Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Arn Strohmeyer
 

Muslim-Markt interviewt
Arn Strohmeyer - Autor und Journalist
21.9.2014

Arn Strohmeyer (Jahrgang 1942) ist  zunächst im Osten Deutschlands, später in Soest in Westfalen aufgewachsen. Nach dem Abitur in Göttingen folgte in Bonn das Studium der Philosophie, Soziologie und Slawistik, das er 1972 mit Magisterexamen abschloss. Danach folgten Tätigkeiten als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und einer politischen Monatszeitschrift. Er hat zahlreiche Bücher, Essays, Artikel, Interviews und Buchrezensionen veröffentlicht, die vor allem zwei Schwerpunktthemen behandeln: Griechenland und Naher Osten. Für seinen Einsatz für Griechenland - seiner zweiten Heimat - ist er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden.

Zu seinen letzten Büchern gehört "Das unheilvolle Dreieck. Deutschland, Israel und die Palästinenser" und "Wer rettet Israel - Ein Staat am Scheideweg"

Arn Strohmeyer ist verheiratet hat ein Kind, drei Enkel und lebt in Bremen.

(Foto mit freundliche Genehmigung von Arn Strohmeyer bei einer Demo für Gaza)

MM: Sehr geehrter Herr Strohmeyer, wie kam es, dass das Thema "Naher Osten" Ihr spätes Interesse fand?

Arn Strohmeyer: Das ist kein spätes Interesse. Ich interessiere mich für dieses Problem seit ungefähr 50 Jahren. Ich erinnere mich an folgende Begebenheit: Ich war damals Student und hörte im Juni 1967, es waren die Tage des Juni-Krieges (des sogenannten „Sechs-Tage-Krieges“), auf dem Bonner Münsterplatz eine Rede von Günter Grass zu diesem Thema. Er malte eine furchtbare Katastrophe an die Wand: Die Araber wollten die Israelis ins Meer treiben, ein neuer Holocaust stehe bevor usw. Wir alle müssten uns hinter Israel stellen, um es zu schützen. Mir kam das alles sehr merkwürdig vor, aber ich verstand damals zu wenig von dem Problem, um Gegenargumente zu haben. Erst als ich wenige Jahre später Walter Hollsteins Buch „Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts“ gelesen habe, fing ich an, das Nahost-Problem zu verstehen. Das ist eins der besten Bücher zum Thema – heute noch. Günter Grass hat seine Meinung über den Konflikt ja später auch gründlich geändert. Und die damals in Israel regierenden Militärs und Politiker haben später alle bekannt, dass Israel 1967 zu keinem Zeitpunkt wirklich gefährdet gewesen wäre. Mit anderen Worten: Das war alles Propaganda. Die gab es natürlich ganz kräftig auch auf arabischer Seite. Man weiß ja inzwischen auch, dass dieser Krieg sehr gründlich im Pentagon vorbereitet worden ist.

MM: Es ist eine von uns gemachte Erfahrung, dass Journalisten, die wie Sie bei renommierten Zeitungen gearbeitet haben, erst nach ihrer Verrentung den Mut aufbringen, die volle Wahrheit über Israel zu schreiben. Welche Mechanismen verhindern das während der redaktionellen Tätigkeit?

Arn Strohmeyer: Die Frage trifft so formuliert für mich nicht zu. Ich war viele Jahre Ressortleiter Politik bei den Bremer Nachrichten. Wir hatten dort ein sehr offenes und liberales Redaktionsklima. Wenn Sie bis zum September 2007 im Archiv dieser Zeitung nachforschen (zu dem Zeitpunkt bin ich dort ausgeschieden), dann werden Sie sehr viele kritische Artikel zur Politik Israels von mir finden. Ein Leitartikel zum Oslo-Abkommen war übrigens einer meiner größten journalistischen Flops. Ich habe damals wirklich geglaubt – wie sehr viele meiner Kollegen in anderen Redaktionen – , das sei der Anfang eines wirklich langfristigen Friedensprozesses. Und den habe ich natürlich begrüßt. Was für ein Irrtum! So ist das manchmal!

MM: Von gewissen Kreisen wird versucht Antisemitismus und Antizionismus gleich zu setzen? Wie würden Sie die beiden Begriffe voneinander trennen und darf Ihrer Meinung nach ein Deutscher Antizionist sein?

Arn Strohmeyer: Ja, natürlich darf ein Deutscher Antizionist sein. Leider wissen die meisten Deutschen gar nicht, was Zionismus ist und setzen ihn mit Judentum gleich. Der Zionismus ist ja die nationale Ideologie des jüdischen Volkes, zumindest von Teilen des jüdischen Volkes. Es sind ja längst nicht alle Juden Zionisten. Die zionistische Kernidee war und ist, einen jüdischen Staat in dem von einem anderen Volk bewohnten Land zu gründen und zu etablieren, eben in Palästina. Deshalb ist die zionistische Parole „das Volk ohne Land geht in ein Land ohne Volk“ so grundfalsch. Damit war die Gewalt vorprogrammiert, und sie dauert ja auch seit etwa 1880, als die ersten Zionisten nach Palästina kamen, bis heute an. Der Zionismus ist also ein sehr aggressiver Siedlerkolonialismus. Sehr viele Zeugnisse und Dokumente führender Zionisten belegen ja, dass die Gewalt – also die Vertreibung der Palästinenser – von Anfang an beabsichtigt war. Schon der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, spricht von der Vertreibung der Palästinenser. Diese gewalttätige Ideologie, die nie den wirklichen Frieden mit den Arabern gesucht hat, kann man nicht befürworten. Aber man muss den Zionismus unbedingt vom Judentum trennen und unterscheiden.

MM: ...auch als Deutscher?

Arn Strohmeyer: Wenn ich als Deutscher große Scham für die deutschen Verbrechen an den Juden empfinde, dann folgt für mich daraus eine Verantwortung gegenüber den Juden, aber nicht gegenüber dem Zionismus. Ich weiß, dass es auch die humanistisch gesinnten und zur Verständigung bereiten Zionisten gegeben hat, aber die haben in der israelischen Politik nie eine Rolle gespielt, also Leute wie Martin Buber oder Gershom Sholem. Man muss in Deutschland Aufklärung betreiben, dass die Menschen zwischen Judentum, Zionismus und Israel (und auf der anderen Seite zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israels Politik) zu unterscheiden vermögen. Wenn man das nicht tut, kommt man zu sehr gefährlichen politisch falschen Schlussfolgerungen.

MM: Eines Ihrer neuste Bücher heißt: "Wer rettet Israel?" Ist angesichts des jüngsten Gaza-Massakers Israel noch zu retten, ohne dass einige Spitzenpolitiker in Den Haag angeklagt werden?

Arn Strohmeyer: Die führenden israelischen Politiker hätten schon für ihre Verantwortung für den Gaza-Krieg 2008/2009 vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden müssen. Aber eine solche Anklage lassen die Machtverhältnisse auf der Welt nicht zu. In meinem Buch „Wer rettet Israel. Ein Staat am Scheideweg“ versuche ich zu belegen, wie Israel sich mit seiner Kriegs-, Besatzungs- und Unterdrückungspolitik gegenüber den Palästinensern selbst am meisten gefährdet. Es ist meine feste Überzeugung: Ein Staat, der eine solche Politik betreibt, hat keine Zukunft. Das sagen ja auch sehr viele Israelis. Auf geraubtem Land kann es für Israel keinen Frieden geben. Ein Buch des israelischen Historikers Gershom Gorenberg heißt: „Israel schafft sich ab“. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann hat gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Israels Schicksal. Wie der Zionismus sich selbst zerstört“. Wem das als Beleg noch nicht reicht, sei an Folgendes erinnert: Die amerikanischen Geheimdienste haben unter der Federführung der CIA eine Untersuchung und Analyse der Politik Israels angefertigt. Das Ergebnis war, dass man Israel bei Fortsetzung seiner gegenwärtigen Politik keine 20 Jahre mehr gibt. Dem widersprach der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger – ein Jude! – heftig. Er gibt Israel keine zehn Jahre mehr. Die Freunde Israels, von denen es ja in Deutschland viele gibt, sollten diese Alarmzeichen sehr ernst nehmen. Israel ist nicht von außen gefährdet – durch den Iran oder sonst wen – , sondern durch seine eigene Politik.

MM: Der Mainstream der deutschen Medien steht hinter dem zionistischen Expansionskurs. Wie kann es dennoch zu einer Korrektur des Israels-Bildes kommen, das einem nachhaltigen Frieden dienlich wäre?

Arn Strohmeyer: Das ist wohl sehr schwer zu erreichen. Denn aufgrund der NS-Verbrechen an den Juden sitzt bei den Deutschen das Schuldgefühl noch sehr tief – wenn auch vielleicht unbewusst. Außerdem folgt jeder Kritik an Israels Politik von den Vertretern Israels und den Anhängern dieses Staates sofort der Antisemitismus-Vorwurf. Davor haben die Menschen natürlich Angst. Es ist eine völlig absurde und perverse Situation – das weiß ich aus eigener Erfahrung. Denn wenn man für die Palästinenser die Einhaltung des Völkerrechts, der Menschenrechte und der entsprechenden UNO-Resolutionen und die Selbstbestimmung für dieses leidgeprüfte Volk einfordert (also die Erfüllung ureigener westlicher Werte!), dann wird man als „Antisemit“ denunziert. Daran kann man gut sehen, wie es der Westen in Wirklichkeit mit diesen Werten hält. Da wird kräftig mit zweierlei Maß gemessen und einer schlimmen Doppelmoral gehuldigt. Aber ich denke, dass sich die Israelis durch ihre brutale Politik gegenüber den Palästinensern (siehe das gerade zurückliegende Massaker im Gaza-Streifen) international immer mehr isolieren und an Ansehen in der Welt verlieren. Das werden auch die meisten Deutschen begreifen. Die Umfragen in Deutschland und anderen EU-Ländern gehen ja genau in diese Richtung.

MM: Welche Mitschuld trägt Deutschland an dem Leid der Palästinenser und der jahrzehntelangen Besatzung?

Arn Strohmeyer: Die Mitschuld der deutschen Politik am Leiden der Palästinenser ist riesig. Deutschland hat Israel schon ab 1952 mit Waffen beliefert, die natürlich immer auch gegen diese Menschen eingesetzt wurden. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen erfolgte erst 1965. Die Waffenlieferungen nahmen immer größere Ausmaße an (man denke nur an die atomar bewaffneten U-Boote!). Auch sonst war und ist die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit sehr eng, was ja bedeutet, dass Deutschland Israel in jeder Beziehung stärkt, was aber immer zum Nachteil der Palästinenser ist.

MM: ...aber hilft Deutschland nicht auch den Palästinensern, wenn auch im geringeren Maß?

Arn Strohmeyer: Für die Palästinenser tut Deutschland, außer ein paar Almosen für die Palästinensische Autonomie-Behörde zu geben und ein paar kleine Entwicklungsprojekte zu unterstützen, so gut wie nichts. Und wenn Israel letztere wieder zerstört – wie den Gaza-Flughafen – erfolgt noch nicht mal eine Beschwerde. Die Unterstützung Israels ist deutsche „Staatsräson“ (Merkel), d.h. aber auch: die Unterstützung Israels etabliert und festigt die israelische Besatzung und den israelischen Siedlerkolonialismus. Deutschland unterstützt also direkt oder indirekt die Unterdrückung der Palästinenser und die aggressive und völkerrechtswidrige Expansions- und Besatzungspolitik dieses Staates. Es ist damit an dem Leid der Palästinenser ursächlich beteiligt. Ohne den Holocaust gäbe es vermutlich keinen Staat Israel – und ohne die Vertreibung der Palästinenser 1948 und später auch nicht. Die Palästinenser sind also die „Opfer der Opfer“. Deutschland lädt also gegenüber diesem Volk eine schwere Schuld auf sich. Und da Israel mit seiner gegenwärtigen Politik keine Zukunftsperspektive hat, droht Deutschland sich mit seiner verfehlten Politik gegenüber Israel auch ein weiteres Mal an Juden schuldig zu machen.

MM: Angesichts des Ist-Zustandes verzweifeln viele und sehen keinen Ausweg mehr. Sie glauben dass entweder der Siedlerkolonialismus siegen wird (wie in den USA und Australien) oder die Siedler vertreiben werden (wie in Algerien). Warum ist die Zwischenlösung, dass beide in Frieden miteinander eine neue Zukunft gestaltetn (wie in Südafrika) so schwer bei Israel?

Arn Strohmeyer: Eine Lösung kann nur von den Israelis kommen. Sie haben in jeder Beziehung die Übermacht. Die Palästinenser haben sich bereit erklärt, auf 78 Prozent Palästinas zu verzichten und auf den restlichen 22 Prozent (Westjordanland und Gazastreifen) ihren Staat zu gründen. Die Arabische Liga hat einen Friedensplan gleichen Inhalts vorgebracht. Aber Israel lehnt ab und ist dabei, auch noch diese restlichen 22 Prozent zu okkupieren. Ich kann für die Nicht-Friedensbereitschaft der Israelis hauptsächlich psychologische Gründe ausmachen – bei dieser Argumentation berufe ich mich auf den israelischen Historiker Ilan Pappe, der die Mentalität seiner Landsleute natürlich genau kennt. Er sagt, dass sich die israelischen Juden als die ultimative Opfer der Geschichte empfinden. Sie üben deshalb in ihrer Sicht niemals Gewalt oder Terror aus, das tun nur die „anderen“ – die Araber bzw. die Palästinenser. Deshalb sind sie nicht in der Lage, die Palästinenser als Opfer ihrer eigenen Gewalt anzuerkennen. Der Schritt, die eigene Täterrolle und die „anderen“ als Opfer anzuerkennen, ist für die Israelis ein unüberwindbares psychologisches Hindernis, ruft größte Ängste hervor und stellt sogar die zionistische Identität in Frage. So weit Ilan Pappe. Mit einer solchen Einstellung – vor allem der Unfähigkeit, die Leiden der „anderen“ anzuerkennen – kann man natürlich keinen Frieden schließen. Aber ich bin natürlich völlig überfragt zu sagen, wie man die Israelis zu einer humaneren Einstellung bringen könnte.

MM: In Ihren letzten Büchern zum Thema "Das unheilvolle Dreieck. Deutschland, Israel und die Palästinenser" und "Wer rettet Israel - Ein Staat am Scheideweg" haben Sie das Thema bereits umfassend erarbeitet. Wie wollen Sie sich in Zukunft für der Region einsetzen?

Arn Strohmeyer: Ich werde weiter schreiben und Vorträge halten – in der Hoffnung, dass die Menschen die Realitäten in Israel und Palästina so zur Kenntnis nehmen, wie sie wirklich sind und sich nicht in einen verlogenen Philosemitismus flüchten, der die Realität total verstellt. Der israelische Publizist Simcha Flapan hat über sein Land und dessen Geschichte einmal gesagt: Wenn die Klischees und falschen Mythen ihren Platz im Denken weiter behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich. Man müsse die Mythen entkräften, nur so könne es Frieden in dieser Region geben. Ich versuche, dazu einen kleinen Beitrag zu leisten. Aber ich mache mir da nichts vor. Der Einfluss von Journalisten und Autoren ist sehr gering. Ich überschätze da meine Möglichkeiten nicht.

MM: Herr Strohmeyer, wir danken für das Interview.

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