MM: Sehr geehrter Herr Vonnahme, erlauben
Sie, dass wir mit einer eher spaßigen Frage beginnen, da alle weiteren
Fragen eher ernster Natur sind: Wie kommt es, dass jemand, der in allen
Texten auf der Seite der Armen, der Unterdrückten, der Schwachen und
Hilfsbedürftigen in Deutschland und in der Welt steht ausgerechnet
Bayern-Fan ist?
Vonnahme: Ich weiß gar nicht, wie Sie
darauf kommen, dass ich Bayern-Fan bin. Ich bin weder Mitglied des
Vereins, noch besuche ich seine Spiele. Allerdings schaue ich mir die
Spiele des FCB gerne im Fernsehen an. Im Übrigen gelten im Sport eigene
Regeln, man muss nicht unbedingt auf der Seite der Schwachen stehen. Da
spielt auch Lokalpatriotismus eine Rolle sowie die Tatsache, dass sieben
Spieler des FCB in der deutschen Weltmeistermannschaft standen.
MM: Wir haben das vermutet, weil wir ein
Emblem auf Ihrer Facebook-Seite entdeckt haben. Nun aber zu dem
eigentlichen Thema. Seit wann schreiben Sie in der Öffentlichkeit und
was hat Sie zu ihren zahlreichen Artikeln, die leicht im Internet zu
finden sind, bewegt?
Vonnahme: Meinen ersten Artikel für eine
große Zeitung schrieb ich 2007 in der Frankfurter Rundschau. Anlass war
die aufkommende Diskussion, ob sich Deutschland wegen seiner
fürchterlichen Verbrechen am jüdischen Volk überhaupt kritisch zur
israelischen Politik äußern dürfe. Ich vertrat die Auffassung, dass sich
Deutschland nicht nur äußern dürfe, sondern dass es wegen seiner
historischen Schuld geradezu verpflichtet sei, seine Stimme zu erheben,
wenn Menschenrechte und das Völkerrecht verletzt würden. Wer in die Irre
gegangen ist, kann den rechten Weg am besten weisen. Gerade weil die
deutsche Politik immer die Freundschaft zu Israel betont, kann sie nicht
untätig zuschauen, wenn der Freund seinerseits schwere Fehler begeht,
die letztlich seine eigene Existenz gefährden. Schweigen ist nicht die
Lösung, sondern Ausdruck neuerlichen Versagens. Die Reaktion auf diesen
Aufsatz war außerordentlich positiv. In der Folgezeit wurde ich
wiederholt zu Vorträgen über diese Problematik eingeladen.
MM: Warum wollen Sie nicht Charlie sein?
Vonnahme: Ich will nicht Charlie sein,
weil sich hinter der Aussage „Je suis Charlie“ eine große Heuchelei
verbirgt. Man zeigt auf die Tat von zwei vermeintlichen Tätern
muslimischen Glaubens und vergisst die zahlreichen schweren Verbrechen,
die der Westen in den letzten Jahrzehnten gegenüber Muslimen begangen
hat. Ich sehe die Gefahr, dass durch die Masseninszenierung von Paris
und die unkritische mediale Begleitung neue Ressentiments gegen die
muslimische Bevölkerung hervorgerufen werden. Natürlich war es ein durch
nichts zu rechtfertigendes Verbrechen, die Redaktionsmitglieder der
Satirezeitschrift Charlie Hebdo zu ermorden. Es muss klar sein: Selbst
wenn die beiden von der Polizei erschossenen Muslime tatsächlich die
Täter gewesen sein sollten, dann hatten sie kein Recht zur Selbstjustiz.
Daran ändert nichts, dass die Zeitschrift den Propheten verächtlich
gemacht hat. Unsere Rechtsordnung kennt kein Recht auf Rache bei der
Verletzung religiöser Gefühle. In unserer kulturellen Überzeugung sind
nämlich nicht Glaubenssätze entscheidend, sondern das vom Staat gesetzte
Recht.
MM: ... das ist die rechtliche Seite ...
Vonnahme: Durch den Hinweis auf die
Rechtslage ist jedoch nicht alles gesagt. Es gibt auch eine moralische
Seite. Nach meiner Überzeugung sollte auch in einem freiheitlichen Staat
verletzende Schmähkritik am innersten Kern religiöser Überzeugungen
unterbleiben. Auch wenn ich persönlich religiösen Glaubensinhalten
zweifelnd gegenüberstehe, erweise ich ihnen meinen Respekt. Das haben
die Redakteure von Charlie Hebdo nicht beachtet, deshalb habe ich keine
Sympathie für sie. Ich lehne die Massenproteste von Paris aus einem
weiteren Grund ab. Sie lenkten nämlich den Blick einseitig auf
islamistische Verbrechen. Bei schwersten Verbrechen, die westliche
(christliche) Politiker begangen haben, gibt es bei uns nie
Massenaufläufe. Ich denke etwa an die völkerrechtswidrigen Kriege vom
Irak bis Syrien, an Abu Ghraib, Bagram, Guantanamo und an die illegalen
Drohnenmorde von Präsident Obama. Dahinter verbirgt sich eine
bedrückende Doppelmoral. Der demokratische Westen erweist sich damit
keinen Gefallen, er verliert nämlich zunehmend an Glaubwürdigkeit in
großen Teilen der Welt.
MM: Ist es Ihrer Meinung nach möglich
einen weiten Bogen zu spannen von Charlie über Syrien, Irak und Jemen
bis hin in die Ukraine?
Vonnahme: So unterschiedlich die
Konfliktursachen im Einzelnen auch sein mögen, so werden sie doch von
einer gemeinsamen Quelle gespeist. Spätestens seit Brzezinskis Buch von
1997 „Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ kennt
die Welt die Hegemoniebestrebungen der USA. Der Berater mehrerer
US-Präsidenten lieferte gewissermaßen das Drehbuch für die Kriege der
letzten Jahrzehnte. Es ist kein Zufall, dass der Militärhaushalt der USA
höher ist als die Militärausgaben von China, Russland, Großbritannien
und Frankreich zusammen. Ich empfinde es als große Heuchelei, dass viele
Kriege im Namen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte geführt
werden. Es ist unübersehbar ist, dass sie in Wirklichkeit aber nur der
Rohstoffsicherung und dem Ausbau strategischer Macht dienen. Leider
spielen auch europäische und arabische Staaten hierbei eine klägliche
Rolle.
MM: Es ist sicherlich keine Eigenheit
der Deutschen oder der Bürger in der Westlichen Welt, dass sie annehmen,
sie seien die Guten. Wie aber kann der Otto-Normal-Bürger verstehen,
dass er möglicherweise ein weniger gutes System stützt?
Vonnahme: Das ist ein schwieriges Thema.
Es hat mit der katastrophalen Situation Deutschlands nach den 2.
Weltkrieg zu tun. Viele Deutsche meiner Generation erinnern sich an die
Unterstützung der Vereinigten Staaten angesichts zerbombter Städte,
großer wirtschaftlicher Not und vieler Millionen Kriegerwitwen, Waisen
und Vertriebenen. Ich nenne beispielhaft die Wiederaufbauhilfe und die
Berliner Luftbrücke. Dieses Gefühl der Dankbarkeit prägt das Bewusstsein
bis heute. Leider wurden darüber die Verirrungen amerikanischer Politik
übersehen. Wer heute nach verlässlichen Maßstäben für die Abgrenzung von
Gut und Böse sucht, muss sich bemühen bei der Bewertung politischer
Vorgänge immer die gleichen Maßstäbe anzulegen. Beispiel: Wer heute
Russland mit Blick auf die Krim die Verletzung des Völkerrechts
vorwirft, ist unglaubwürdig, wenn er zu den schweren
Völkerrechtsverletzungen des Westens im Irak, in Libyen und in Syrien
geschwiegen hat. Wer islamistische Gewalttaten anklagt, darf zu
israelischen Gewaltexzessen nicht schweigen. Die Welt braucht eine
Kultur der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit.
MM: Eine Kultur der Gerechtigkeit und
Wahrhaftigkeit kann ja nicht vom Himmel fallen, wenn alle äußeren
Umstände dagegen sprechen. Glauben Sie, dass eine Kultur der
Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit möglich ist in einem System, in dem die
Banken mehr Hilfsgelder erhalten als die Spanier, Iren, Portugiesen und
Griechen zusammen, in dem Wachstum zur Staatsdoktrin wird und in dem
Gewinnmaximierung als höchster Wert angebetet wird?
Vonnahme: Das ist eine sehr berechtigte
Frage. Ein Wirtschaftssystem, das es zulässt, dass sich die Schere
zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, ist nicht gerecht. Erst
kürzlich konnte man in der Oxfam-Studie lesen, dass das Vermögen des
reichsten Prozents der Deutschen ebenso groß ist wie das von 80 Prozent
der Deutschen. Weltweit ist die Situation noch krasser: Das Vermögen der
80 reichsten Menschen hat sich zwischen 2009 und 2014 verdoppelt. Sie
besitzen heute genauso viel, wie die ärmeren 50 Prozent der
Weltbevölkerung zusammen. Das hat mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun.
Offensichtlich hat die Politik nicht mehr die Kraft, an diesem Skandal
etwas zu verändern. Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass Kapital,
Konzerne und Banken die Weichen für die Zukunft stellen. Dieses System
wird getragen von einem selbstzerstörerischen Wachstumsdenken. Jeder,
der die die Grundrechenarten beherrscht, weiß, dass solches Denken keine
Zukunft haben kann. Es bleibt nur die Hoffnung, dass die normalen
Menschen baldmöglichst erkennen, auf welchen Irrweg sie durch die so
genannten Eliten geführt worden sind.
MM: Als erfahrener Richter haben Sie
miterlebt, wie sich jemand auf der Anklagebank fühlt? Was raten Sie
deutschen Muslimen im Umgang mit den Medien und anderen, wenn sie
derzeit auf eine Art Daueranklagebank gesetzt werden?
Vonnahme: Ich war zwar nicht
Strafrichter, kann mir aber vorstellen, wie sich eine Bevölkerungsgruppe
fühlt, die ständig zu Unrecht auf der Anklagebank sitzt. Es ist sinnlos,
die überwiegende Zahl der friedfertigen muslimischen Mitbürger für die
Verbrechen einzelner Außenseiter haftbar zu machen. Umgekehrt würde sich
jeder Deutsche zu Recht dagegen verwahren, für die Mordtaten des NSU an
Muslimen verantwortlich gemacht zu werden. Es ist sehr bedauerlich, dass
Teile der Politik und der Massenmedien dazu beitragen, Ängste gegen
muslimische Mitbürger zu schüren.
Es ist schwierig, Muslimen in dieser Situation
zu raten. Wahrscheinlich ist der beste Rat, dass sie sich von religiösen
Aufwieglern nicht täuschen lassen, dass sie sich unbedingt an die
Rechtsordnung ihres Gastlandes halten, dass sie sich nicht provozieren
lassen und nicht müde werden, auf die oben genannten Zusammenhänge
hinweisen. Viele Immigrantinnen und Immigranten haben das beispielhaft
geschafft und sind zu geachteten Mitgliedern der deutschen Gesellschaft
geworden.
MM: Dass ein ehemaliger deutscher
Richter zur Einhaltung der Rechtsordnung aufruft, ist nachvollziehbar
und auch wir tun das. Dass ein ehemaliger deutscher Richter zur
Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit aufruft, scheint auch nicht
verwunderlich. Aber es gibt - zumindest in der Öffentlichkeit - nur sehr
wenige Richter bzw. ehemalige Richter, die so klar und unverblümt die
Verbrechen im missbrauchten Namen von Demokratie und Freiheit
anprangern. Woran liegt das? Sind deutsche Richter besonders „westtreu“?
Vonnahme: Ich glaube, dass Ihre
Vermutung nicht ganz richtig ist. Ich kenne einige Richter – und zwar
auch höhere als ich es war – die ihre Gesellschaftskritik offen
aussprechen. Aber sie sind zugegeben die Ausnahme. Das liegt zunächst
daran, dass Richter Teil ihrer Gesellschaft sind und durch sie geprägt
werden. In einer Gesellschaft, die mehrheitlich „westlich“ orientiert
ist, ist nicht zu erwarten, dass es bei Richtern grundsätzlich anders
ist. Hinzukommt, dass Richter - auch wenn sie nicht mehr im Dienst sind
- einem gesetzlichen Mäßigungsgebot unterliegen. Viele scheuen sich
deshalb, offene Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben. Ich
persönlich halte das für ein Missverständnis der gesetzlichen
Verpflichtung. Richter sind keine gesellschaftlichen Eunuchen, sie
tragen selbstverständlich Mitverantwortung an der Entwicklung unseres
Gemeinwesens, genauso wie andere Berufsgruppen. Wer zu
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen schweigt, verhält sich nur
scheinbar neutral. Schweigen hat nämlich die fatale Nebenwirkung, dass
es unkritische Mehrheitsmeinungen verstärkt. Wenn sich Richter
öffentlich zu politischen Vorgängen äußern, müssen sie allerdings
zweierlei beachten: Erstens sollte ihre Meinung auf einer sorgfältigen
Analyse beruhen und zweitens sollte ihre Wortmeldung so sein, dass sie
Andersdenkende nicht verletzt.
MM: Einer der Gründe für Ihren Fleiß an
der Tastatur ist der traurige Zustand der deutschen Leitmedien, die wir
oft als Hofberichterstattung titulieren. Viele kritische Nachrichten
über manche Übergriffe von Zionisten oder aktuell das Geständnis von
Wesley Clarc finden sich zwar in zahlreichen englischsprachigen Medien,
aber in Deutschland werden sie nahezu komplett verschwiegen wie auch der
Brief Imam Chamene'is an die Jugend in Nordamerika
und Europa. Warum nehmen so viele Deutsche klaglos hin wieder
im Tal der Ahnungslosen sitzen zu müssen?
Vonnahme: Das hat viel mit
Bequemlichkeit zu tun. Die meisten Menschen verlassen sich auf die
Informationen, die sie durch die vertrauten Leitmedien (ARD, ZDF, die
Privaten, die großen Zeitungen und Magazine) erhalten. Je mehr
inhaltliche Übereinstimmung sie dabei vorfinden, desto weniger zweifeln
sie an der Richtigkeit der Informationen. Es ist heute aber nicht mehr
zu übersehen, dass wichtige Führungsfiguren der deutschen Publizistik
Teil der so genannten Atlantikbrücke sind und die Welt aus einer
einseitigen Perspektive erklären. Ich empfinde es als bedrückend, dass
viele bekannte Medienvertreter von der im Grundgesetz verbürgten
Pressefreiheit nur noch unzulänglich Gebrauch machen, sondern sich zu
unkritischen Erfüllungsgehilfen von Regierungspolitik machen. Mit diesem
Rollenverständnis werden sie über kurz oder lang scheitern. Das Ansehen
des deutschen Mainstream-Journalismus ist im freien Fall. Das Wort von
der „Lügenpresse“ und sinkende Auflagenzahlen sind deutlicher Beleg
hierfür. Ermutigend ist, dass neue Medien wie Internetzeitungen und
Internetforen immer mehr eine kritische Gegenöffentlichkeit entwickeln.
Das erklärt, weshalb trotz der weitgehend einförmigen (klassischen)
Medienlandschaft zu wichtigen politischen Fragen ein differenziertes
Meinungsbild entstehen konnte.
MM: Welche Projekte planen Sie noch in
Ihrem Unruhestand anzugehen?
Vonnahme: Ich habe keine konkreten
Projekte. Jeder Tag bringt neue Themen. Wenn sie mir bedeutsam
erscheinen, werde ich mir dazu Gedanken machen und die Öffentlichkeit
suchen. Das lässt sich nicht wirklich planen. Auch wenn ich in meinem
Beruf nicht mehr arbeite, will ich meine beruflichen und
gesellschaftlichen Erfahrungen weiterhin nutzen. Deshalb bin ich
zuversichtlich, dass der von Ihnen angesprochene Unruhestand noch einige
Zeit erhalten bleibt.
MM: Herr
Vonnahme, wir danken für das Interview. |
Charlie und die Heuchler
von Peter Vonnahme
Millionen behaupteten am 11. Januar 2015, dass sie Charlie sind („Je
suis Charlie“). Die meisten von ihnen hatten bis zur Nachricht über die
Ermordung der zehn Journalisten keine Ahnung, dass es eine
Satirezeitschrift namens Charlie Hebdo überhaupt gibt. Dessen ungeachtet
nahmen sie über Nacht eine neue Identität an.
Der
Charlie-Hype
Heute ist Charlie Hebdo weltbekannt. Die Auflagenzahl verhundertfachte
sich und die Exemplare reichten trotzdem nicht aus. Hinz und Kunz waren
Präsident Hollandes Einladung zum Marche Républicaine gefolgt. Fast alle
waren sie da, die man dort erwarten konnte: die EU-Repräsentanten
Juncker, Schulz und Tusk, die Regierungschefs Cameron, Merkel, Renzi,
Rajoy, aber auch handverlesene Lichtfiguren im Kampf für die
Menschenrechte wie etwa Netanjahu, Poroschenko und Orban,
selbstverständlich auch der Nato-Generalsekretär. Sie haben -
wohlabgeschirmt von der marschierenden Menschenmenge - in einer
abgesperrten Straße medienwirksam für Presse- und Meinungsfreiheit
posiert. Die Fake-Bilder haften im Gedächtnis, sie sind Ausdruck eines
Medienschwindels und einer beklemmender Doppelmoral. Unausgesprochen war
auch die Bedrohung durch islamistische Terroristen in den Köpfen der
Trauermarschierer.
Zwei Große fehlten in Paris, Putin und Obama. Da der russische Präsident
die Menschenrechte nicht zu seinem Markenzeichen erkoren hatte, konnte
man sein Fehlen verschmerzen. Aber US-Präsident Barack Obama,
Friedensnobelpreisträger und Guantanamo-Betreiber (Prantl: „Häuptling
gespaltene Zunge“), ist er etwa nicht Charlie?
Er, der ebenso hingebungsvoll wie erfolglos mit Drohnen, Kampfjets und
CIA-Agenten für die „westlichen Werte“ kämpft? Sein Fehlen war ein
Fehler, hört man aus dem Weißen Haus.
Inzwischen ist der Entrüstungsorkan der ersten Tage abgeflaut. Fähnchen
und Transparente mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ setzen in
Kellerräumen Staub an. Das ruhige Nachdenken kann beginnen.
Angesichts der Tragik des Geschehens und der großen internationalen
Solidarität drängt sich die Frage auf:
Muss jeder rechtschaffene Mensch Charlie sein?
Meine Antwort vorweg: nein! Doch vermutlich ist das eine Mindermeinung.
Seit dem Anschlag hat die westliche Welt ihr Herz für Charlie Hebdo
entdeckt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn anstößige Bilder
über Jesus und den Papst werden im christlichen Abendland üblicherweise
in der Luft zerrissen – vor allem von denen, die beim Marche
Républicaine in der vordersten Reihe standen. Warum darf man Mohammed
lächerlich machen und Jesus nicht?
Es
riecht nach Heuchelei.
Die
Morde an den Journalisten sind grauenvoll und Zeichen heilloser
geistiger Verirrung. Wer immer die Täter waren, es waren Verrückte,
fernab von ihrer Religion.
Die
Freiheit der Presse ist ein hohes Gut. Das gilt auch dann, wenn
wesentliche Teile der Medien hierzulande von ihrer verfassungsrechtlich
verbürgten Freiheit nur noch unzulänglich Gebrauch machen und sich
stattdessen zum Büttel der Staatsmacht erniedrigen. Der Verlust an
verlässlicher Information ist schmerzlich. Charlie Hebdo ist nicht
eingeknickt. Das Magazin zeigte immer Zähne, oft auch Geifer, es war
bissig und provokant, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde.
Natürlich gibt es auch ein Recht auf religiöse Satire. Ihr muss es
erlaubt sein, scheinheiligen Glaubensgemeinschaften, kriminellen
Klerikern und bigotten Gläubigen schonungslos den Spiegel vorzuhalten.
Nach meinem Verständnis gibt es aber kein Recht auf Verletzung
religiöser Gefühle.
Es
ist nicht Aufgabe der Satire, zentrale religiöse Symbole wie Jesus oder
Mohammed verächtlich zu machen. Auch Menschen, die - wie ich – auf
keine religiöse Stimme hören, wissen, dass es eine Grenze gibt, wo Spaß
aufhört. Sie wissen, dass es für Gläubige einen Kernbereich gibt, der
ihnen heilig ist. Diese Grenze muss man auch in einer libertären
Gesellschaft nicht überschreiten. Und genau das tat bzw. tut Charlie
Hebdo. Seine Karikaturen sind häufig verletzend. Wer gläubige Muslime
kränken will, muss nur den Propheten oder den Koran verächtlich machen.
Die Redakteure von Charlie Hebdo wussten das. Sie haben absichtsvoll
Muslime weltweit tief getroffen und heftige Reaktionen in Kauf genommen.
Der Hinweis der Charlie-Verteidiger, dass die Redakteure mit anderen
Religionen nicht schonender umgegangen seien, mag richtig sein, aber das
macht die Sache nicht besser. Die unterschiedliche Reaktion auf
Beleidigungen liegt darin, dass in der westlichen Welt die religiöse
Verankerung nicht mehr so fest ist und dass man deshalb mit solchen
Verletzungen im Regelfall gelassener umgeht.
Wenn man der größeren Verletzbarkeit der muslimischen Welt mit mehr
Empathie begegnen würde, wäre das nicht Ausdruck von Feigheit oder gar
Kapitulation. Es wäre nur Respekt vor anderen Überzeugungen. Kluge
Selbstbeschränkungen sind uns nicht fremd: Kein halbwegs normaler Mensch
findet Witze über den Holocaust lustig. Dies ist zwar nicht religiösen
Gefühlen geschuldet, wohl aber der Rücksichtnahme auf die Verletzbarkeit
anderer. Da Charlie Hebdo zu diesem Feingefühl offensichtlich nicht
fähig ist, lautet meine Antwort: Je ne suis pas Charlie.
Aber nochmals, die Ermordung der Redaktionsmitglieder ist eine
zivilisatorische Katastrophe. Damit ihr Tod nicht völlig sinnlos ist,
muss er Anlass zu einer ungeschminkten Ursachenforschung sein.
Wir
sind die Guten
Eine ehrliche Gewissenserforschung zeigt, dass der freie, auf einer
vermeintlichen „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ aufbauende
Westen in eine beängstigende, ja gefährliche Selbstgefälligkeit
verfallen ist. Wir sprechen es zwar nicht offen aus, aber wir
lassen keinen Zweifel daran:
Wir sind die Guten. Wer
nicht mitspielt, ist der Böse. Der Vorteil ist, dass diese Weltsicht
einfach, der Nachteil, dass sie konfliktträchtig ist.
Wir
feiern die westlichen, freiheitlichen, demokratischen Werte.
Gleichzeitig wird im Namen von Freiheit und Demokratie weltweit gemordet
und gefoltert. Viele Staatschefs, die das Banner der Freiheit und der
Gerechtigkeit bei öffentlichen Anlässen hochhalten, treten diese Werte
im Politalltag mit Füßen. Neuerdings (Krimkonflikt) sprechen sie sogar
wieder vom Völkerrecht. Während der westlichen Kriege etwa in
Jugoslawien, Afghanistan, im Irak und in Libyen fristete es ein
Schattendasein.
In
den letzten 15 Jahren wurden Hunderttausende in Bosnien, in Afghanistan,
im Irak, in Gaza, in Libyen und in Syrien Opfer völkerrechtswidriger
Kriege. Auch heute noch werden nur wenige Flugstunden entfernt täglich
viele Menschen von Kugeln, Granaten, Bomben und Drohnen zerfetzt. Andere
verhungern,
sterben auf der Flucht oder ertrinken im Mittelmeer. Im Donbass werden
unschuldige Menschen Opfer westlicher Expansionspolitik. In Palästina
wird Menschen durch ein selbstsüchtiges Besatzungsregime Land und damit
die Zukunft geraubt. Bei all dem sind wir, die Guten, entweder Täter
oder wir sehen tatenlos zu. Wo bleiben angesichts dieses Unrechts und
dieses Elends die Millionenaufmärsche in unseren Hauptstädten? Wo die
Sondersendungen im TV? Und wo die Schweigeminuten im Weltsicherheitsrat?
Nichts dergleichen! Denn die Menschen in Afghanistan und im Irak starben
und sterben, so wurde uns versichert, für unsere Freiheit und für unsere
Sicherheit und natürlich für die Demokratie (die sie gar nicht wollten).
Andere wurden Opfer von barbarischen „Vergeltungsaktionen“ oder von
„humanitären Interventionen“. Wieder andere hatten einfach Pech, sie
wurden zu Kollateralschäden. Wenn in Afghanistan oder in Pakistan
Teilnehmer von Hochzeitsgesellschaften oder ganze Schulklassen durch
US-Drohnen in Stücke gerissen werden, dann betonen US-Militärsprecher
achselzuckend, es habe der Verdacht bestanden, dass sich
al-Qaida-Mitglieder unter die Anwesenden gemischt hätten. Selbst wenn es
so wäre, ist das ein Freibrief zum Liquidieren?
Wurde in all diesen Fällen jemals ernsthaft gefragt, ob die
Hunderttausende wegen unseres unersättlichen Rohstoffhungers oder wegen
amerikanischer Weltmachtsphantasien sterben mussten? Hat man den
Unglücklichen je eine Träne nachgeweint? Nein! Denn wer außerhalb der
„Welt der Guten“ Opfer von Krieg, Terror, Mord und Vertreibung wird, ist
nicht der Rede wert. Er bleibt anonym, sein Ableben schafft es nicht
über unsere Aufmerksamkeitsschwelle. Wer will schon die Folgen eigener
Gewalt sehen? Schon gleich gar nicht können diese Opfer mit öffentlichen
Mitleidsbekundungen rechnen. Das unterscheidet sie von Charlie Hebdo.
Falsche Bilder
Politik und Medien vermitteln uns seit Jahren den Eindruck, dass wir
einer zunehmenden islamistischen Bedrohung ausgesetzt sind. Die Zahlen
sprächen für sich, sagen sie. Tatsache ist jedoch, dass Täter mit
christlichem oder jüdischem Glaubenshintergrund seit Jahrzehnten
weltweit ungleich mehr Muslime töten als Christen und Juden durch
muslimische Gewalttäter umkommen. Im ersteren Fall nennen wir das
Verteidigung oder gerechter Krieg, im letzteren Fall islamistischen
Terrorismus. Denn wir sind die Guten.
Die Meinungsmacher sind zu Heuchlern geworden, nicht alle, aber viele
der mächtigen. Ihre Richtschnur ist die Doppelmoral. Unter ihrer
Anleitung haben wir uns heillos verrannt. Denn auch falsche Bilder sind
wirkmächtig. Entscheidend ist nämlich nicht, was ist, sondern woran man
glaubt.
Die
Doppelmoral der Guten
Wenn wir eine bessere Welt anstreben,
dann müssen wir aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Doppelmoral ist
der Nährboden des Terrorismus.
·
Es ist doppelbödig, wenn wir Anschlagsopfer
muslimischer Täter im Herzen des europäischen Kontinents öffentlich
betrauern, die Millionen Opfer westlicher Weltordnungskriege aber als
unvermeidlich hinnehmen.
·
Es ist doppelbödig, wenn nach Verbrechen
muslimischer Täter reflexartig an die muslimischen Verbände appelliert
wird „Distanziert euch, andernfalls werdet ihr in Mithaft genommen!“.
Gab es entsprechende Distanzierungsaufrufe an christliche Gemeinden bei
Bekanntwerden der NSU-Morde an Immigranten?
·
Es ist doppelbödig, wenn wir arabische Diktaturen,
die weitab von unserem Menschenrechtsverständnis leben, mit modernsten
Waffen beliefern, obwohl wir wissen, dass mit ihnen dschihadistische
Organisationen ausgerüstet werden, die unsere Werte brutal bekämpfen.
Dass wir dafür Öl und blutverschmiertes Geld bekommen, macht den Deal
nicht besser.
·
Es ist doppelbödig, wenn wir den das Völkerrecht
verachtenden Staat Israel mit atomar ausrüstbaren U-Booten beschenken
und bei seinen Rechtsbrüchen wegschauen. Schwerste eigene Schuld aus
dunklen Zeiten kann dieses Verhalten nicht rechtfertigen.
·
Es ist doppelbödig, wenn wir der USA bei
völkerrechtswidrigen Kriegen Beistand gewähren. Es ist unverantwortlich,
weil wir um die Gräuel von Abu Ghraib, Guantanamo und sonstiger
Foltergefängnisse sowie um die garantierte Straflosigkeit der politisch
Verantwortlichen wissen.
·
Es ist doppelbödig, wenn wir den grauenvollen
Massenmord des christlich-fundamentalistischen Psychopathen Anders
Breivik, der Europa vor dem Islam schützen wollte, anders bewerten als
Gewaltakte muslimischer Terroristen. Damals gab es nämlich trotz der 77
Mordopfer keinen internationalen Trauermarsch vergleichbar dem von
Paris? Was wäre aber gewesen, wenn kein Norweger, sondern ein Araber den
Massenmord begangen hätte? Die Hysterie wäre vermutlich grenzenlos
gewesen.
·
Und ja, es ist auch doppelbödig, wenn wir
terroristische Attentäter stereotyp als feige und hinterhältig
bezeichnen. Ist es etwa mutiger, wenn ein Todesvollstrecker im sicheren
Befehlsstand auf einen Knopf drückt, um einen in großer Entfernung
vermuteten Gotteskrieger mittels Drohne zu ermorden? Im Übrigen ist das,
was bei uns als feige und hinterhältig eingestuft wird, die Folge davon,
dass die terroristischen Einzeltäter weder über Drohnen noch über
Jagdflugzeuge und Kampfpanzer verfügen. Es ist zu vermuten, dass sie
ihre zur Selbstvernichtung führenden Sprengstoffgürtel gerne gegen
modernes Kriegsgerät austauschen würden. Auch Sprache ist kennzeichnend
für Doppelmoral.
Was
tun?
Die
Politik und ihre Spiegelung in den Medien müssen ehrlicher werden. Es
ist nämlich perspektivisch von zweifelhaftem Nutzen, die Toten von
Charlie Hebdo für taktische Vorteile zu instrumentalisieren. Das löst
die Probleme im Nebeneinander von islamischer und westlicher Welt nicht.
Erinnern wir uns! In den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg fühlte
niemand eine islamistische Bedrohung. Die Menschen im Westen waren mit
der geschürten Angst vor den Russen und dem Kommunismus voll
ausgelastet. Als die Sowjetunion und der Warschauer Pakt zerbrochen
waren, wurde unser Bewusstsein auf neue Gefahren eingestimmt
(Islamismus, Dschihadismus, Salafismus, Gotteskrieger). Bündnisse wie
die NATO brauchen zur eigenen Legitimation ein Bedrohungsszenario.
Vor
diesem Hintergrund lohnt es sich, über mögliche Beweggründe der
Charlie-Mörder nachzudenken. Wenn es tatsächlich die Kouachi-Brüder
gewesen sind, kann man sie leider nicht mehr befragen. Denn sie wurden
erschossen. Wir können nur noch mutmaßen.
Der
Koran enthält andere Glaubensanweisungen als die Bibel der Christen.
Doch allein deswegen werfen junge Männer nicht ihr Leben weg.
Andernfalls hätte es das Phänomen des islamistischen Terrorismus auch
früher geben müssen. Das legt nahe, dass zum Glauben andere Tatmotive
hinzukommen müssen: Kränkungen, Erniedrigungen, Entrechtung,
Ausgrenzung, Ausbeutung, Zerstörung von Lebensgrundlagen, Armut,
Hoffnungslosigkeit. Raum für solche Motive gibt es im Umgang mit der
arabischen Welt genügend. Fehlende Sensibilität hierfür rächt sich. Sie
gebiert nämlich das, was uns später in Form des sogenannten Terrorismus
entgegentritt. Wenn es dem Westen wirklich um Befriedung und nicht um
Dominanz geht, dann muss er seine Politik von Grund auf überdenken.
Außerdem muß er mit den Ländern des Nahen Ostens und mit dem Islam über
die genannten Zusammenhänge sprechen – und zwar aufmerksam und auf
Augenhöhe. Unsere Staatsführer müssen über Substanzielles reden und
nicht nur überlegen, wie man Terroristen wie lästiges Ungeziefer
vernichten kann. Nur ehrlicher Dialog führt zu Verstehen und
geistiger Abrüstung. Das geht nicht ohne Respekt für andere Sichtweisen.
Im Bereich der Religion sollte das unschwer möglich sein, hier gibt es
kein falsch oder richtig, sondern mur glauben oder nicht glauben. Das
ist die Spielwiese der Toleranz. Doch auch im diesseitigen Leben muss
allmählich die Einsicht reifen, dass unsere westlichen Vorstellungen
nicht schlechthin für andere Kulturen maßstabbildend sind. Wir können
unsere Lebensformen anbieten, sie erklären und für sie werben. Aber
herbeibomben lässt sich Akzeptanz nicht.
Fehlende Strategie
Selbst wenn man zugunsten des Westens unterstellen würde, dass es ihm in
den letzten Jahrzehnten nicht zuvörderst um militärische Vorherrschaft
und Ressourcensicherung gegangen ist, kommt man an einer ernüchternden
Feststellung nicht vorbei: Der aufgeklärte Westen hat keine tragfähige
Strategie für den Frieden entwickelt. Reaktion prägt sein Denken. Wo
Weltinnenpolitik gefragt wäre, wird in militärischen Zusammenhängen
gedacht.
Die
politischen und medialen Schnellschüsse nach Charlie Hebdo sind
bezeichnend: mehr Polizei, bessere Überwachung, Informationsaustausch,
Vorratsdatenspeicherung, Geheimdienst, Militäreinsatz, Hubschrauber,
Waffen, Straßensperren. Kurzum: Terrorabwehr mit Hardware. Der Chef des
Springer-Konzerns, Döpfner, brachte es auf den Punkt. Er machte den Tag
der Pariser Attentate zum europäischen 9/11. Das ist ein Fanal zum neuen
war on terror. Die Pariser Morde werden benutzt, um die eigene
Bevölkerung auf mehr Kampfbereitschaft einzustimmen. Angemahnt wird die
Bereitschaft, Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern. Schon
Benjamin Franklin wusste, dass man bei diesem Geschäft am Ende beides
verlieren wird.
Im
Wortschatz der Mächtigen fehlen die Worte Ursachen- und
Konfliktforschung, Psychologie, Dialog, Respekt, Verständigung,
Ausgleich. Der Mangel an kreativer Phantasie ist bedrückend und
verspricht nichts Gutes. Natürlich muss verantwortliche Politik für die
Sicherheit der Menschen alles tun, was möglich ist. Aber das darf nicht
bei polizeistaatlichem Denken enden. Friedenspolitik ist auf lange Sicht
die einzig erfolgversprechende Option. Solange wir glauben, wir könnten
unsere sogenannten westlichen Werte mit Panzern und Drohnen schützen,
werden wir keine Ruhe bekommen.
Neben einer Langzeitstrategie ist Mut zur Ehrlichkeit vonnöten.
Sicherheitspolitiker dürfen nicht müde werden, den Menschen zu erklären,
dass es einen absoluten Schutz vor durchgeknallten Straftätern nicht
geben kann – und zwar auch dann nicht, wenn man bereit ist, wesentliche
Teile der persönlichen Freiheit abzugeben. Beiläufig muss auch das
von konservativen
Staatsrechtlern herbeigeschriebene "Grundrecht auf Sicherheit" auf der
Müllhalde der hartnäckigen Irrtümer entsorgt werden. Unser Grundgesetz
verbürgt ein Grundrecht auf Freiheit, aber nicht auf Sicherheit.
Grundrechte sind Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates. Sie können
keinen Schutz gegen Verbrechen à la Charlie Hebdo gewährleisten.
Wirklichen Schutz kann nur gute Politik geben.
Ein
Nachwort zum Journalismus
Der
„Qualitätsjournalismus“ hat (von ein paar Ausnahmen abgesehen) rund um
Charlie Hebdo das geleistet, was kritische Beobachter von ihm erwartet
haben, nämlich nichts. Er hat die Erklärungsmuster und Rezepturen der
Politik treulich nachgebetet. Er war unkritisch bis hin zur Servilität.
Wo Nachfragen am Platz gewesen wäre, duckte sich die Journaille bequem
ab.
Nur
weil zwei Vermummte „Allahu akbar“ riefen und einer von ihnen im
Fluchtauto seinen Personalausweis vergessen hatte, war für die Polizei
die Täterfrage rasch geklärt. Diese Hochgeschwindigkeitstäterermittlung
erinnert an 9/11, wo auf den qualmenden Trümmerhaufen der Twin Towers
der Ausweis eines Attentäters gefunden worden ist. Duplizität der
Ereignisse, irgendwie merkwürdig, nicht wahr? Kontrollfrage: Wie oft
habe ich in den letzten 20 Jahren meinen Ausweis im Auto liegen lassen,
vergessen, verloren?
Investigativem Journalismus hätte es auch gut angestanden nachzufragen,
weshalb die Täter beim Verlassen des Hauses, in das sie geflüchtet
waren, erschossen worden sind. Hätte man ihrer nicht auch lebendig
habhaft werden können? Das entspräche rechtsstaatlichen Standards und
hätte Antworten auf viele interessante Fragen erwarten lassen.
Doch solche Feinheiten sind nicht Sache des real existierenden
Journalismus. Er schmiegt sich geschmeidig an die herrschenden
politischen Zerrbilder. Im Fall Charlie Hebdo sah er seine Aufgabe
darin, vorhandene Islamfeindbilder beflissen aufzunehmen und zu
verstärken sowie der Weltöffentlichkeit das Bild von inniger
Geschlossenheit zwischen dem Volk und seinen Führern zu vermitteln. Man
könnte den Eindruck haben, dass manch bekannter Journalistenmime Angst
vor den dunklen Abgründen hat, die eigenständiges Denken sichtbar machen
kann.
In Anlehnung an Marx und Engels möchte man ihnen allen zurufen: Heuchler
aller Schreibstuben, vereinigt euch! Und geht dann gemeinsam in den
Ruhestand...
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