sichtweise beider Seiten – Israelis und Palästinenser – erzählt. Vor allem fehlt in diesem Papier jeder Bezug zum Völkerrecht, insbesondere zur 4. Genfer Konvention, zu den universellen Menschenrechten und den von Israel missachteten UN-Resolutionen. Damit haben sich im kircheninternen Machtkampf die Unterstützer der religiösen - ideologischen Politik Israels durchgesetzt und nicht die Kräfte, für die Menschenrechte unteilbar sind.

MM: Wer in Deutschland das Existenzrecht Israels in seiner heutigen Form als rassistischer Staat nicht garantiert gilt als Verfassungsfeind, hingegen wird von niemandem verlangt, dass er Palästina ein Existenzrecht gewährt. Diese sehr einseitige Haltung der deutschen Politik und Medien wird mit der deutschen Geschichte begründet. Warum fällt es so schwer darzulegen, dass das Unheil, das einstmals in Deutschland gegen Juden geschehen ist, nicht zu Lasten der Palästinenser führen darf?

Gulde: Die geschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus wird bei uns immer verquickt mit der Frage nach Schuld. Wer aber trägt wann und wie lange Schuld an historischen Entwicklungen? Es ist eine Frage, wie man mit Geschichte umgeht. Kann man einem Volk eine „Kollektivschuld“ geben und sie dann über Generationen aufrechterhalten? Seitens der Zionisten in Israel und in Deutschland wird mit dieser Schuld bis heute operiert. Heißt im Klartext: Wir Deutsche sind schuldig und sollen das auch bleiben. Mit der Konsequenz, wir haben kein Recht, Israel zu kritisieren. Ich meine aber, dass wir gerade vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte besonders empfindsam auf Verletzungen von Menschenrechten reagieren sollten. Nicht mit lautlosem Schweigen, sondern dadurch, dass wir Menschenrechts-verletzungen deutlich benennen, wo immer sie geschehen. Aber in Deutschland gibt es noch immer die Meinung, wir hätten zu schweigen, weil wir uns schuldig gemacht haben. Von dieser Seite hören Sie dann auch, dass Sie ein Antisemit und ein Neo-Nazi sind, wenn Sie Israels Besatzung und Siedlungspolitik kritisieren. Kritik an Menschen- und Völkerrechtsverstößen eines Staates aber sind legitim. Damit wird nicht seine Existenz in Frage. Im Gegenteil. Mit einer solchen Kritik wird ein Staat daran erinnert, dass es die internationalen Spielregeln verletzt. Und auch daran, dass Frieden niemals auf Gewaltherrschaft und Unterdrückung beruht.

Landgraf: Kein Politiker in Deutschland möchte sich dem Vorwurf des „Antisemitismus“ aussetzen. Obwohl die Völker- und Menschen- rechtsverletzungen Israels gegenüber den Palästinensern von den Vereinten Nationen bereits in vielen Resolutionen verurteilt wurden, sagt niemand etwas dazu, der in der Politik noch Karriere machen will. Gar nicht zu reden davon, dass jemand politische Konsequenzen von Israel fordert. Die Politiker schweigen, versichern Israel uneingeschränkt ihre Loyalität, ganz im Sinn der von Frau Merkel aufgestellten Doktrin, „dass Israels Existenzrecht Teil der deutschen Staatsräson“ sei. Altbundeskanzler Schmidt hält dies für eine gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte. Israels Sicherheit, so hatte die Kanzlerin in Jerusalem gesagt, sei für sie „niemals verhandelbar“. Wie komme ich dazu, einem Land meine uneingeschränkte Solidarität zu versichern, das ein anderes Volk besetzt? Dass sein Staatsgebiet mit illegalen Siedlungen völkerrechtswidrig vergrößert? Es wird also höchste Zeit, in der Politik den „Kollektivschuld“-Komplex abzulegen und eine offene Diskussion in Gang zu bringen, die sich nicht von „antisemitischen“ Diffamierungen einschüchtern lässt.

MM: München scheint eine sehr weltoffene Stadt zu sein, in der sogar eine ganze Palästina-Woche mit öffentlichen Geldern mitfinanziert wird. Hingegen wurde ihr Film in Nürnberg verhindert. Hängt es von Einzelpersonen ab, ob in Deutschland eine Zensur stattfindet oder nicht?

Landgraf: Es ist immer auch eine Frage lokaler und kommunalpolitischer Machtverhältnisse, ob zum israelisch-palästinensischen Konflikt eine politische Gesprächskultur gefördert wird oder nicht. Das „Eine-Welt-Haus“ in München, das die Palästina-Woche veranstaltet, wird mit öffentlichen Geldern mitfinanziert. Das ist richtig. Die öffentlichen Zuwendungen für die andere Seite sind aber um ein Vielfaches höher. Da gibt es kein Gleichgewicht.

Wer hier das Sagen hat ist zum Beispiel 2009 sichtbar geworden. Der deutschstämmige israelische Professor Ilan Pappe wollte in München sein Buch »Die ethnische Säuberung Palästinas« vorstellen. Darin macht er die zionistische Ideologie unter Führung von Ben Gurion dafür verantwortlich, dass Zehntausende von Palästinensern vor und nach der israelischen Staatsgründung im Jahre 1948 vertrieben wurden. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft in München sprach von einer „antiisraelischen Propaganda-Veranstaltung“ und die Stadt reagierte: Fünf Stunden vor der Veranstaltung widerrief sie den Nutzungsvertrag für den Vortragsraum und der Veranstalter SALAM SHALOM stand auf der Strasse. Nirgendwo sonst in Europa habe er eine derart repressive Haltung und eine solche Bereitschaft zur Unterwerfung erlebt, bemerkte darauf der international anerkannte Historiker Pappe. Und in einem offenen Brief an den Münchner Oberbürgermeister schrieb er: „Mein Vater wurde als deutscher Jude in ähnlicher Weise in den frühen 30er Jahren zum Schweigen gebracht, und es ist traurig, Zeuge der Wiederkehr der gleichen Zensur im Jahre 2009 zu sein.“

Gulde: Offiziell gibt es in Deutschland keine Zensur. Artikel 5 des Grundgesetzes sagt klar „eine Zensur findet nicht statt“. Dass aber ein Bürgermeister den Einsatz unseres Films in den Städtischen Schulen in Nürnberg zu verhindern vermag, zeigt, wie einseitig dieses Grundrecht auch im schulpolitischen Alltag missbraucht werden kann. Entmutigen lassen sollten wir uns deshalb nicht. Über vierzig Medienzentren haben unseren Film und das Medienpaket schon im Programm, über einhundert Schulen, Büchereien, Akademien und Bildungseinrichtungen arbeiten damit. Das ist doch die eigentliche Nachricht. „Die Überwindung von Feindschaft muss in den Köpfen beginnen“, sagen die Wissenschaftler vom Friedensforschungsinstitut PRIME. Und dass das möglich ist, haben die Jugendlichen über ihre israelisch - palästinensischen Begleiter auf der Reise erlebt. Weil beide das Völkerrecht anerkennen und sich auf universelle Menschenrechte verständigt haben. Jugendliche haben ein unbestechliches Gefühl für Richtig und Falsch, was gerecht und ungerecht ist. Das gibt Hoffnung. Am Ende unserer Reise sagte der 22-jährige Johann: „Ich verstehe die israelische Seite jetzt besser, kann sie aber immer noch nicht nachvollziehen... Kann man ernsthaft behaupten, ein religiös historisches Recht auf Besitz steht über dem Recht anderer auf Leben und Würde?“  

MM: Sehr geehrte Frau Landgraf, sehr geehrter Herr Gulde, wir danken für das Interview.

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