Eines der großen
gesellschaftlichen und kulturellen Ereignisse dieser Tage ist die
Veröffentlichung eines Briefes von Imam Khamenei, dem Statthalter der
Befehlsgewalt der Muslime auf der Welt. Es handelt sich um den zweiten
Brief seiner Exzellenz an die Jugend im Westen innerhalb eines Jahres,
nachdem im Januar sein erster Brief an die Jugend in Europa und
Nordamerika erfolgte. Aus diesem Anlass führte Ayatollah Dr.
Reza Ramezani, Leiter der Islamisch-Europäischen Union der
Schia-Gelehrten und Theologen (IEUS) und Vorsitzender des Gelehrtenrates
der Islamischen Gemeinschaft der Schiitischen Gemeinden in Deutschland (IGS),
mit den Redaktionen von „Muslim-TV.de
und Muslim-Markt“ und „Islamisches-Erwachen.de“
ein gemeinsames Interview, um die verschiedenen Aspekte dieses Briefes
besser zu erläutern.
MM: Zunächst einmal bedanken wir uns für
die Gelegenheit, die Sie uns eingeräumt haben, um mit Ihnen über den
zweiten Brief seiner Exzellenz Imam Khamenei an die Jugend im Westen zu
sprechen. Zieht man in Betracht, dass Sie seit ungefähr einem Jahrzehnt
in Europa leben und verschiedene europäische Staaten besuchten, würden
wir gerne wissen, wie Sie den allgemeinen Seelenzustand der hiesigen
Jugend einstufen. Denken Sie, dass die Jugend im Westen bereit für einen
neuen Brief war?
Ayatollah Dr. Ramezani: Auch ich bedanke
mich bei Ihnen für die Möglichkeit mit Ihnen über dieses Thema sprechen
zu dürfen. Wie Sie wissen, ist das aktuelle Stimmungsbild in Europa
aufgrund der aktuellen Ereignisse nicht besonders. In einigen Regionen
herrscht ein Ausnahmezustand. Auf der einen Seite sind die Menschen mit
den Flüchtlingsströmen aus Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan oder
Jemen konfrontiert und können aus nächster Nähe ihr Leid beobachten. Auf
der anderen Seite sind sie traurige Zeugen von terroristischen
Anschlägen, die im voraus professionell organisiert und von
extremistischen Gruppierungen ausgeführt wurden. Unweigerlich stellen
sich der Jugend Fragen über die Ursachen und Gründe. Sie wollen
zusehends unabhängig von der medialen Propaganda ehrliche Antworten auf
ihre Fragen bekommen und sind ernsthaft an Lösungen zur Überwindung
dieses gemeinsamen Schmerzes interessiert. Somit herrscht ein
angemessenes Klima zum Dialog und Gedankenaustausch, gleichwohl einige
Medien auf Basis von festen Feindbildern und Vorurteilen bestrebt sind
falsche Analysen und Nachrichten über die Ereignisse zu präsentieren, um
das allgemeine Stimmungsbild in Richtung einer im voraus vorgesehenen
Position zu manipulieren.
Die Jugend macht sich Sorgen um ihre Zukunft.
Die Vorstellung von einem Leben in Sicherheit fernab des Leids und
Terrors in anderen Weltregionen existiert durch den organisierten
Terrorismus und extremistischen Gruppierungen nicht mehr. Sie haben auch
allen Grund zur Sorge, da sie täglich von diesen Fanatikern Drohungen
erhalten, die von Mord und Totschlag sprechen und eines Tages, Gott
bewahre, Wirklichkeit werden könnten. Dass in Hannover ein Länderspiel
im Fußball aufgrund einer Drohung abgesagt wird, zeugt von dem Klima der
Angst, welches hier vorherrscht und die Lebenswirklichkeit der Menschen
in Europa erreicht hat. Durch die Rückkehr von einst exportierten
Terroristen nach Europa, die in Syrien und Irak für unzählige Verbrechen
verantwortlich sind, erhalten jene Gefühle des Misstrauens und der Angst
zusätzlichen Antrieb.
MM: Wie bewerten Sie den zeitlichen
Abstand zwischen beiden Briefen? War dieser im voraus so eingeplant
gewesen?
Ayatollah Dr. Ramezani: Meine persönliche
Einschätzung ist, dass seine Exzellenz Imam Khamenei als ein Lehrer und
Erzieher auf internationaler Ebene in dieser komplizierten und sich im
Wandel befindenden Welt einen kontinuierlichen Plan zur Erziehung der
heutigen Jugend und speziell der Jugend im Westen verfolgt. In diesem
Sinne ist eine Erhöhung der Gesprächsforen und Kanäle sinnvoll und
einleuchtend. In der göttlichen Ideologie besteht kein Unterschied
zwischen einem Menschen im Westen oder im Osten. Das Recht auf
Rechtleitung besteht für jeden Menschen und jedem Menschen müssen die
göttlichen Beweise vorgestellt werden. Es ist natürlich, dass durch
Ereignisse wie den blinden Terrorismus in Frankreich eine angemessene
Atmosphäre entsteht, um einen Dialog zu führen und Lösungsansätze zu
erarbeiten.
Die Menschen in Europa können nun besser
nachvollziehen, welches Leid muslimische Völker seit langen Jahren und
insbesondere im letzten Jahrzehnt erleiden mussten. Die Menschen sind
bereit neue Worte zu hören, um echte Lösungen für die gemeinsamen
Probleme zu finden, die fern von den standardisierten und alten Analysen
und Feindbildern sind, die seitens einiger Medien und Politiker im
Westen stets skizziert werden. Wird nach diesen neuen Worten verlangt,
ist eine Passivität und Abwiegelung in der Kultur der islamischen
Statthalterschaft unangemessen. In diesem Lichte hat Imam Khamenei als
ein religiöser Reformer und menschlicher Friedensstifter, dem sogar das
Wohl von Atheisten am Herzen liegt, auf globaler Ebene und den gegebenen
Umständen im Westen diesen Brief an die Jugend verfasst. Allerdings ist
dieser zweite Brief eine Fortsetzung und Vervollständigung des ersten
Briefes seiner Exzellenz an die Jugend im Westen, an dem
wissenschaftlich noch zahlreiche Forschungen und Analysen zu tätigen
sind, gleichwohl bereits einiges in dieser Richtung unternommen wurde.
MM: Welche Ähnlichkeiten und
Unterschiede können Sie zwischen den beiden Briefen erkennen?
Ayatollah Dr. Ramezani: Beide Briefe wurden
von einem großen Reformer und Friedensstifter an die Jugend im Westen
geschrieben. Beide zeichnen sich durch Vernunft und Ehrlichkeit aus und
sind sowohl direkt, als auch freundschaftlich verfasst. Der Verfasser
des Briefes ist bestrebt seine Botschaften durch eine besondere
Bescheidenheit und Demut, welche eine Eigenschaft von göttlichen
Menschen ist, an die Empfänger seines Briefes zu übermitteln.
Beide Briefe wurden anlässlich aktueller
Ereignisse und Erfahrungen verfasst. Anschließend werden die
aufgekommenen Fragen thematisiert, um den Verstand und die Herzen der
Empfänger zu wecken. Es wird auf ähnliche Vorfälle in anderen Regionen
verwiesen, um die Doppelstandards der westlichen Politik aufzuzeigen. In
beiden Briefen werden historische und logische Analysen dargeboten, die
die Jugend dazu einladen über eine bessere und sicherere Zukunft
nachzudenken und daran zu arbeiten.
Gleichwohl ist der erste Brief eine Einladung
zum Studium und der direkten Bekanntschaft mit dem Islam. Der zweite
Brief wirft auf Basis der vorangegangenen Angelegenheiten im ersten
Brief sowie den Geschehnissen im Westen neue Themen auf. So wird der
Terrorismus als gemeinsamer Schmerz aller Völker benannt, für dessen
Bewältigung gemeinsame Lösungen erarbeitet werden müssen. Als
eigentliche Ursache für den Terrorismus und seiner Verbreitung wird die
Widersprüchlichkeit der westlichen Politik und ihre Doppelstandards
benannt. Weiterhin wird die Korrektur der gewaltverherrlichenden Kultur
im Westen und ihrer internationalen Politik als Hauptpfeiler zur
Entstehung der Sicherheit für die Menschen aufgeführt. Ein
beiderseitiger Dialog auf Augenhöhe zwischen den Völkern wird als eine
gute Angelegenheit bezeichnet, die angestrebt werden sollte, wohingegen
aufgezwungene Beziehungen mit dem Ziel der kulturellen Gleichschaltung
entgegen dem Gedanken der Völkerverständigung und des gegenseitigen
Respekts charakterisiert werden. Der ungerechte Umgang mit den Muslimen
im Westen sei ein großer Fehler, der schädlich für die Gesellschaften im
Westen ist. Darüber hinaus wird eine Beziehung gekennzeichnet durch
gegenseitigen Respekt und Anerkennung zur Islamischen Welt als weiterer
Punkt zum Erhalt einer besseren Zukunft in diesem zweiten Brief
aufgeführt.
MM: Wie würden Sie die eben von Ihnen
aufgeführten Inhalte des zweiten Briefes analysieren?
Ayatollah Dr. Ramezani: Unserer Meinung
nach greift Imam Khamenei durch seine beiden Briefe an die Jugend im
Westen direkt in das Geschehen ein, um einer großen globalen Berufung
nachzukommen. Ihm obliegt diese historische Verantwortung einen Konsens
zwischen den Völkern dieser Erde auf Basis der Vernunft und
Spiritualität zu schaffen. In diesem Sinne ist der Geist des Briefes
eine Einladung zur Besinnung und dem Dialog auf Augenhöhe. Der Verfasser
weißt noch einmal auf die Notwendigkeit der Gerechtigkeit hin und
verurteilt jedes ungerechte und diskriminierende Verhalten. Entsprechend
sind die Schlüsselbegriffe des zweiten Briefes von großer Bedeutung. So
wird an einer Stelle der intime Bund zwischen dem Westen und den
offenkundigen Unterstützern des takfiristischen
[1] Terrorismus, trotz
ihrer rückständigsten politischen Systeme, scharf kritisiert. An einer
anderen Stelle wird der doppelzüngige Umgang des Westens mit der
Bewegung des Islamischen Erwachens in der Islamischen Welt angeprangert.
Zusätzlich wird die Unterstützung für den
Staatsterrorismus gegen die unterdrückten Palästinenser gebrandmarkt.
Weiterhin wird von den humanen, wirtschaftlichen und industriellen
Verlusten anderer Staaten durch Aggressionen des Westens gesprochen, die
sie in ihrer Entwicklung behinderten und um Jahrzehnte zurückwarfen.
Überdies wird die Irreführung der Menschen hinsichtlich der wahren
Geschehnisse auf der Welt sowie die Ausschmückung der eigentlichen
teuflischen Ziele des Westens entschieden verurteilt. Dass bewusst ein
Klima erzeugt wird, in dem die Muslime unter Generalverdacht gestellt
werden, wird als ein Unrecht an den Pranger gestellt, welches auf die
Unterdrücker zurückfallen wird und zusätzlich als ein Faktor aufgezählt,
der zur Verbreitung der Unsicherheit führt.
Unserer Meinung nach greift Imam Khamenei durch
seine beiden Briefe an die Jugend im Westen direkt in das Geschehen ein,
um einer großen globalen Berufung nachzukommen. Ihm obliegt diese
historische Verantwortung einen Konsens zwischen den Völkern dieser Erde
auf Basis der Vernunft und Spiritualität zu schaffen.
All diese Thematiken sind allerdings äußerst
bedeutend und wichtig, über die man ehrlich und aufrichtig mit den
Menschen auf der Welt reden muss. Gewiss handelt aber einer der
elementarsten Punkte dieses Briefes über die aggressive kulturelle
Politik des Westens, welche als sanfte Aggression bezeichnet wird. Was
als Gleichschaltung der globalen Kulturen aufgeworfen wird, ist äußerst
gefährlich und schädigend. Eine solche Ideologie ist gekennzeichnet
durch Unterdrückung, moralische Zügellosigkeit und Sinnentleerung. Sie
kann die menschliche Gesellschaft nicht zu einem bleibenden Frieden und
Glück führen. Abschließend ruft seine Exzellenz Imam Khamenei dazu auf
die Gräben zu füllen, anstatt sie noch weiter zu vertiefen und fordert
von der Jugend im Westen die oberflächlichen Schichten ihrer
Gesellschaft zu durchbrechen und unter Gebrauch der bitteren Erfahrungen
das Fundament eines gesunden und achtbaren Austauschs mit der
Islamischen Welt zu legen. Auf dass wieder die Hoffnung für die Zukunft
in der Menschheit zum Leben erweckt und der Traum einer allgemeinen
Sicherheit für alle Menschen Wirklichkeit werden mögen.
MM: Welche Schritte haben die
Islamischen Zentren in Europa zur Verbreitung des ersten und zweiten
Briefes bisher unternommen?
Ayatollah Dr. Ramezani: Grundsätzlich
obliegt den islamischen Zentren in Europa die Aufgabe die reinen
göttlichen Botschaften, die im Besonderen im heiligen Qur’an und der
Ahl-ul-Bayt (a.) offenbart wurden, der Gesellschaft auf richtige Art und
Weise vorzustellen. Dies ist unsere natürliche und ständige Aufgabe in
allen Angelegenheiten, an denen es keine Abstriche gibt. Hinsichtlich
der Briefe seiner Exzellenz gab es auf Basis der uns erreichten Berichte
gute Aktivitäten bei ihrer Verbreitung. So wurden u.a. Konferenzen und
Symposien in Berlin und Frankfurt organisiert, die gut besucht waren.
Auch fanden in Dutzenden Städten Verteilungsaktionen statt, an denen die
Briefe von jungen muslimischen Aktivisten an Universitäten, Stadtzentren
und anderen Orten verteilt wurden. Weiterhin gab es diverse Projekte im
Internet, die die Briefe thematisierten.
MM: Wir bedanken uns herzlich für die
Bereitstellung Ihrer Zeit, um dieses Interview mit Ihnen führen zu
dürfen. Möchten Sie abschließend noch etwas sagen?
Ayatollah Dr. Ramezani: Aus unserer Sicht
ist der geliebte Islam heilsbringend. Seine hauptsächlichen Faktoren
sind die Sicherheit, Gerechtigkeit, Spiritualität, Moral, Vernunft und
Ausgeglichenheit auf Basis der göttlichen Gnade. Es erscheint notwendig,
dass auf Basis der aufgeführten Faktoren das Fundament einer neuen
globalen Ordnung gelegt werden muss. Wir können eindeutig bezeugen, dass
die aktuelle Ordnung, die einige große Mächte auf Basis des
Imperialismus und gegossen in neuen Formen geschaffen haben, weder
passende Antworten auf die heutigen Bedürfnisse der Welt liefern, noch
an und für sich geeignet sind. Dies ist eine Wahrheit, die die Menschen
zu einem genauen Nachdenken auffordert. Der Brief Imam Khameneis ist
eine Einladung entsprechend diesem Sinne.
Es liegt auf der Hand, dass man zur Überwindung
dieser globalen Krisen zu den goldenen Regeln der Religion zurückkehren
muss.
Die große Katastrophe in unserer heutigen Welt
ist, dass durch falsche Definitionen über das Wesen des Menschen, die
Lehren der abrahamitischen Religionen mit einem säkularen Anstrich in
den westlichen Gesellschaften zusehends an Bedeutung verlieren. Dies hat
dazu geführt, dass die wahren Bedürfnisse des Menschen in verschiedenen
Ebenen unberücksichtigt und unbeantwortet bleiben, welche Stück für
Stück seelische, spirituelle und moralische Krisen hervorrufen.
Es liegt auf der Hand, dass man zur Überwindung
dieser globalen Krisen zu den goldenen Regeln der Religion zurückkehren
muss. Heutzutage ist es ersichtlich, dass man die realen Bedürfnisse des
Menschen nicht mit surrealen Antworten befriedigen kann. Man kann
eindeutig erkennen, dass die bisher erbrachten Methoden diese Krisen
noch verschlimmert haben, sodass es in ihrem Rahmen unmöglich ist die
Sicherheit zu gewährleisten und diese Angelegenheiten zu verwalten.
Unserer Meinung nach ist die Zeit gekommen, um Strategien für den
Menschen zu erarbeiten, die einen Ausweg aus diesen Sorgen, Depressionen
und dieser Identitätslosigkeit und Unsicherheit aufzeigen. Diese
Strategien müssen zur wahren Selbsterkenntnis führen, damit wahrer
Frieden und tatsächliche Aussöhnung mit sich selbst, mit anderen und mit
dem lieben Gott erfolgen kann.
Zur Verwirklichung von Frieden und
Gerechtigkeit, welche alle vernünftigen Menschen auf der Welt wollen,
muss die Würde des Menschen in allen Aspekten geachtet und geschützt
werden.
Zur Verwirklichung von Frieden und
Gerechtigkeit, welche alle vernünftigen Menschen auf der Welt wollen,
muss die Würde des Menschen in allen Aspekten geachtet und geschützt
werden. Die Herrscher dieser Welt müssen die Volkswillen bei der
Gestaltung ihrer eigenen Zukunft akzeptieren und anerkennen. Sie müssen
auf Basis eines gemeinsamen und friedvollen Miteinanders der Menschen
von der Ausübung jeglicher rassistischer und diskriminierender Maßnahmen
in der Gesellschaft Abstand nehmen. Ansonsten gibt es keinen anderen
Weg, um eine moralische Herrschaft zu erhalten und den süßen Geschmack
eines friedlichen Lebens zu kosten. Gemäß unserer Auffassung ist der
erste Schritt dahingehend die Aufklärung über die wahren Geschehnisse in
dieser Welt und ihr Vergleich mit dem optimalen Zustand, der unter
Wahrung der menschlichen Würde erreichbar ist. Auch ich bedanke mich
herzlichst bei Ihnen und hoffe, dass Sie Ihrer medialen Verantwortung
auf korrekte Art und Weise gerecht werden mögen. Der Friede und Segen
Gottes seien mit Ihnen.
[1] Anm.: „Takfirismus“ bezeichnet die Ideologie,
die andersdenkende Menschen für ungläubig und vogelfrei erklärt. |