MM:
Sehr geehrter Herr Dr. Alt. Nach so kurzer Zeit haben wir wieder die
Ehre, Ihnen einige Fragen stellen zu dürfen. Wie kam es zu ihrem neuen
Buch "Flüchtling - Jesus, der Dalai Lama und andere Vertriebene"?
Dr. Alt: Das
Buch schrieb ich aus aktuellem Anlass. Ich möchte die „Flüchtlingskrise“
historisch einordnen und zeigen, dass die ganze Geschichte der
Menschheit eine Flüchtlingsgeschichte ist. Wir dürfen unser christliches
und humanistisches Gedächtnis nicht verlieren. Deshalb auch die
Erinnerung an Jesus, der vor dem Kindesmörder Herodes fliehen musste und
an den Dalai Lama, der seit 1959 als vielleicht ältester Flüchtling der
Welt vor der chinesischen Schreckensherrschaft auf dem Dach der Welt
fliehen musste.
MM:
Nun werden bibelfeste Leser bei Jesus einwenden, dass er ja gar nicht
geflohen ist, sondern wenn überhaupt, dann seine Mutter. Sollten Männer
nicht lieber in ihrer Heimat bleiben und sich für Frieden und
Gerechtigkeit aufopfern?
Dr. Alt:
Nach dem Evangelisten Matthäus (Kapitel 2, 13 – 15) mussten Jesus und
seine Eltern vor dem Kindesmörder Herodes nach Ägypten fliehen. Ich
weiß, dass diese Flucht historisch umstritten ist. Ob Männer
grundsätzlich in ihrer Heimat bleiben sollen, kann ich nicht von hier
aus entscheiden. Für alle, die vor Bürgerkrieg, Hunger und Elend in
ihrer Heimat fliehen, sollten wir Verständnis haben und helfen so gut es
geht. Niemand soll sich „aufopfern“, jeder Mensch hat das Recht auf
Glück und Wohlstand. Wäre hier Bürgerkrieg wie in Syrien würde ich auch
über Flucht nachdenken. Und aus Deutschland sind in der Mitte des 19.
Jahrhunderts Millionen Menschen in die USA, nach Kanada und Brasilien
geflohen, weil sie hier verhungert wären und keine Chance auf einen
Arbeitsplatz hatten.
MM:
Sie behaupten auch "Wir schaffen das", was übrigens auch wir vertreten (Wer
sonst soll das schaffen, wenn nicht wir Deutsche?).
Woher nehmen sie die Zuversicht?
Dr. Alt:
Wiederum durch historische Erfahrung: Ich habe erlebt und auch in meinem
Buch geschrieben, dass meine Elterngeneration nach 1945 etwa zwölf
Millionen Ost-Flüchtlinge in Westdeutschland aufnahmen gegen die es
dieselben Vorurteile gab wie heute gegen Flüchtlinge. Sie wurden dennoch
integriert und haben ganz wesentlich zum weltberühmten deutschen
Wirtschaftwunder in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten
Jahrhunderts beigetragen. Dasselbe geschah mit etwa acht Millionen
Gastarbeitern in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern. Auch sie
trugen zu unserem Wohlstand bei. Dasselbe geschieht jetzt wieder. Die
Deutschen werden in spätestens fünf bis zehn Jahren Angela Merkel
dankbar sein für ihre vorausschauende und humanitäre Flüchtlingspolitik.
Flüchtlinge sind natürlich mehr als Arbeitskräfte und Rentenzahler von
morgen. Sie sind eine kulturelle und spirituelle Bereicherung. Merkels
Flüchtlingspolitik bringt Vorteile für die Flüchtlinge und für die
Deutschen, also für die Alt-Deutschen wie für die Neu-Deutschen.
Intelligente Humanität hilft allen. Die historische Erfahrung zeigt,
dass offene Gesellschaften auch ökonomisch immer erfolgreicher sind als
geschlossene Gesellschaften. Gerade in den Zeiten der Globalisierung ist
doch klar: Wer sich abschottet, hat schon verloren. Offene
Gesellschaften werden toleranter, bunter und erfolgreicher in jeder
Beziehung.
MM:
Weite Teile der Bevölkerung sind verunsichert und denken, dass sie nur
die Wahl haben
zwischen
Überfremdung und Unmenschlichkeit.
Welche Alternative haben sie denn sonst?
Dr. Alt:
Für Politik und für uns Journalisten stellt sich vor allem diese
Aufgabe: Angst kann nur durch Aufklärung, Aufklärung und nochmals
Aufklärung überwunden werden. Dazu will ich mit meinem Buch beitragen.
Wir haben in Deutschland überwiegend positive Erfahrung gemacht mit der
Integration von Millionen Flüchtlingen. Auch jetzt werden wir mittel-
und langfristig wieder erfahren: Wachsende Toleranz bereichert eine
Gesellschaft. Kluge Menschen können immer voneinander lernen.
MM:
Die Bundesregierung verbreitet einerseits die vernünftige Devise, dass
die Fluchursachen bekämpft werden müssen und andererseits wurde erst vor
wenigen Tagen eine neuerliche Waffenlieferung an Saudi-Arabien, einem
der Hauptschuldigen für die Flüchtlinge - von der Bundesregierung
genehmigt. wie soll die Bevölkerung dann der beabsichtigten
Ursachenbekämpfung glauben schenken?
Dr. Alt:
Wer Waffen liefert, darf sich über Flüchtlingsströme nicht wundern. Da
haben sie völlig recht. Ohne Waffen gäbe es keine Kriege mehr. Wir
müssen noch viel lernen über die wahren Fluchtursachen. Dasselbe gilt
für den Klimawandel – eine weitere Fluchtursache. Zurzeit sind in Afrika
18 Millionen Menschen als Klimaflüchtlinge unterwegs. Irgendwann kommen
auch dies Problem zu Fuß zu uns.
MM:
Seit Tausenden von Jahren herrschen die Minderheiten der Superreichen
mit dem Mittel des "teile und herrsche", wobei dem Werkzeug des
Sündenbocks die Funktion eines Unmutsblitzableiters zukommt. Gestern
waren die Flüchtlinge jener Sündenbock und in der Vorahnung, dass morgen
weniger Flüchtlinge kommen könnten werden jetzt die Muslime dazu
aufgebaut. Warum funktioniert dieses Jahrtausende alte Machtinstrument
der herrschenden Elite immer noch und was können wir dagegen tun?
Dr. Alt:
Alle Religionen empfehlen mehr Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung. Entweder lernen wir dies endlich oder es werden noch viel
mehr Flüchtlinge und Emigranten zu uns in das reiche Europa kommen. Wir
können nur ernten, was wir säen. Das lehren uns Buddha, Jesus und
Mohamed. In der Schule dieser Großen in der Menschheitsgeschichte können
wir lernen wie eine bessere und gerechtere Welt organisiert werden kann.
Im Talmud lese ich ebenso wie in der Intention im Koran und in der
Bergpredigt diese Erkenntnis: „Wer einem Menschen das Leben rettet,
rettet die ganze Welt“. Das ist ein Appell für mehr internationale
Solidarität und weniger nationalistische Interessenpolitik.
MM:
Angstmacher haben aber Konjunktur, wie es bei den letzten Landtagswahlen
deutlich geworden ist. Was antworten sie auf NPD-Parole, die in
subtilerer form auch von der AfD vertreten wird, dass wir nicht das
Sozialamt für die ganze Welt sind?
Dr. Alt: Das ist ein dummer, nichtssagender Spruch. Ich kenne
niemand, der das von Deutschland verlangt. Aber als reiches Land haben
wir eine Verantwortung für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wenn wir das
nicht endlich verstehen und ernst nehmen, dann kommen die Probleme
weiterhin zu Fuß zu uns.
MM:
Bedauerlicherweise ist nicht jeder Flüchtling wie Jesus oder der Dalai
Lama. Wie können die diesbezüglich geschürten Sorgen auf der Ebene der
Bürger abgebaut werden, wenn doch offensichtlich ein Teil der
Sensationspresse gar kein Interesse am Abbau von Sorgen hat?
Dr. Alt: Ängste können nur durch geduldige und nachhaltige
Aufklärung überwunden werden. Allerdings müssen sich auch die
verängstigten und „besorgten“ Bürger selbst darum bemühen. Ich sehe
viele „besorgte“ Bürger, die lieber in ihrem Hass gegen Fremde verweilen
als sich um Aufklärung zu bemühen. Hass aber macht krank.
MM:
Wie erklären Sie sich die offensichtliche Aufteilung Deutschlands in Ost
und West bezüglich der Ängste?
Dr. Alt: Ostdeutsche haben nach 1990 viel mehr Veränderung erlebt
als wir Westdeutsche. Deshalb haben manche noch mehr Angst vor weiterer
Veränderung. Aber diese Veränderung wird durch Millionen Migranten
notwendig. Dass diese Veränderungen für unsere gesamtdeutsche
Gesellschaft eine Chance zur Bereicherung sind, wird nur langfristig
deutlich und letztlich auch verständlich.
MM:
Der Kernaspekt des Christentums ist die Nächstenliebe. Sind Christen,
was die Lautstärke angeht, in Deutschland in eine Minderheit geraten?
Dr. Alt: Der Kern aller Religionen ist die Liebe, und zwar ganz
konkret und praktisch und nicht als Lippenbekenntnis. Dazu gehört auch
die Erkenntnis, dass es gar keine Ausländer gibt, sondern nur Brüder und
Schwestern unter der einen Sonne des himmlischen Vaters wie es Jesus in
seiner Bergpredigt formuliert. Wer das wirklich versteht, verliert auch
seine Angst vor den so genannten Fremden.
MM:
Herr Dr. Alt, wir danken für das Interview. |