Muslim-Markt
interviewt
Dr. Brigitte Domurath-Sylvers - Mitautorin des Buches "Mythen und
Kritik in der Ideengeschichte der USA"
14.3.2014
Brigitte Domurath-Sylvers, ev.-luth., geb. 1952 in einem kleinen
Ort (Sonneborn) bei Hameln/NRW, in Hannover aufgewachsen, studierte
Germanistik und Russistik in Göttingen und Berlin und absolvierte
eine Lehrerausbildung in Braunschweig. An der Technischen
Universität Berlin wurde sie zum Dr. phil. promoviert. Seit 1980 ist sie als Lehrerin tätig, seit 1989 im
Berliner Schuldienst im Bezirk Neukölln.
Sie arbeitete am biographischen Lexikon „Demokratische Wege“
(1997 ) mit und ist Mitherausgeberin von „Die getötete Kindheit,
Erinnerungen ehemaliger Kinderhäftlinge in faschistischen
Konzentrationslagern“ (Berlin, 2003, zusammen mit Inge Gerlinghoff).
In diesem Jahr erschien „Mythen und Kritik in der Ideengeschichte
der USA: 25 Porträts“ beim Metropolis- Verlag, das sie zusammen mit
Ehemann Prof.
Malcolm Sylvers (Professor für Geschichte der USA) geschrieben
hat.
MM:
Sehr geehrte
Frau Domurath-Sylvers, bevor wir auf das neue Buch zu sprechen
kommen, eine Frage an die Lehrerin in Berlin Neukölln. Wie kommen
Sie mit dem hohen Anteil an Migranten in Ihrem Berufsalltag zurecht?
Domurath-Sylvers: Auch wenn ich
gerade beurlaubt bin, kenne ich den Schulalltag in
Neukölln. Die Konzentration der Migranten auf bestimmte Stadtteile
ist natürlich eine ungute Sache. Aber die Schulpolitik dirigierte
zusätzlich in den letzten Jahren kontinuierlich immer inhomogenere
Schüler und Schülerinnen in immer größere Klassen, was, denke ich,
dazu führt, dass die große Zahl der Strebsamen in den dortigen
Integrierten Sekundarschulen immer weniger Bildungschancen erhält.
Aber selbst unter solchen Bedingungen finden sich in den zehnten
Klassen schließlich regelmäßig viele aufgeweckte, freundliche und
lernbereite Jugendliche „nichtdeutscher Herkunftssprache“. Diese
finden aber, so hatte ich den Eindruck, von privaten Betrieben ganz
abgesehen, in Polizei, Bezirksämtern und städtischen Großbetrieben
zu wenig Einlass, was die Verantwortlichen dann meist mit nicht
ausreichenden Kenntnissen des Schriftdeutsch begründen.
MM: ... und gibt es spezielle muslimische Probleme?
Domurath-Sylvers: Nicht sachdienlich
fand ich, als ich zeitweise Sport und Ethik unterrichtete, die
ständigen bürokratischen Aufgeregtheiten in Sachen Religion. Man
muss nicht aus jeder Bekleidungsfrage im Schwimmen einen Kulturkampf
machen, auch nicht aus der engagierten Idee der Schüler, einen
interkonfessionellen Raum der Stille einzurichten. Die Schulen haben
es, glaube ich, versäumt, die islamischen
Nachbarschaftseinrichtungen, aber auch die Moscheen in die
Schularbeit einzubeziehen, aber hier gibt es in Berlin besonders
große Berührungsängste.
MM: Warum haben Sie mit Ihrem Mann
eigentlich ein Buch über die USA geschrieben?
Domurath-Sylvers: Ich selbst suchte
vor zehn Jahren ein einführendes, aber kritisches Buch über
US-Ideengeschichte auf Deutsch, das auf Geschichte eingeht und
Vergleiche mit Deutschland anstellt, konnte aber keines finden. Mein
Mann, Hochschullehrer für US-Geschichte, begegnete in Deutschland
wie in Italien oft der Vorstellung über die USA als Land des
Primitivismus, kurz, von dogmatischen Kreationisten, Scientology und
Waffennarren. So habe ich ihn zu dem Buch überredet.
MM: Und was wollten Sie zum Ausdruck
bringen?
Domurath-Sylvers: In Wirklichkeit
gibt es auch in den USA ehrenswerte Denktraditionen: Theologen, die
für die Urbevölkerung Rechte einforderten, die Sklavereigegner,
unter ihnen besonders viele Frauen, die aus religiösem Antrieb für
ihre Idee auch Leib und Leben eingesetzt haben, die Romantiker, die
gegen den US-Eroberungskrieg gegen Mexiko öffentlich zu Felde zogen,
aber auch für John Brown, der Waffen für einen Sklavenaufstand durch
den durchaus blutigen Überfall auf ein Arsenal beschaffen wollte.
Andere analysierten die Unwilligkeit der US-Wirtschaft, haltbare
Waren herzustellen und die Raubmentalität ihrer Unternehmer,
kritisierten den Beginn der unheilvollen, indirekt kolonialen
weltweiten Eroberungspolitik der USA, ihre Einmischung in den Ersten Weltkrieg,
überhaupt ihre ständige Kriegsführung, auch ihre Vergötterung von
Wissenschaft und Technik. Aber auch all diese Traditionen zeigen wir
in ihren Beschränkungen. In unserem Buch untersuchen wir aber auch
die Schriften von Konservativen, da auch von dieser Seite
Interessantes kam, etwa eine besonders scharfe Kritik des
Kapitalismus oder von Reformpolitik.
MM: Warum kann die Kenntnis über
US-Ideengeschichte auch für Muslime von Interesse sein, obwohl sie
bis vor Kurzem in den USA nur eine geringe Rolle gespielt haben?
Domurath-Sylvers: Zunächst aus dem
selben Grund, warum diese Kenntnis auch für alle anderen in Europa
nützlich sein könnte. Die europäischen Gesellschaften nähern sich
ja, jeder spürt das, in Windeseile der USA an, es werden
Einwanderergesellschaften. Löhne und Einfluss der Gewerkschaften
sinken rapide, ganz im Gegensatz zu den sog. „Auslandseinsätzen“ und
den Staatsschulden, die Klassenunterschiede wachsen, auch die
Schulen und Universitäten gerieten längst in den Sog der allgemeinen
Privatisierung, es mangelt an Gegenöffentlichkeit. Die längeren
US-Erfahrungen mit all dem könnten von Nutzen sein. Muslime sind
außerdem in das ideologische Visier der USA und in der Folge
Westeuropas gelangt, werden manchmal unter Generalverdacht des
Terrorismus gestellt. Sicher wäre es klug, darauf nicht mit
Klischeevorstellungen über die USA zu antworten, sondern mehr zu
wissen.
MM: Sie beschäftigen sich in einem
Ihrer Porträts mit dem „Sonderfall US-Kapitalismus“, worin
unterscheidet er sich von anderen?
Domurath-Sylvers: Diese Vorstellung
geht auf den US-amerikanischen Ökonomen Henry Carey zurück, der vor
150 Jahren, als die USA sich noch in Ausdehnung nach Westen befand,
davon ausging, dass die US-Wirtschaft eine Binnenmarktwirtschaft mit
Arbeitskräftemangel, also auch recht hohen Löhnen, bleiben würde.
Das alles hat sich nach dem Bürgerkrieg schnell als Irrtum
herausgestellt. In den 1960er Jahren stellten dann die US-Ökonomen
Paul Baran und Paul Sweezy, denen wir ein Porträt gewidmet haben,
die US-Wirtschaft („Monopoly Capital“) geradezu als Paradebeispiel
kapitalistischen Wirtschaftens dar. Ihrer Ansicht nach stagniert sie
seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts und wird seither nur durch
Erfindungen, die man in Massenware verwandelt (Auto, Elektronik),
durch hohe Preise, Kriege und schließlich durch Anlegen der Gewinne
im Finanzgeschäft am Laufen gehalten. Für den US-Ökonom Kenneth
Galbraith zeichnet sie sich durch riesenhafte Verschuldung,
Militarisierung des Haushalts und ungewöhnliche Vernachlässigung der
öffentlichen Dienste aus.
MM: Der imperiale Kapitalismus hat –
trotz aller Kritik – offensichtlich immer noch eine gewisse
Anziehungskraft für bestimmte meist ärmere Völker. Beruht diese nur
auf Mythen?
Domurath-Sylvers: Wohl kaum. In den
USA ist es z. B. für Einwanderer in der Regel leichter, die eigene
Kultur und Religion zu bewahren. Das Bürgertum vieler Länder an der
„Peripherie“ scheint außerdem empfänglich für die Vorstellung von
individuellem privatem Aufstieg und eines US-amerikanischen, vom
Staat „unbelästigten“ way of life , auch wenn dies nicht im
nationalen Interesse ihres Landes liegt. Die USA werben ja nicht
ohne Erfolg stets mit ihren liberalen Errungenschaften, wenn es
darum geht, Regierungen, die den US-Interessen im Wege stehen, ins
Straucheln zu bringen.
MM: Zu den Mythen gehört die
Chancengleichheit und Freiheit, die es in den USA mehr geben soll,
als an anderen Orten. Wie es mit diesen beiden Begriffen bestellt?
Domurath-Sylvers: Zur Zeit der
Gründung der USA war es ja ein Land von mehrheitlich weißen
Kleinbesitzern, vor allem Farmern, die kein adliger Gutsbesitzer
oder Staat mit hohen Abgaben verfolgte. Im Vergleich mit den meisten
europäischen Bauern - von den bettelarmen englischen Arbeitern ganz
abgesehen - war dies ein deutliches Plus an Chancengleichheit und
Freiheit. Aber auch dies ging nur auf Kosten anderer, zu allererst
der Ureinwohner und im Süden der Sklaven. Chancengleichheit und
Freiheit galt auch nur für weiße Männer, und dagegen protestierten
Quäker, Afroamerikaner, Frauen seit der Unabhängigkeitserklärung.
Denn hier hieß es nämlich, „dass alle Menschen gleich geschaffen
sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen
Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben
nach Glück gehören;[…] “.
Gleichheit wird aber überwiegend als
Gleichheit vor dem Gesetz verstanden, nicht etwa im Sinn sozial
gleicher Lebensbedingungen.. Dafür muss jeder selbst sorgen, was man auch als
indirekte Aufforderung verstehen muss, sich „durchzusetzen“. Die USA
war auch damals schon keineswegs eine klassenlose Gesellschaft. Mit
Hilfe der neuen Verfassung (1787) drängten Kaufleute, Banker und
reiche Familien der Ostküste die politischen Möglichkeiten der
Bevölkerungsmehrheit zurück. Auch wenn die US-Bundesregierung in der
Geschichte manchmal Minderheiten durch Gesetze zu Rechten verhalf,
wird die Forderung danach bis heute von den meisten eher als Zeichen
für Schwäche und dafür gesehen, dass sich diese oder jene Gruppe
ungerechtfertigte Vorteile verschaffen will. Zusatzangebote im
Bildungssystem gelten weiterhin als klassisches Mittel zu mehr
Chancengleichheit. Aber die kostenlosen öffentlichen Schulen in den
großen Städten sind durch die Segregation der Gebildeteren und meist
auch Wohlhabenderen deren Privatschulen von vornherein unterlegen.
MM: Hat der Begriff "Gerechtigkeit"
in den USA jemals den Stellenwert von "Freiheit" erlangt?
Domurath-Sylvers: Sicher nicht.
Gerechtigkeit, sozial verstanden, wäre ja ein Begriff etwa der
Arbeiter- oder auch einer religiösen Bewegung. Aber die kleinen
Arbeiterparteien, die Gewerkschaften und Kirchen meldeten sich nur
in extremer sozialer Notlage der Bevölkerung laut zu Wort, wie es zu
Zeiten der Massenarbeitslosigkeit der 1930er Jahre geschah. Auch
wenn US-Soziologen, Ökonomen oder Historiker den USA ab und an
bescheinigen, dass sie eine Klassengesellschaft sei, blieb dies fast
stets ohne großes Echo. Regierungspropaganda und Medien haben
inzwischen das meiste, was mit dem Begriff Rechte zu tun hat, auf
Außenpolitik gelenkt, auf Menschenrechte von Frauen in anderen
Ländern, von kleineren Ethnien oder Minderheiten, denen man zu Hilfe
eilen müsse – eben als Mittel, um den Einfluss der USA dort zu
vergrößern.
MM: Die USA existieren ja nicht erst
seit gestern. Wie erklären Sie sich, dass es bis heute keine
derartige umfassende Ideengeschichte zu den USA in deutscher Sprache
gab?
Domurath-Sylvers: Die deutsche
Fachwissenschaft analysiert mehr Probleme von Gruppen in den USA
oder übt milde Kritik an der Kultur. Dabei mag eine gewisse
Ängstlichkeit eine Rolle spielen, als proamerikanisch oder
antiamerikanisch abgestempelt zu werden, was beides dem akademischen
Fortkommen schaden könnte. Wir wollten in unserem Buch dagegen so
umfassend und allgemeinverständlich wie möglich informieren, deshalb
die Fülle der verschiedensten Porträts, dabei jedoch kritisch sein,
aber nicht propagandistisch.
MM: An welchem Projekt wollen Sie in
Zukunft arbeiten?
Domurath-Sylvers: Zukunftsprojekte?
Als älteres Semester bin ich damit vorsichtig. Verschiedene
Kolleginnen und Kollegen hat inzwischen plötzliches gesundheitliches
und privates Missgeschick ereilt. Für den puritanischen Theologen
Jonathan Edwards sind wir alle in den Händen eines unerforschlichen,
vermutlich aber zornigen Gottes. In den nächsten Wochen leiste ich
zwei jungen Müttern in der Nachbarschaft Gesellschaft und Hilfe und
schaue, was in der lokalen Umwelt zu tun ist.
MM:
Frau Domurath-Sylvers wir danken für das Interview. |