MM: Sehr geehrter Herr Hofbauer, Sie werden
der antiimperialistischen Linken zugerechnet, was als besonderes Merkmal
gilt. Müssten nicht 99% der Menschen antiimperialistisch eingestellt
sein, wenn sie die Interessen der Menschheit im Auge hätten?
Hofbauer: Man kann den Begriff
„Imperialismus“ wissenschaftlich herleiten, was ich an dieser Stelle –
keine Angst – nicht vorhabe. Im Kern umschreibt er durch die
kapitalistische Wirtschaftsweise entstandene weltweite Ungleichheiten. Jeder kann beobachten, dass die Ungleichheiten zunehmen,
allein das Ansteigen der Migrationsbewegungen beweist dies. Um die Frage
konkret zu beantworten: Ja, ihren sozialen und gesellschaftlichen
Interessen entsprechend müsste die übergroße Mehrheit der Menschen
antiimperialistisch eingestellt sein. Sie profitiert nicht davon, dass
z.B. ungleiche Tauschverhältnisse, Land Grabbing oder die Kreditpolitik
internationaler Finanzorganisationen das Geld in die Hände einiger
großer Industrie- und Agrarkonzerne oder Banken spült.
MM: Der Kapitalismus - so ist zumindest
die muslimische Vorstellung - ist von Natur aus imperialistisch und
zerstörerisch. Warum ist er dennoch so erfolgreich gewesen?
Hofbauer: Die Frage tangiert die
Herkunft dieser auf Akkumulation und Ausbeutung basierenden
Wirtschaftsweise. Ob der Kapitalismus einem Kulturkreis zuordenbar ist,
darüber streiten sich große Geister seit Jahrhunderten. Max Webers
Analyse über die protestantische Ethik, die durch Individualisierung
gesellschaftliche Zusammenhänge atomisiert, was im (neo)klassischen
Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ gipfelt, ist dabei
hilfreich, greift aber zu kurz. Und vor allem erklärt sie nicht, wie es
über Jahrhunderte gelingen konnte, die kapitalistische Wirtschaftsweise
so gut wie allen Kulturen und Religionen überzustülpen. Es sieht so aus,
als ob der andauernde Erfolg des Kapitalismus nicht rein ökonomisch
erklärt werden kann, sondern auch den politischen und medialen
Herrschaftsverhältnissen zuzuschreiben ist. Politik und Medien sind vom
Geld – und damit vom Geist – einer zerstörerischen Kraft durchdrungen.
MM: Aktuell wird mit TTIP und ähnlichen
Konstrukten ein neues Kapitel der Ausbeutung vorangetrieben, wobei diese
Mal nicht die fernen Afrikaner und Asiaten ausgebeutet werden sollen,
sondern wir Europäer. Warum ist der Widerstand unter den Volksvertretern
dennoch eher verhalten?
Hofbauer: Vom Volk gewählte Vertreter,
das muss man leider sagen, vertreten längst nicht mehr das Volk; und es
wird immer schlimmer. Das beginnt schon bei der politischen Struktur.
Sehen wir uns nur kurz die Europäische Union an. Dort regiert eine
Kommission, die zwar erstmals 2014 zur Wahl stand, aber ohne den EU-Rat
nicht nominiert werden kann. Der EU-Rat wiederum setzt sich aus den
entsprechenden nationalen Ministerpräsidenten und Präsidenten zusammen.
Diese sind aber mitnichten in den einzelnen Ländern dafür gewählt, dass
sie auf supranationaler EU-Ebene eine Regierung zusammenstellen. Aus
nationaler Exekutive – oder „Dienern“, wie die deutsche Übersetzung des
lateinischen „Minister“ heißt – wird eine EU-Legislative. Zwischen
Volkswahlen und der von den Gewählten betriebenen Politik entsteht somit
sehr viel Platz für Global Player, die ihre Interessen durchsetzen
können. Dabei sollte man gar nicht von Lobbyismus sprechen, denn die
Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen findet nicht in der Vorhalle
(„Lobby“) statt, sondern vielfach in so genannten Think Tanks wie dem „Council
on Foreign Relations“ oder der „Trilateralen Kommission“.
Was das Transatlantikabkommen TTIP betrifft, so
soll es einerseits durch eine Harmonisierung wirtschaftlicher (und nicht
sozialer!) Regeln den Markt für jene Konzernriesen vergrößern, die nach
neuen Verwertungsmöglichkeiten suchen, und andererseits diese dann
liberalisierten Verhältnisse rechtlich absichern. Dazu nimmt man sich
schon vorhandene Investitionsschutzabkommen zum Vorbild, die ein
eigenes, außer-staatliches Recht neben dem Recht geschaffen haben.
Konzerne, die sich durch politische Maßnahmen wie ökologische oder
soziale Gesetze in ihrem Profit beeinträchtigt sehen, können an einer
eigens bei der Weltbank in Washington eingerichteten Stelle auf
Entschädigung klagen. Das ist, streng genommen, bereits das Ende von
Politik.
MM: Geld regiert die Welt hieß es. Heute
müsste man hinzufügen; künstliches herbei gezaubertes Geld regiert die
Welt. Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, dass dieser Grundleitsatz
des kapitalistischen Imperialismus wirkungslos wird, ohne in
unerreichbare Denkmodelle zu verfallen?
Hofbauer: Vorneweg: Ich glaube nicht,
dass es so etwas wie gutes und schlechtes Kapital gibt. Kapital hat die
– seiner Bestimmung nach – zwangsläufige Tendenz, dort zu investieren
und auf der Suche nach Verwertung zu sein, wo es am profitabelsten ist.
Nach einem Krieg wird fleißig wieder aufgebaut; wenn der Markt dafür an
einer Stelle gesättigt ist, wird expandiert; wenn auch dort nichts mehr
zu holen ist, fängt Kapital verstärkt zu spekulieren an; Blasen bilden
sich, platzen; und wir können gerade beobachten, wie die stärkste
Militärmacht der Welt – die USA – unter ihrem militärisch-industriellen
Komplex immer neue Kriege entfacht, um weiter daran zu profitieren.
Zum Thema „unerreichbare Denkmodelle“: Das
liberale Credo vom Wohlstand für alle, die sich an den kapitalistischen
Spielregeln beteiligen, hat sich als unerreichbar entpuppt. Also müssen
wir nach Erreichbarerem Ausschau halten. Dabei ist vieles möglich, was
noch vor kurzem „unerreichbar“ schien. Denken wir nur an den
Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/91, den fünf Jahre vorher niemand als
realistisch eingeschätzt hätte; oder an die Attraktionskraft des
muslimischen Glaubens für junge Leute, die auch vor 20 Jahren kaum
jemand so vorausgesagt hätte. In diesem Sinne bin ich optimistisch:
Revolution ist möglich. Ob sie allerdings, wie der Wortstamm sagt, das
Gute oder das Böse von unten nach oben spült, bleibt abzuwarten.
MM: Es liegt auf der Hand, dass eine
Wirtschaft für den Menschen da zu sein hat und nicht umgekehrt. Wie aber
kann man das einer Bevölkerung erläutern, der es im Weltvergleich
relativ gut geht?
Hofbauer: Das ist – für uns in
Deutschland oder Österreich – eine sehr wichtige Frage. Denn von hier
aus sieht es keineswegs so aus, als ob 99% der Bevölkerung gegen den
Imperialismus wären. Viele profitieren von den kapitalistischen
Ausbeutungsstrukturen in peripheren Ländern. Allein die extremen
Lohnunterschiede gewährleisten im Zentrum Westeuropas billige Versorgung
mit Lebensmittel rund um den Jahreszyklus (aus Afrika oder China) und
mit fast allen anderen Konsumartikeln (vornehmlich aus Südostasien). Zur
Frage konkret: Der moralische Appell ist hilfreich und notwendig,
ausreichen wird er nicht. Eine ökologische Bestandsaufnahme braucht es
ebenso; die zeigt, dass es so ohnedies nicht weitergehen kann. Wir leben zu
schnell, arbeiten wie wild, verbrauchen zu viel Energie und haben –
Glück und Zufriedenheit betreffend – wenig davon. Diese Erkenntnis
müsste sich als sozio-ökonomische Vernunft breit machen. Vernünftig ist
ja allemal, schön und ausgeglichen zu leben und nicht hektisch.
MM: Das haben die Religionen
bis heute mehrheitlich nicht geschafft und die Vernunft des Menschen
auch nicht. Im Heiligen Quran sind es ausgerechnet die Engel, die in
ihrer weisen Voraussicht den Schöpfer fragen: "Errichtest Du auf ihr
(der Erde) jemanden, der auf ihr Verderbnis stiftet und Blut vergießen
wird .... Er sagte: Ich, ich weiß, was ihr nicht wisst?" Das Problem
ist, dass bis heute offenbar kaum jemand weiß, wie diese zerstörerische
Ader des Menschen überwunden werden kann, denn schließlich haben
Revolutionen in der Weltgeschichte auch noch keine ernsthafte Abkehr vom
Kapitalismus bewirkt. Oder anders ausgedrückt: Wie konkret soll sich
sozio-ökonomische Vernunft breit machen?
Hofbauer: Abstrakt gesprochen, bedarf es dazu sowohl eines
gesellschaftlichen Lernprozesses als auch der entsprechenden Umsetzung
des dann Gelernten. Diese Umsetzung wiederum geht nicht, ohne dass die
Machtfrage gestellt wird. Damit meine ich nicht nur eine – vielleicht
oberflächliche – politische Macht, sondern ebenso die Deutungshoheit
über ökonomisch sinnvolles und kulturell erfüllendes Dasein. Das „gute
Leben“, wie globalisierungskritische Aktivisten zuletzt einen einfachen,
für jeden und jede verständlichen Slogan kreiert haben, braucht vieles
nicht, was heute von Politik und Medien als alternativlos dargestellt
wird. Andererseits liegt in der Einfachheit des Slogans auch die Gefahr,
dass sich jeder darunter das vorstellen kann, was ihm gerade in den Sinn
kommt. Zur allgemeinen sozio-ökonomischen Vernunft ist es, geht man von
den aktuellen Kräfteverhältnissen aus, wie man sieht noch ein weiter
Weg.
MM: In ihrem Verlag erscheinen Bücher
unter anderem von Noam Chomsky, Fritz Edlinger und Petra Wild, die alle
als Israelkritisch gelten. Wenn ein antiimperialistischer Antikapitalist
auch noch israelkritische Bücher verlegt, dann ist der
Antisemitismusvorwurf nicht weit. Wie gehen sie damit um?
Hofbauer: Mit Vorwürfen muss man als
kritischer Mensch und Verleger leben. Wenn sie aus der Luft gegriffen
sind, tangieren sie einen persönlich nicht besonders. Und der Vorwurf
des Antisemitismus unsere Bücher betreffend ist völlig aus der Luft
gegriffen. Er erklärt sich ausschließlich im Zusammenhang mit der
aktuellen israelischen Politik, die jedem, der Israel kritisiert, mit
der Antisemitismus-Keule kommt. Diese Politik tut auch der jüdischen
Sache nicht gut, weil sie den Antisemitismusvorwurf dermaßen inflationär
gebraucht, dass er dort, wo er zutrifft, auch nicht mehr ernst genommen
wird.
MM: Gibt es denn Ihrer Ansicht nach
einen Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus der westlichen Welt und dem
zionistischen Kolonialismus, der über die Tatsache hinausgeht, dass der
Zionismus von der westlichen Welt nahezu uneingeschränkt unterstützt
wird?
Hofbauer: Kolonialismus ist ein
ausbeuterisches System: Er beruht u.a. auf einer rassistischen
Grundhaltung, nach der es wertvollere und weniger wertvolle Menschen
gibt. Er ist von seiner Natur her expansiv und stellt die eigene Nation
über jene der Kolonisierten. Der Zionismus in seiner ursprünglichen Form
war – dem Zeitgeist zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschuldet – eine
jüdisch-nationale Hoffnung, dem weit verbreiteten Antisemitismus durch
eine eigene Staatlichkeit zu entfliehen. In die heutige israelische
Staatsform gegossen, sieht er eher wie eine spezielle Spielart des
Kolonialismus aus.
MM: In Deutschland und Österreich gibt
es staatlich verordnete Wahrheiten, die ohne Protest der Intellektuellen
hingenommen werden. Solch eine Unterwürfigkeit ist sonst von nur wenigen
Ländern bekannt. Was unterscheidet die deutschsprachigen Intellektuellen
von ihren französischen, englischen oder südländischen Kollegen?
Hofbauer: Um diese Frage zu beantworten,
müsste ich ein wenig ausholen. Sie spielen auf so genannte
Erinnerungsgesetze an, die z.B. Leugnung von Völkermorden oder
Kriegsverbrechen generell unter Strafe stellen. Meine Kritik daran
besteht darin, dass damit die Rechtsprechung zur Verkünderin
historischer Wahrheiten wird. Jede weitere Debatte steht dann unter
Strafandrohung. Historische Ereignisse, die auf diese Weise tabuisiert
werden, reichen von der armenischen Tragödie über den Holodomor in der
Ukraine und den Massenmord in Srebrenica bis zu den Kämpfen in Darfur.
Ich denke, eine wirkliche Aufarbeitung von Schreckenstaten kann nicht
unter Strafandrohung erfolgen. Und da unterscheiden sich Frankreich,
Deutschland, die Ukraine oder die Türkei nicht wesentlich voneinander.
MM: An welchem neuen größeren Projekt
arbeiten Sie aktuell?
Hofbauer: Die vergangenen eineinhalb
Jahre hab ich mich, so oft ich dafür Zeit hatte, mit Russland
beschäftigt, genauer: mit dem neu aufgetauchten Feindbild Russland, das
im Westen wieder en vogue ist. Ich versuche, das in einen historischen
Kontext zu stellen.
MM: Viele Erfolg dabei. Herr Hofbauer,
wir danken für das Interview. |