MM: Sehr
geehrte Frau Wild, was hat sie als Teenagerin dazu bewegt, sich
ausgerechnet mit der arabischsprachigen Welt zu beschäftigen?
Wild: Ich war in den 1980er Jahren in
der linksradikalen Bewegung aktiv. Da wir für eine grundlegende
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gekämpft haben, war die
Solidarität mit denjenigen, die in anderen Teilen der Welt ebenfalls um
Befreiung und Gerechtigkeit kämpfen, selbstverständlich. Die
Palästina-Frage rückte durch den 1. Libanon-Krieg 1982 in mein
Blickfeld. Seitdem nimmt sie eine wichtige Rolle in meinem Leben ein.
Früher war sie ein Schwerpunkt meiner politischen Aktivität, heute ist sie der
Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit.
MM: Was war ihre Motivation zu ihrem
jüngsten Buch „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“?
Wild: Da kommen mehrere Faktoren
zusammen. Zum einen geht mir die permanente Desinformation und
Manipulation rund um die Palästina-Frage auf die Nerven, zum anderen
finde ich die Debatte hierzulande verglichen etwa mit dem
englischsprachigen Raum extrem rückständig. Seit dem Gaza-Krieg
2008/2009 haben neue Analysen und Begriffe Eingang in die internationale
Debatte gefunden. So fand zum Beispiel im letzten Jahr an der School for
Oriental and African Studies (SOAS) in London eine Konferenz zum Thema
Zionismus und Siedlerkolonialismus statt. Ich wollte einerseits
zusammentragen, was von Forschern zum Thema zionistischer
Siedlerkolonialismus schon gesagt worden ist, um es der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen, und andererseits den Siedlerkolonialismus-Ansatz
weiterentwickeln, indem ich die israelische Politik konsequent daraufhin
untersuche. Außerdem wollte ich gerne über die Ein-Staat-Lösung
schreiben, die ebenfalls mit dem Gaza-Krieg in den Vordergrund gerückt
ist, da ich in ihr die einzige Möglichkeit sehe, den seit nunmehr über
130 Jahren andauernden Konflikt auf eine gerechte und humane Weise zu
lösen.
MM: Sie stellen den Zionismus als eine
Form des europäischen bzw. westlichen Siedlerkolonialismus dar. Wie
begründen sie das?
Wild: Der Zionismus und seine
Verkörperung, der Staat Israel, weisen alle für den europäischen
Siedlerkolonialismus charakteristischen Merkmale auf. Der Begriff
Siedlerkolonialismus bezeichnet die in der Regel gewaltsame Einnahme und
bevölkerungspolitische Neuordnung von Gebieten außerhalb Europas durch
einwandernde europäische Siedler. Gerechtfertigt wird dies
typischerweise mit biblischen Versprechungen, der angeblichen
zivilisatorischen Rückständigkeit der einheimischen Bevölkerung sowie
der Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler
kamen. Die einheimische Bevölkerung, deren Existenz den Siedlern
natürlich immer bekannt war, wird als so minderwertig angesehen, dass
auf ihre Rechte und Bedürfnisse keinerlei Rücksicht genommen werden
muss. Jeder Siedlerkolonialismus geht mit einem ausgeprägten Rassismus
einher, der zur Legitimation des kolonialen Projekts unverzichtbar ist.
Ich zeige in meinem Buch auf, dass das auch auf Israel zutrifft.
MM: ... und wie wirkt sich dieser
Siedlerkolonialismus praktisch aus?
Wild: Je nachdem, ob die einheimische
Bevölkerung als billige Arbeitskräfte gebraucht wird wie in der
ehemaligen französischen Siedlerkolonie Algerien oder dem ehemaligen
Apartheidstaat Südafrika (Ausbeutungskolonialismus) oder ob sie nicht
gebraucht wird (reiner Siedlerkolonialismus), entwickeln die
Siedlerstaaten unterschiedliche Techniken im Umgang mit ihr. Israel ist
wie die USA, Australien und Neuseeland ein reiner Siedlerkolonialismus,
der darauf abzielt, die einheimische Bevölkerung möglichst vollständig
durch die europäische bzw. europäisierte Siedlerbevölkerung zu ersetzen.
Deswegen ist die ethnische Säuberung das Hauptmerkmal der zionistischen
Politik. Sie hat nach der breitflächigen Vertreibung der Palästinenser
1948 nicht aufgehört, sondern wird seitdem sowohl innerhalb der Grünen
Linie - also dem Kernstaat Israel - als auch in den 1967 besetzten
Gebieten schleichend fortgesetzt. Durch fortgesetzten Landraub, stets
weiter vorrückenden Siedlungsbau, die systematische Zerstörung der
Lebensgrundlagen und die kontinuierliche Terrorisierung durch Siedler
und Soldaten wird die palästinensische Bevölkerung auf stets kleiner
werdenden Flächen zusammengedrängt. Diese Dynamik ist typisch für den
Siedlerkolonialismus. Ebenso typisch ist der ethnokratische Charakter
des Staates Israel, also die Herrschaft einer Ethnie über eine andere,
die im Gegensatz zur Demokratie steht. In dieser ethnokratischen
Herrschaftsstruktur ist die Apartheid, die sich in den letzten Jahren in
der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern immer deutlicher
zeigt, bereits angelegt. Meine Analyse basiert auf den Erkenntnissen
internationaler Kolonialismus- und Genozidforscher wie Patrick Wolfe und
Martin Shaw, kritischer israelischer Wissenschaftler wie Moshe Machover,
Oren Yiftachel und Ilan Pappe und palästinensischer Wissenschaftler wie
Jamil Hillal.
Ein Leser meines Buches sagte mir, dass es ihm
wie Schuppen von den Augen gefallen sei. Es werde auf einmal so klar, so
offensichtlich, dass Israel ein siedlerkolonialistischer Staat ist, dass
er sich frage, warum er nicht schon früher darauf gekommen ist.
MM: Bei solch schweren Anschuldigungen
gegen Israel dürfte ihnen der Vorwurf des Antisemitismus aus bestimmten
Kreise sicher sein. Wie gehen Sie damit um?
Wild: Das Wort Anschuldigung ist ganz
unzutreffend für das, was ich tue. Ich erhebe keine Anschuldigungen -
dieses Wort kommt ja aus der juristischen oder moralischen Sphäre -, ich
mache eine Analyse. Ich orientiere mich an der kritischen Theorie, und
da geht es darum, die Sache selber zum Sprechen zu bringen bzw. durch
die oberflächliche Ebene der Erscheinungen auf das Wesen der Sache zu
kommen. Das Buch ist die Zusammenfassung eines Erkenntnisprozesses, der
zu den vorliegenden Ergebnissen geführt hat.
Der Antisemitismusvorwurf wird gegenüber
Politikern, Publizisten oder Wissenschaftlern immer dann erhoben, wenn
in der Sache Einwände nicht möglich sind. Wenn man keine Argumente und
Sachverhalte hat, die das, was vorgetragen wurde, widerlegen können,
greift man mit dem Antisemitismusvorwurf zur moralischen Diffamierung in
der Hoffnung, dass sich der Betreffende von seinen eigenen Erkenntnissen
distanziert und/oder die Öffentlichkeit ihn ohne weiteres Nachfragen
verurteilt. Damit soll auch eine Beschäftigung mit der Sache, um die es
geht, verhindert werden. Meiner Beobachtung nach wird diese Demagogie
jedoch immer mehr als solche durchschaut. Möglichen
Antisemitismusvorwürfen stehe ich gelassen gegenüber.
MM: Sie analysieren nicht nur sondern
zeigen auch einen Weg zum Frieden durch die sogenannten
Einstaaten-Lösung auf. Wäre das nicht das Ende Israels als jüdischen
Staat?
Wild: Ja natürlich, aber in einem
multireligiösen, multikulturellen Land wie Palästina es ist und immer
war, kann der exklusive Staat einer einzigen Religionsgemeinschaft, die
von der zionistischen Bewegung auch als Ethnie definiert wird, nur ein
rassistischer Staat sein. Die einzige Alternative dazu ist ein
demokratischer, säkularer Staat, in dem Juden, Christen und Muslime mit
gleichen Rechten auf der Basis einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft
zusammenleben. Das Projekt des demokratischen, säkularen Staates auf dem
Boden des historischen Palästinas, das seit einigen Jahren von
Palästinensern und antizionistischen Israelis diskutiert wird,
beinhaltet die Aufgabe der kolonialen Privilegien durch die
jüdisch-israelische Bevölkerung und die Bereitschaft der
palästinensischen Bevölkerung, nach der Wiederherstellung der
Gerechtigkeit zu verzeihen und mit ihren ehemaligen Kolonialherren
zusammenleben. Wiederherstellung der Gerechtigkeit bedeutet zuallererst
die Umsetzung des von der UNO garantierten Rechts auf Rückkehr und
Entschädigung der 1948 und danach vertriebenen Palästinenser zu ihren
Herkunftsorten. Wie antizionistische Israelis und Palästinenser
gleichermaßen betonen, bedeutet Entkolonisierung in Palästina
Entzionisierung. Das schließt die Beseitigung der Apartheidgesetze und
-infrastruktur, die Rückgabe des geraubten Landes und Eigentums und die
Überwindung der rassistischen zionistischen Ideologie ein.
MM: Aber gibt es nicht in der gesamten
Welt - nicht nur in Israel - mächtige Kräfte, die das zu verhindern
suchen, schließlich ist die Verteidigung Israels "als jüdischer Staat"
ja neuerdings auch deutsche Staatsdoktrin. Stellt Ihr Buch nicht einen
Angriff auf die deutsche Staatsdoktrin dar?
Wild: Ich bin Wissenschaftlerin, keine Ideologin. Es ist nicht meine
Aufgabe, die Interessen der Herrschenden zu bedienen, sondern
Sachverhalte zu analysieren und daraus Erkenntnisse zu formulieren, die
ich der kritischen Öffentlichkeit zur Verfügung stelle. Die Politik der
westlichen Regierungen gegenüber Israel ist ein Teil des Problems. Da
diese den zionistischen Staat politisch, ökonomisch und militärisch
massiv unterstützen und privilegiert behandeln, sind sie
mitverantwortlich - wenn nicht hauptverantwortlich - für dessen
kontinuierliche Kriegsverbrechen (z.B. Siedlungsbau in besetzten
Gebieten) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. Apartheid). Die
Veränderung der offiziellen Politik gegenüber Israel erfordert jedoch
eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse in Deutschland und
jedem anderen westlichen Land.
MM: Die Religionsgemeinschaft des
Judentums wird von der zionistischen Bewegung auch als Ethnie definiert.
Das ist aber nicht nur in Israel so, sondern auch in Deutschland und
anderen Ländern. Sie haben offensichtlich Kontakt zu Menschen jüdischen
Glaubens, die das Judentum allein als Religionsgemeinschaft sehen und
z.B. deutsche Juden sind, wie es deutsche Christen und deutsche Muslime
gibt. Warum sind diese Menschen so leise?
Wild: Das Judentum als Religionsgemeinschaft und nicht als Ethnie zu
behandeln, ist keine subjektive Meinung, die auf persönlichen Kontakten
basiert. Das ist vielmehr der neuste wissenschaftliche Erkenntnisstand.
Der kritische israelische Historiker Shlomo Sand hat 2009 das Buch „The
Invention of the Jewish People“ vorgelegt, in dem er aufzeigt, wie und
aus welchen Interessen heraus, das Judentum beginnend ab dem 19.
Jahrhundert als „Volk“ konstruiert wurde.
Und zum letzten Teil Ihrer Frage möchte ich
sagen, dass kritische jüdische Menschen gar nicht mehr so leise sind.
Sie werden in der Öffentlichkeit nur nicht so wahrgenommen, weil ihre
Positionen von den Mainstream-Medien weitgehend ausgeblendet werden.
Nichtsdestotrotz gibt es sie. Bis zur 2.Intifada gab es hierzulande nur
einen bekannten jüdischen Antizionisten: den leider vor einigen Jahren
verstorbenen Fritz Teppich. Mittlerweile gibt es
Dutzende, wenn nicht hunderte zumindest zionismuskritischer jüdischer
Menschen. Meiner Erfahrung nach sind viele von ihnen in der
Palästina-Solidarität aktiv. Auch in anderen westlichen Ländern hat die
Zahl antizionistischer oder zionismuskritischer jüdischer Menschen seit
der 2.Intifada und infolge der israelischen Kriege gegen den Libanon
2006 und den Gaza-Streifen 2008/2009 kontinuierlich zugenommen. Als
Ausdruck dieses Prozesses wurde 2007 das „Internationale Jüdische
Antizionistische Netzwerk (IJAN)“ gegründet, das vor allem in den USA
aktiv ist.
MM: In wie weit wird in Ihrem Buch die
Rolle der Westlichen Welt bei dem Voranschreiten des
Siedlungskolonialismus in Palästina beleuchtet?
Wild: Das ist nicht der Schwerpunkt des Buches. Natürlich erwähne
ich die Rolle der USA und der EU an konkreten Punkten wie der Blockade
des Gaza-Streifens oder dem Aufbau polizeistaatlicher Strukturen in der
Westbank. In meinem Buch wird die innere Dynamik des zionistischen
Siedlerkolonialismus untersucht, nicht seine Funktion innerhalb des
westlichen imperialistischen Staatensystem und die daraus resultierende
Unterstützung. Das müsste Gegenstand einer eigenen Studie sein.
MM: Welche Arbeiten haben Sie für die
Zukunft geplant? Gibt es neue Buchprojekte?
Wild: Gegenwärtig arbeite ich an einem Buch mit dem Arbeitstitel
„Revolution und Konterrevolution in der arabischen Welt.“ MM: Frau Wild, wir danken für das
Interview. |