MM: Sehr geehrter Herr Zeise, von einem
Mitbegründer der "Financial Times Deutschland" erwartet man nicht
unbedingt, dass er marxistische Positionen als Linker verbreitet. Hatten
sie eine Art Damaskuserlebnis oder haben Sie sich früher verstellt?
Zeise: Bei mir ging das Damaskuserlebnis
nicht so schnell wie beim heiligen Paulus. Ich bin an der Universität
Marxist geworden und während meines Berufslebens geblieben. Das ist
eigentlich normal, dass man sich im Arbeitsleben als Angestellter
verstellen muss. Zumindest muss der Angestellte tun, was der Chef
befiehlt. Aber ich behaupte, dass ich als Marxist die Wirrungen des
Finanzgeschehens besser verstanden habe als manche andere
Journalistenkollegen. Auch Zeitungen, die sich mit Finanzen befassen,
sollten eigentlich aufklärerisch wirken. Das kommt zuweilen vor. Die
Financial Times Deutschland war in dieser Beziehung gar nicht schlecht.
Ich musste mich nur wenig verstellen, und die Arbeit hat mir Spaß
gemacht.
MM: Sie haben einmal geschrieben, dass
die kapitalistische Wirtschaft nicht einfach zu verstehen sei. Was ist
so schwer daran zu verstehen, dass Reiche immer reicher und Arme immer
Ärmer werden und das Elend der Not leidenden proportional dem Reichtum
der Superreichen wächst?
Zeise: Wie machen die Reichen das - den
Rest der Bevölkerung auszubeuten? Das ist eine schwierige Frage. Für die
Volkswirtschaftslehre ist die Frage umstritten, woher der Gewinn
(Profit) stammt. Schwierig ist es auch zu erklären, warum die Massen das
mit sich machen lassen. Karl Marx hat der Analyse des Kapitalismus drei
fette Bände (Das Kapital) gewidmet und ist leider nicht fertig geworden
damit. Kapitalismus ist Menschenwerk, aber das macht es nicht leichter
zu verstehen. Im Übrigen ist es überhaupt schwer, Geschichte zu
begreifen und den Menschen auch.
MM: Ein Phänomen des kapitalistischen
Imperialismus besteht darin, dass sie mit Geld - also eigentlich
Schuldscheinen - einen äußert intensiven und ruinösen Handel betreibt,
das sie gar nicht besitzt, sondern aus dem Nichts heraus generiert,
womit auch sämtliche Kriege finanziert werden. Wir bringt man die Welt
dazu Waren zu liefern für einen Schuldschein, von dem man lediglich
glaubt, er habe einen Gegenwert, aber in Wirklichkeit wertlos ist.
Zeise: Ich bin mit Ihrer Behauptung,
Geld sei Kredit, vollkommen einverstanden. Und natürlich wird der
Kreditvertrag (= Geld) einfach so - aus dem Nichts - geschaffen. Wie
auch sonst? Damit das aber auch massenhaft klappt, sind andere
Randbedingungen nötig. Ganz einfach ist das nicht zu verstehen, gebe ich
zu. Geld ist Ausdruck der Beziehungen zwischen den Menschen in einer
Warenwirtschaft, in der - im Allgemeinen - zum gleichen Wert getauscht
wird. Also 'wertlos' sind Geldscheine nicht, auch nicht das Guthaben auf
dem Kontoauszug. Dieses Geld hat genau den Wert, den die Zahl angibt.
Bei anderen Waren - Äpfel oder Computer oder Theaterkarten (Gutscheine
ähnlich wie Geldscheine) - ist der Wert nicht immer aufgedruckt,
manchmal auch nicht bekannt, bis die Ware verkauft ist. Aber diese Waren
haben nicht nur Wert sondern auch Nutzen (oder Gebrauchswert, wie die
Marxisten sagen). Der Gebrauchswert des Geldes besteht darin, dass es in
jede andere Ware getauscht werden kann. Kein Wunder also, dass sich die
Leute abrackern, um an Geld zu kommen. Sie brauchen es, um essen,
trinken, wohnen und überleben zu können.
MM: Aber würde man die Gesamtmenge aller
zur Zeit auf der Erde generierten und in Privatbesitz befindlichen
Gelder dem vorhandenen Gütern in Privatbesitz gegenüber stellen, wäre
jeder Euro wohl kaum noch einige Cent wert. Muss solch ein System nicht
früher oder später zwangsläufig zusammen brechen?
Zeise: Aber niemand stellt das viele
Geld auf der einen Seite den gesammelten Waren auf der anderen
gegenüber. In Ihrer Frage schwingt, wie Sie sicher wissen, so eine
Theorie mit, die Monetarismus heißt und - kurz gesagt - darauf
hinausläuft, dass proportional mit der Menge des Geldes die Preise der
produzierten Waren steigen, also Inflation herrscht. Plausibel ist die
Theorie. Jedoch hat die Geschichte der vergangenen etwa 30 Jahre die
Theorie weitgehend widerlegt. Noch nie zuvor wurde so viel Geld durch
die riesige Erhöhung der Kredite in dieser Zeit geschaffen. Und dennoch
ist gleichzeitig die Inflation in allen kapitalistischen Ländern
zurückgegangen. Warum das so ist? Nun, die Reichen haben sich
gegenseitig Kredit gewährt, also sich gegenseitig verschuldet, während
die Armen von der ganzen Sause wenig mitbekommen haben. So sind denn
auch die Preise für Vermögenswerte (Aktien, Immobilien, Unternehmen,
Anleihen) stark gestiegen, während die Waren des täglichen Bedarfs immer
weniger schnell teurer wurden. Kurz, es kommt bei der Analyse der
ökonomischen Tatbestände immer auf die Verteilung an. Die Wirkung von
immer mehr Geld im Umlauf ist unterschiedlich, je nachdem, bei wem das
viele Geld ankommt.
MM: Eines der an häufigsten verwendeten
Begriffe des Kapitalismus ist Wachstum. Schaut man sich an, was damit
gemeint ist, landet man sehr schnell bei einer exponentiellen Form des
Wachstums, das auch theoretisch stets begrenzt ist. Muss es also immer
wieder einen Weltkrieg geben, damit der Wachstumswahn von Neuem beginnen
kann?
Zeise: Also grundsätzlich gesprochen ist
Wachstum immer begrenzt. Wir machen mal eine vorsichtige Ausnahme mit
dem Hinweis auf das Universum als Ganzes. Vielleicht wächst es
unbegrenzt. Auf der Erde ist Wachstum immer begrenzt. Wir stellen aber
fest, dass der Kapitalismus die Produktion von Waren und
interessanterweise auch das Wachstum der Zahl der Menschen stärker
beschleunigt hat als alle Gesellschaftsformen vorher. Ist das vielleicht
seine einzige Tugend? Aber im Alltag zeichnet er sich dadurch aus, dass
der Kapitalist sein Vermögen wachsen lassen, sich vermehren lassen muss,
weil er sonst verliert, ausscheidet, pleite geht, übernommen wird und -
schrecklicher Gedanke - aufhört, Kapitalist zu sein. Wachstumswahn ist
das nicht, finde ich, sondern Wachstumsrealität. Weil kapitalistische
(imperialistische) Staaten von den Kapitalisten für ihre Zwecke
organisiert werden, unterliegen auch sie dem 'Zwang', andere Staaten
oder Regionen zu unterjochen und auszubeuten. Das muss keineswegs immer
so weiter gehen und keineswegs immer zu einem weiteren Weltkrieg führen.
Die Alternative ist meiner Meinung nach Sozialismus statt Kapitalismus.
Ich gebe zu, dass es momentan eher nach Krieg als nach Sozialismus
aussieht.
MM: Der Sozialismus ist eine rein
materialistische Ideologie, die die spirituellen Aspekte des Menschen
genau so unberücksichtigt lässt, wie seine Triebe. Wie aber will der
Sozialismus den Menschen Solidarität lehren und dass ein Arzt oder eine
Krankenschwester im Hospiz wertvoller für die Gesellschaft ist, als ein
Profifußballer und eine Frau die ihre Bluse öffentlich öffnet und
dadurch viel mehr Geld erhält?
Zeise: Materialismus ist für Marxisten
ein Ehrentitel. Wir Marxisten behaupten, dass eine materialistisches
Verständnis vom Menschen weder seine spirituellen Aspekte (Bedürfnisse)
noch seine Triebe unberücksichtigt lässt. Den ganzen Menschen, seine
Gesellschaft und seine Geschichte versteht man unserer Meinung nach am
besten, wenn man den Menschen als handelnden Menschen begreift, der im
Schweiße seines Angesichts mit anderen zusammen arbeitet, sein Überleben
sichert und das seiner Kultur oder Gesellschaft.
MM: Eine Theorie wie der Sozialismus hat
einen Überbau und geht dabei von einem bestimmten Menschenbild aus.
Stimmt jener Überbau nicht, wird auch die daraus folgende Theorie
scheitern. Warum sollte der Sozialismus, den zur Zeit kaum jemand auf
diesem Erdball will, attraktiver sein und sich besser "verkaufen" können
als die berühmten westlichen Werbefiguren Freiheit und Demokratie?
Zeise: Klar, ich setze
Erkenntnisfähigkeit beim Menschen voraus. Das gehört zu meiner
Vorstellung vom Menschsein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele
Menschen den Sozialismus wollen, jedenfalls den Kapitalismus, in dem sie
jetzt leben, ablehnen. Aber sie wissen nicht, wie der Sozialismus
erreicht werden kann. Das ist in der Tat eine schwierige Frage. Bestimmt
kann man aus den Erfolgen und gerade auch den Fehlern des realen
Sozialismus in Europa Folgerungen ziehen, wie es besser zu machen ist.
Die Desillusionisierung mit 'Freiheit &
Demokratie' ist ja schon weit fortgeschritten. Da sieht mancher sich
nach Alternativen um.
MM: Wie ist es möglich einer
nicht verhungernden halbwegs gebildeten Bevölkerung zu erklären, dass
das gesamte System von Hochschullehrern über Medien bis hin zu
Intellektuellen ein kapitalistisches System verbreiten helfen, das zum
Schaden aller Menschen führt, wenn doch die meisten Menschen das gar
nicht glauben wollen und sie bestenfalls mit dem Attribut
"Verschwörungstheoretiker" beaufschlagen würde?
Zeise: Der erste Teil der Antwort auf
die Frage lautet: weil die Wissenschaftler und Journalisten zu großen
Teilen selber an den Unsinn glauben, den sie erzählen. Zweiter Grund:
Die herrschenden Ideen sind immer die Ideen der herrschenden Klasse. Der
Verleger kann bestimmen, was der Journalist schreibt. Der Großkonzern
bestimmt, welche Politik die Volkspartei und ihre Regierung betreiben.
MM: 62 Einzelpersonen verfügen in der
Welt über so viel Vermögen wie die Hälfte der restlichen Menschheit.
Will man das in welchem Maß auch immer und mit welchem System auch immer
umverteilen, wird man auf den unerbittlichen Widerstand dieser Leute
stoßen, die mit ihrem Vermögen nicht nur ganze Armeen befehligen können,
sondern auch so skrupellos sind, das zu tun. Welchen friedlichen Weg
gibt es, dennoch eine halbwegs faire Umverteilung zu bewirken?
Zeise: Man sollte sich in der Tat keine
Illusionen darüber machen, dass eine andere, gleichere Verteilung der
erzeugten Güter dieser Welt sich ohne den unerbittlichen und gewaltsamen
Widerstand der herrschenden Oberschicht durchsetzen lässt. Ob es einen
friedlichen Weg gibt, weiß ich nicht. Zwei Beispiele: die russische
Oktoberrevolution war an sich keine blutige Angelegenheit. Der
mehrjährige Bürgerkrieg danach und der Kampf gegen die ausländischen
Interventen aber sehr wohl. Zweites Beispiel: der 'New Deal' des
US-Präsidenten Franklin Roosevelt ab 1933, als die Banken und Konzerne
zerschlagen und umfangreiche Arbeitsprogramme und Infrastrukturprojekte
staatlich angestoßen wurden, war eine Reaktion der herrschenden Klasse
auf die verheerende Wirtschaftskrise. Ich will damit sagen, dass die
halbwegs faire Verteilung Resultat einer tiefen Krise war. Friedlich
oder nicht friedlich ist nur ein Gesichtspunkt. Es gibt leider keinen
Königsweg.
MM: Mit welchen zukünftigen Aktivitäten
wollen Sie sich für eine gerechtere Welt einbringen?
Zeise: Ich halte den Kampf gegen
aktuelle und drohende weitere Kriege für am wichtigsten. In ökonomischen
Fragen plädiere ich dafür, dass die, welche wie ich für den Sozialismus
eintreten, und die anderen, welche für eine bessere Verteilung der Güter
unter Beibehaltung des Kapitalismus plädieren, zusammenarbeiten müssen.
Persönlich mache ich dafür das, was ich am besten kann. Reden und
schreiben.
MM: Wir danken für das Interview. |