MM: Sehr geehrter Herr Strohmeyer, wie
kam es, dass das Thema "Naher Osten" Ihr spätes Interesse fand?
Arn Strohmeyer: Das ist kein spätes
Interesse. Ich interessiere mich für dieses Problem seit ungefähr 50
Jahren. Ich erinnere mich an folgende Begebenheit: Ich war damals
Student und hörte im Juni 1967, es waren die Tage des Juni-Krieges
(des sogenannten „Sechs-Tage-Krieges“), auf dem Bonner Münsterplatz
eine Rede von Günter Grass zu diesem Thema. Er malte eine furchtbare
Katastrophe an die Wand: Die Araber wollten die Israelis ins Meer
treiben, ein neuer Holocaust stehe bevor usw. Wir alle müssten uns
hinter Israel stellen, um es zu schützen. Mir kam das alles sehr
merkwürdig vor, aber ich verstand damals zu wenig von dem Problem, um
Gegenargumente zu haben. Erst als ich wenige Jahre später Walter
Hollsteins Buch „Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts“ gelesen habe, fing ich an, das Nahost-Problem zu
verstehen. Das ist eins der besten Bücher zum Thema – heute noch.
Günter Grass hat seine Meinung über den Konflikt ja später auch
gründlich geändert. Und die damals in Israel regierenden Militärs und
Politiker haben später alle bekannt, dass Israel 1967 zu keinem
Zeitpunkt wirklich gefährdet gewesen wäre. Mit anderen Worten: Das war
alles Propaganda. Die gab es natürlich ganz kräftig auch auf
arabischer Seite. Man weiß ja inzwischen auch, dass dieser Krieg sehr
gründlich im Pentagon vorbereitet worden ist.
MM: Es ist eine von uns gemachte
Erfahrung, dass Journalisten, die wie Sie bei renommierten Zeitungen
gearbeitet haben, erst nach ihrer Verrentung den Mut aufbringen, die
volle Wahrheit über Israel zu schreiben. Welche Mechanismen verhindern
das während der redaktionellen Tätigkeit?
Arn Strohmeyer: Die Frage trifft so
formuliert für mich nicht zu. Ich war viele Jahre Ressortleiter
Politik bei den Bremer Nachrichten. Wir hatten dort ein sehr offenes
und liberales Redaktionsklima. Wenn Sie bis zum September 2007 im
Archiv dieser Zeitung nachforschen (zu dem Zeitpunkt bin ich dort
ausgeschieden), dann werden Sie sehr viele kritische Artikel zur
Politik Israels von mir finden. Ein Leitartikel zum Oslo-Abkommen war
übrigens einer meiner größten journalistischen Flops. Ich habe damals
wirklich geglaubt – wie sehr viele meiner Kollegen in anderen
Redaktionen – , das sei der Anfang eines wirklich langfristigen
Friedensprozesses. Und den habe ich natürlich begrüßt. Was für ein
Irrtum! So ist das manchmal!
MM: Von gewissen Kreisen wird versucht
Antisemitismus und Antizionismus gleich zu setzen? Wie würden Sie die
beiden Begriffe voneinander trennen und darf Ihrer Meinung nach ein
Deutscher Antizionist sein?
Arn Strohmeyer: Ja, natürlich darf ein
Deutscher Antizionist sein. Leider wissen die meisten Deutschen gar
nicht, was Zionismus ist und setzen ihn mit Judentum gleich. Der
Zionismus ist ja die nationale Ideologie des jüdischen Volkes,
zumindest von Teilen des jüdischen Volkes. Es sind ja längst nicht
alle Juden Zionisten. Die zionistische Kernidee war und ist, einen
jüdischen Staat in dem von einem anderen Volk bewohnten Land zu
gründen und zu etablieren, eben in Palästina. Deshalb ist die
zionistische Parole „das Volk ohne Land geht in ein Land ohne Volk“ so
grundfalsch. Damit war die Gewalt vorprogrammiert, und sie dauert ja
auch seit etwa 1880, als die ersten Zionisten nach Palästina kamen,
bis heute an. Der Zionismus ist also ein sehr aggressiver
Siedlerkolonialismus. Sehr viele Zeugnisse und Dokumente führender
Zionisten belegen ja, dass die Gewalt – also die Vertreibung der
Palästinenser – von Anfang an beabsichtigt war. Schon der Begründer
des Zionismus, Theodor Herzl, spricht von der Vertreibung der
Palästinenser. Diese gewalttätige Ideologie, die nie den wirklichen
Frieden mit den Arabern gesucht hat, kann man nicht befürworten. Aber
man muss den Zionismus unbedingt vom Judentum trennen und
unterscheiden.
MM: ...auch als Deutscher?
Arn Strohmeyer: Wenn ich als Deutscher
große Scham für die deutschen Verbrechen an den Juden empfinde, dann
folgt für mich daraus eine Verantwortung gegenüber den Juden, aber
nicht gegenüber dem Zionismus. Ich weiß, dass es auch die humanistisch
gesinnten und zur Verständigung bereiten Zionisten gegeben hat, aber
die haben in der israelischen Politik nie eine Rolle gespielt, also
Leute wie Martin Buber oder Gershom Sholem. Man muss in Deutschland
Aufklärung betreiben, dass die Menschen zwischen Judentum, Zionismus
und Israel (und auf der anderen Seite zwischen Antisemitismus,
Antizionismus und Kritik an Israels Politik) zu unterscheiden
vermögen. Wenn man das nicht tut, kommt man zu sehr gefährlichen
politisch falschen Schlussfolgerungen.
MM: Eines Ihrer neuste Bücher heißt:
"Wer rettet Israel?" Ist angesichts des jüngsten Gaza-Massakers Israel
noch zu retten, ohne dass einige Spitzenpolitiker in Den Haag angeklagt
werden?
Arn Strohmeyer: Die führenden
israelischen Politiker hätten schon für ihre Verantwortung für den
Gaza-Krieg 2008/2009 vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
gestellt werden müssen. Aber eine solche Anklage lassen die
Machtverhältnisse auf der Welt nicht zu. In meinem Buch „Wer rettet
Israel. Ein Staat am Scheideweg“ versuche ich zu belegen, wie Israel
sich mit seiner Kriegs-, Besatzungs- und Unterdrückungspolitik
gegenüber den Palästinensern selbst am meisten gefährdet. Es ist meine
feste Überzeugung: Ein Staat, der eine solche Politik betreibt, hat
keine Zukunft. Das sagen ja auch sehr viele Israelis. Auf geraubtem
Land kann es für Israel keinen Frieden geben. Ein Buch des
israelischen Historikers Gershom Gorenberg heißt: „Israel schafft sich
ab“. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann hat gerade ein Buch
veröffentlicht mit dem Titel: „Israels Schicksal. Wie der Zionismus
sich selbst zerstört“. Wem das als Beleg noch nicht reicht, sei an
Folgendes erinnert: Die amerikanischen Geheimdienste haben unter der
Federführung der CIA eine Untersuchung und Analyse der Politik Israels
angefertigt. Das Ergebnis war, dass man Israel bei Fortsetzung seiner
gegenwärtigen Politik keine 20 Jahre mehr gibt. Dem widersprach der
ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger – ein Jude! –
heftig. Er gibt Israel keine zehn Jahre mehr. Die Freunde Israels, von
denen es ja in Deutschland viele gibt, sollten diese Alarmzeichen sehr
ernst nehmen. Israel ist nicht von außen gefährdet – durch den Iran
oder sonst wen – , sondern durch seine eigene Politik.
MM: Der Mainstream der deutschen Medien
steht hinter dem zionistischen Expansionskurs. Wie kann es dennoch zu
einer Korrektur des Israels-Bildes kommen, das einem nachhaltigen
Frieden dienlich wäre?
Arn Strohmeyer: Das ist wohl sehr schwer
zu erreichen. Denn aufgrund der NS-Verbrechen an den Juden sitzt bei den
Deutschen das Schuldgefühl noch sehr tief – wenn auch vielleicht
unbewusst. Außerdem folgt jeder Kritik an Israels Politik von den
Vertretern Israels und den Anhängern dieses Staates sofort der
Antisemitismus-Vorwurf. Davor haben die Menschen natürlich Angst. Es ist
eine völlig absurde und perverse Situation – das weiß ich aus eigener
Erfahrung. Denn wenn man für die Palästinenser die Einhaltung des
Völkerrechts, der Menschenrechte und der entsprechenden UNO-Resolutionen
und die Selbstbestimmung für dieses leidgeprüfte Volk einfordert (also
die Erfüllung ureigener westlicher Werte!), dann wird man als
„Antisemit“ denunziert. Daran kann man gut sehen, wie es der Westen in
Wirklichkeit mit diesen Werten hält. Da wird kräftig mit zweierlei Maß
gemessen und einer schlimmen Doppelmoral gehuldigt. Aber ich denke, dass
sich die Israelis durch ihre brutale Politik gegenüber den
Palästinensern (siehe das gerade zurückliegende Massaker im
Gaza-Streifen) international immer mehr isolieren und an Ansehen in der
Welt verlieren. Das werden auch die meisten Deutschen begreifen. Die
Umfragen in Deutschland und anderen EU-Ländern gehen ja genau in diese
Richtung.
MM: Welche Mitschuld trägt Deutschland
an dem Leid der Palästinenser und der jahrzehntelangen Besatzung?
Arn Strohmeyer: Die Mitschuld der
deutschen Politik am Leiden der Palästinenser ist riesig. Deutschland
hat Israel schon ab 1952 mit Waffen beliefert, die natürlich immer auch
gegen diese Menschen eingesetzt wurden. Die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen erfolgte erst 1965. Die Waffenlieferungen nahmen immer
größere Ausmaße an (man denke nur an die atomar bewaffneten U-Boote!).
Auch sonst war und ist die wirtschaftliche und militärische
Zusammenarbeit sehr eng, was ja bedeutet, dass Deutschland Israel in
jeder Beziehung stärkt, was aber immer zum Nachteil der Palästinenser
ist.
MM: ...aber hilft Deutschland nicht auch
den Palästinensern, wenn auch im geringeren Maß?
Arn Strohmeyer: Für die Palästinenser
tut Deutschland, außer ein paar Almosen für die Palästinensische
Autonomie-Behörde zu geben und ein paar kleine Entwicklungsprojekte zu
unterstützen, so gut wie nichts. Und wenn Israel letztere wieder
zerstört – wie den Gaza-Flughafen – erfolgt noch nicht mal eine
Beschwerde. Die Unterstützung Israels ist deutsche „Staatsräson“
(Merkel), d.h. aber auch: die Unterstützung Israels etabliert und
festigt die israelische Besatzung und den israelischen
Siedlerkolonialismus. Deutschland unterstützt also direkt oder indirekt
die Unterdrückung der Palästinenser und die aggressive und
völkerrechtswidrige Expansions- und Besatzungspolitik dieses Staates. Es
ist damit an dem Leid der Palästinenser ursächlich beteiligt. Ohne den
Holocaust gäbe es vermutlich keinen Staat Israel – und ohne die
Vertreibung der Palästinenser 1948 und später auch nicht. Die
Palästinenser sind also die „Opfer der Opfer“. Deutschland lädt also
gegenüber diesem Volk eine schwere Schuld auf sich. Und da Israel mit
seiner gegenwärtigen Politik keine Zukunftsperspektive hat, droht
Deutschland sich mit seiner verfehlten Politik gegenüber Israel auch ein
weiteres Mal an Juden schuldig zu machen.
MM: Angesichts des Ist-Zustandes
verzweifeln viele und sehen keinen Ausweg mehr. Sie glauben dass
entweder der Siedlerkolonialismus siegen wird (wie in den USA und
Australien) oder die Siedler vertreiben werden (wie in Algerien). Warum
ist die Zwischenlösung, dass beide in Frieden miteinander eine neue
Zukunft gestaltetn (wie in Südafrika) so schwer bei Israel?
Arn Strohmeyer: Eine Lösung kann nur von
den Israelis kommen. Sie haben in jeder Beziehung die Übermacht. Die
Palästinenser haben sich bereit erklärt, auf 78 Prozent Palästinas zu
verzichten und auf den restlichen 22 Prozent (Westjordanland und
Gazastreifen) ihren Staat zu gründen. Die Arabische Liga hat einen
Friedensplan gleichen Inhalts vorgebracht. Aber Israel lehnt ab und ist
dabei, auch noch diese restlichen 22 Prozent zu okkupieren. Ich kann für
die Nicht-Friedensbereitschaft der Israelis hauptsächlich psychologische
Gründe ausmachen – bei dieser Argumentation berufe ich mich auf den
israelischen Historiker Ilan Pappe, der die Mentalität seiner Landsleute
natürlich genau kennt. Er sagt, dass sich die israelischen Juden als die
ultimative Opfer der Geschichte empfinden. Sie üben deshalb in ihrer
Sicht niemals Gewalt oder Terror aus, das tun nur die „anderen“ – die
Araber bzw. die Palästinenser. Deshalb sind sie nicht in der Lage, die
Palästinenser als Opfer ihrer eigenen Gewalt anzuerkennen. Der Schritt,
die eigene Täterrolle und die „anderen“ als Opfer anzuerkennen, ist für
die Israelis ein unüberwindbares psychologisches Hindernis, ruft größte
Ängste hervor und stellt sogar die zionistische Identität in Frage. So
weit Ilan Pappe. Mit einer solchen Einstellung – vor allem der
Unfähigkeit, die Leiden der „anderen“ anzuerkennen – kann man natürlich
keinen Frieden schließen. Aber ich bin natürlich völlig überfragt zu
sagen, wie man die Israelis zu einer humaneren Einstellung bringen
könnte.
MM: In Ihren letzten Büchern zum Thema
"Das unheilvolle Dreieck. Deutschland, Israel und die
Palästinenser" und "Wer rettet
Israel - Ein Staat am Scheideweg" haben Sie das Thema bereits
umfassend erarbeitet. Wie wollen Sie sich in Zukunft für der Region
einsetzen?
Arn Strohmeyer: Ich werde weiter
schreiben und Vorträge halten – in der Hoffnung, dass die Menschen die
Realitäten in Israel und Palästina so zur Kenntnis nehmen, wie sie
wirklich sind und sich nicht in einen verlogenen Philosemitismus
flüchten, der die Realität total verstellt. Der israelische Publizist
Simcha Flapan hat über sein Land und dessen Geschichte einmal gesagt:
Wenn die Klischees und falschen Mythen ihren Platz im Denken weiter
behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich. Man müsse die Mythen
entkräften, nur so könne es Frieden in dieser Region geben. Ich
versuche, dazu einen kleinen Beitrag zu leisten. Aber ich mache mir da
nichts vor. Der Einfluss von Journalisten und Autoren ist sehr gering.
Ich überschätze da meine Möglichkeiten nicht.
MM: Herr Strohmeyer, wir danken für das
Interview.
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