MM: Sehr
geehrter Herr Dr. Oechslen, welche Aufgaben verbindet Ihr Arbeitgeber mit
der Stelle eines Beauftragten für interreligiösen Dialog und
Islamfragen? Dr. Oechslen: Die
Leitung meiner Kirche (der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern)
hat für meine Stelle keine Dienstordnung erarbeitet und mir bis jetzt
großen Freiraum gelassen. Ich sehe für mich drei bis vier Aufgaben: Der
größte Teil meiner Arbeitszeit fließt in theologische Bildungsarbeit in
Gruppen, Gemeinden und Konferenzen von Pfarrerinnen und Pfarrern. Der
zweite Teil ist Kontaktarbeit mit muslimischen Gemeinden und
Organisationen. Ein dritter Teil ist Beratung der Kirchenleitung in
Fragen des Islams und allgemein des interreligiösen Dialogs. Dazu kommt
als viertes noch politische Arbeit. So habe ich z.B. als einer der
Vorsitzenden des Islamforums Bayern auch Kontakt mit staatlichen
Dienststellen.
MM: Welche Islamfragen liegen Ihnen denn
auf dem Herzen?
Dr. Oechslen: Oben auf liegen zurzeit
die gesellschaftlichen Fragen. Wenn der sozialwissenschaftliche Befund
stimmt – ich zweifle nicht daran –, dass die Islamfeindlichkeit in
Deutschland größer ist als in allen unseren Nachbarländern, dann ist das
tief beunruhigend. Wir hatten in Dänemark eine sehr harte Haltung der
Regierung gegenüber der Position der Muslime im Karikaturenstreit, wir
hatten die völkerrechtswidrige Entscheidung der Schweizer Wählerschaft
bei der so genannten „Minarettinitiative“. Und nun wurde 2012
ausgerechnet in Deutschland von vielen Juristen ein Beschneidungsverbot
verlangt, das die Juden noch mehr getroffen hätte als die Muslime. Aus
der Beschneidungsdebatte wurde sehr schnell eine Debatte über den Status
der Religionen in unserer Gesellschaft. Die Argumente stammten dabei zum
Teil aus den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts. Ja, einige
hochgebildete Diskutanten wiederholten in ihrem Kampf gegen die
Knabenbeschneidung sogar Argumente der Nazis - hoffentlich
unabsichtlich. So wurden Islamfragen für mich zu Fragen nach Religion
und Gesellschaft. Der eigentliche interreligiöse Dialog – also das
Gespräch über den Glauben (wobei dies eine christliche Formulierung ist)
– trat angesichts dieser Diskussionslage in den Hintergrund.
MM: Bei dem Thema "Dialog" glauben
inzwischen viele Aktive auf beiden Seiten, dass es sich nur noch um
einen inhaltlosen Modebegriff handelt. Warum gibt es schon lange nicht
mehr den echten interreligiösen Dialog, bei dem beide Seiten in aller
Deutlichkeit ihre Standpunkte offen legen - selbst wenn diese
aufeinanderprallen - um dann geschwisterlich zusammen zu leben?
Dr. Oechslen: Eine erste Antwort habe
ich gerade gegeben: Die gesellschaftliche Debatte ist für echten
religiösen Dialog sehr ungünstig, weil ein Teil der Bevölkerung nicht
mehr weiß, wozu Religion überhaupt gut sein soll. Dazu kommt ein
Sachverhalt, der mir unangenehm ist, aber benannt werden muss: Durch
vielerlei Faktoren ist die Verankerung auch vieler Christen in ihrem
Glauben schwächer geworden. Religiöse Verunsicherung aber mindert die
Dialogbereitschaft und fördert den Fundamentalismus, den zurzeit in
allen großen Religionen zunimmt, auch im Christentum. Fundamentalismus
ist niemals ein Zeichen der religiösen Gewissheit, sondern ein Symptom
tiefer Unsicherheit. Ein dritter Faktor ist, dass inzwischen viele, auch
religiöse, Menschen dem Satz „Religion ist Privatsache“ – ursprünglich
eine kirchenfeindliche Kampfparole – zustimmen. Religion ist inzwischen
so privat, dass man so wenig darüber spricht wie vor hundert Jahren über
die Sexualität.
MM: Wir haben keine Scheu vor einem
echten Dialog und haben daher folgende Frage: Gemäß Christentum ist
Jesus Sohn Gottes, wobei sie zusammen mit Jesus den Vater anbeten. Gemäß
einer klaren Definition von Imam Chomeini gibt es keinen Unterschied
zwischen Jesus und Gott, außer dass Jesus ein Geschöpf ist und Gott der
Schöpfer. Worin liegt also der Unterschied?
Dr. Oechslen: Imam Chomeini beschreibt
meines Erachtens völlig zutreffend die Position des frühen Islams – und
des Judentums – gegenüber dem Christusbekenntnis des Konzils von Nicäa
(325). Dort wird gesagt: Jesus Christus ist „Gott von Gott, Licht vom
Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen …“ Das Wort
„gezeugt“ ist zugegebenermaßen missverständlich. Dem Satz des Korans
„Gott zeugt nicht und wird nicht gezeugt“ – nämlich so wie Menschen
Kinder zeugen – stimmen wir Christen zu. Wenn unser Bekenntnis trotzdem
von der Zeugung Jesu durch Gott spricht, so ist damit gemeint, dass
Jesus kein Geschöpf ist wie alle anderen. Er ist „nicht aus dem Blut
noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren“
(Johannesevangelium 1,11) – und ist doch der Sohn einer jüdischen Frau,
in allem uns Menschen gleich außer der Sünde. Vermutlich könnten das
auch Muslime sagen. Wir Christen aber fahren fort: Wäre Jesus ein
Geschöpf wie alle anderen, dann könnte er uns nicht befreien von der
Misere des Menschseins, dass wir Menschen alle immer wieder das Gute
wollen, aber das Böse vollbringen. Wir Christen glauben nicht, dass es
genügt „an Gott zu glauben, das Böse zu verbieten und das Gute zu
gebieten“ wie es im Koran öfter heißt. Wir glauben, dass der Mensch, um
das Gute zu vollbringen, einer Befreiung durch Gott bedarf. Jesus ist
der von Gott gesandte Befreier und als dieser Befreier ist er ganz Gott
und ganz Mensch.
Ihre Formulierung, dass wir „zusammen mit Jesus
den Vater anbeten“ ist übrigens nicht ganz richtig. Wir Christen „beten
Gott an durch Jesus Christus im Heiligen Geist“. Das heißt: Jesus
Christus hat uns den Zugang zu Gott eröffnet und der Heilige Geist
bewirkt in unseren Herzen, dass wir bereit und fähig zum Gebet werden.
MM: Auch Muslime glauben, dass der
Mensch nur und nur von Gott gereinigt werden kann. So heißt es in einem
besonders markanten Teilvers, der an eine bestimmte Gruppe von
Auserwählten Gottes gerichtet ist: "Allah bezweckt die Befleckung von
euch fern zu halten, Angehörige des Hauses (des Propheten), und er
reinigt euch reinigend." Der Vers bezüglich des Guten Gebieten und
Schlechtem Verwehren bezieht sich auf die gesellschaftliche
Weiterentwicklung. Gnade aber - auch die Gnade der Vergebung, der
Reinigung, der Buße usw. - kommt ausschließlich von Gott. Wenn also
Jesus - wie Sie es beschreiben - in allem so ist wie ein Mensch, außer
in der Sünde, dann ist er sozusagen der vollkommene Mensch bzw. ideale
Mensche. Und genau als jener wird er auch im Islam gesehen. Und dass der
Geist Gottes in jedem Herzen wirkt, ist auch muslimischer Glaube. Ist
nicht der wesentliche Unterschied eher im Kreuzestod zu sehen. Während
er im Islam gar nicht nötig ist, um Sünden zu vergeben - denn Gott kann
die Sünden auch vergeben, ohne jemanden zu opfern; zudem "wem" sollte
Gott etwas opfern - so ist der Opfertod ein wesentlicher Aspekt des
heutigen Christentums. Warum muss sich Gott selbst Opern, um die Sünden
der Menschen zu vergeben?
Dr. Oechslen: Tatsächlich ist der Tod
Jesu ein Punkt, an dem viele Missverständnisse entstehen. So hat etwa im
11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ein Theologe – Anselm von
Canterbury – die Theorie entwickelt, dass durch die Sünde der Menschheit
Gott in seiner Gottheit verletzt worden sei und dass es deshalb eines
unendlich großen Opfers bedürfe, Gott zu versöhnen. Davon steht aber
nichts in der Bibel. Deshalb ist es besser, von den beiden Grundaussagen
des christlichen Glaubens auszugehen. Einmal: Der unschuldige Jesus ist
am Kreuz gestorben. Zweitens: Gott hat sich mit dem Tod Jesu nicht
abgefunden, sondern hat ihn auferweckt, hat ihm damit gegen seine Feinde
recht gegeben und Jesu Worte und Werke für immer bestätigt. Daraus
ergibt sich das Grundparadox des Christentums: Der Verlierer ist in
Wahrheit der Sieger. Das gilt für Jesus du für alle, die um ihres
Glaubens willen den Tod finden. Nach meiner Einsicht, gibt es hier
Berührungspunkte zwischen dem Christentum und dem schiitischen Islam,
wobei natürlich auch gewarnt werden muss vor einer falschen Theologie
des Martyriums: Nicht jeder, der verfolgt wird und sich auf Gott beruft,
hat darum auch schon recht. Die Rede vom Opfertod Jesu aber ist nur eine
von mehreren Möglichkeiten, um auszudrücken, dass Gott den Tod Jesu, der
als solcher eine Katastrophe war, in etwas Gutes verwandelt hat. Das
Neue Testament kann zum Beispiel auch sagen, dass der Sohn Gottes durch
sein Leiden Gehorsam gelernt hat und so zum „Urheber des ewigen Heils
geworden“ ist – da ist von einem Opfer keine Rede und doch ist
ausgedrückt, dass auch der Schrecken des Kreuzes noch zum Guten dienen
muss.
MM: Der Kreuzestod Jesu war Jahrhunderte
lang ein Streitpunkt zwischen Juden und Christen, wobei von christlicher
Seite dem Judentum vorgeworfen wurde, jene Kreuzigung mitverantworten zu
haben. Schafft der Islam hier nicht auch eine Versöhnung zwischen
Judentum und Christentum, indem er behauptet, dass die Juden gar nicht
schuld am Kreuzestod sein können, da Jesus gar nicht gekreuzigt wurde?
Dr. Oechslen: Von dieser Frage bin ich
ein wenig überrascht. Ich habe den entsprechenden Abschnitt der Sure
an-Nisaʾ bis jetzt immer so gelesen, dass die Gegner Jesu, die sprachen
„Wir haben den Messias Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes,
getötet!“ (4:157) mit den Juden – bzw. mit der jüdischen Führungselite
zur Zeit Jesu – identisch sind. Es würde mich freuen, von einer besseren
Auslegung dieser Qur'an-Stelle zu hören. Denn der christliche Vorwurf an
die Juden, sie hätten Jesus gekreuzigt, war durch zwei Jahrtausende eine
Quelle des Leides.
MM: Was halten Sie von gemeinsamen
Gebeten bzw. von dem, was die Kirche multireligiöses Beten nennt?
Dr. Oechslen: Im Grunde bin ich kein
Freund von gemeinsamen Gebetsfeiern, weil ich glaube, dass das Gebet und
der Gottesdienst der Stärkung des jeweils eigenen Glaubens dienen
sollen. Es gibt aber Situationen, wo solche gemeinsamen Feiern nötig
sind. Wenn in einer Stadt wie München Christen und Muslime zusammen
leben und eine neue Brücke über die Isar wird in Gebrauch genommen, dann
kann es entweder keine religiöse Feier zur Einweihung der Brücke geben
oder eine Feier, an der alle beteiligt sind, die in dieser Stadt leben.
Oder wenn Schüler und Schülerinnen nach vielen Jahren des gemeinsamen
Lernens sich voneinander verabschieden und für die Vergangenheit Gott
danken und für die Zukunft Gottes Beistand erbitten wollen, dann soll
man Christen und Muslime bei diesem Anlass nicht trennen. Die
Verantwortlichen – wie etwa die Religionslehrer – haben dann die
Aufgabe, eine Feier vorzubereiten, bei der die Religionen nicht
vermischt werden, aber zugleich jeder gläubige Schüler und jede gläubige
Schülerin zu Gott beten, ihn bitten und ihm danken kann.
Soweit der öffentliche Aspekt. Dass miteinander
befreundete oder verwandte Christen und Muslime sich in ihrem
persönlichen gebet zusammenschließen, haben wir Theologen ohnehin nicht
zu beurteilen.
MM: Wenn man München als Außenstehender
besucht, fallen einem insbesondere im Sommer die vielen Kopftücher in
der Innenstadt, insbesondere in teuren Einkaufsstaraßen auf. Sind
Münchner toleranter gegenüber dem Kopftuch, weil sie von
zahlungskräftigen Touristen getragen werden?
Dr. Oechslen: Ich glaube, die
Begründung, die Sie angeben, trifft zu. So wie man nach dem
Volksentscheid in der Schweiz kein Minarett bauen darf, aber in der
Bahnhofstraße von Zürich die Kunden aus den Golfstaaten willkommen sind,
so ist es auch in der Maximilianstraße in München. Man weiß genau: Diese
Gäste reisen wieder ab, aber ihr Geld lassen sie da. Mich irritiert
allerdings, wenn ich höre, wie ein Teil dieser Gäste die mitgebrachte
Dienerschaft behandelt. Die kommt ja etwa aus Bangladesch oder von den
Philippinen, ist also „interreligiös“. Wenn ich höre, dass der Diener
eines rechen Arabers, der in einer Münchner Klinik behandelt wird, kein
eigenes Bett hat, sondern auf dem Flur vor dem Krankenzimmer schläft,
dann wünsche ich mir Ärzte, die deutlich sagen: Ein solches Verhalten
ist weder mit dem Christentum noch mit dem Islam vereinbar.
MM: Da stimmen wir voll mit Ihnen
überein. Ihre Arbeit der gegenseitigen
Verständigung findet nicht nur Freunde. Im Internet werden sie
regelmäßig von bestimmten Gruppen durch den Kakao gezogen. Wie reagieren
Sie darauf?
Dr. Oechslen: Als ich jung war, hatten
wir noch Pfarrer und Professoren, die die Nazizeit als Erwachsene erlebt
hatten. Diejenigen, die ich am meisten verehrte, waren mehrfach im
Gefängnis gewesen, zum Teil auch im Konzentrationslager. Ich sagte mir
manchmal: „Deine Lehrer waren Wochen und Monate eingesperrt und du
willst Pfarrer sein und bist um deines Glaubens willen noch keinen Tag
im Gefängnis gewesen?“ Wenn ich jetzt im Internet ein wenig angegriffen
werde von Leuten, die der lebendige Beweis dafür sind, dass der
Fundamentalismus aus Unsicherheit kommt, was bedeutet das schon?
MM: Abschließende Frage: Wie soll es
weiter gehen zwischen Christen und Muslimen in diesem Land?
Dr. Oechslen: Ich vermute, dass die
Säkularisierung unseres Landes fortschreiten und auch die Muslime
vermehrt erreichen wird. Das ist einerseits traurig, weil noch mehr
Menschen ihre religiösen Wurzeln verlieren werden. Andererseits sehe ich
dabei auch einen Gewinn: Ich hoffe, dass auch die Säkularisierung
„säkularisiert“ werden wird. Bisher gibt es viele Menschen, die an ihrer
Religion deshalb festhalten, weil sie in diese Religion hinein geboren
wurden und weil sie diese Religion brauchen, um in einer fremden oder
sogar feindseligen Kultur zu überleben. Wenn die Säkularisierung ihren
religionsfeindlichen Charakter überwinden wird, wenn Religion als Mittel
zur Bewahrung der kulturellen Identität an Bedeutung verlieren wird,
dann werden ihre Inhalte wichtiger sein und dann können Christen und
Muslime endlich über das sprechen was ihren Glauben wirklich ausmacht.
MM: Herr Dr. Oechslen, wir danken für
das Interview. |