Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Lucas Zeise

 

Lucas ZeiseMuslim-Markt interviewt
Lucas Zeise, Finanzjournalist und Autor mehrerer Bücher
5.2.2016

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist. Er hat Philosophie und Volkswirtschaft studiert und war an der Gründung der »Financial Times Deutschland« beteiligt, deren Finanzteil er aufgebaut hat und für die er als Kolumnist geschrieben hat. Im Laufe seines Berufslebens hat Zeise u. a. für das japanische Wirtschaftsministerium, die deutsche Aluminiumindustrie und als Ressortleiter "Börse und Kapitalmärkte" bei der Frankfurter »Börsen-Zeitung« gearbeitet. Er war von Januar 2008 bis Dezember 2013 als Autor im Blog "Herdentrieb" von Zeit online aktiv. Heute schreibt er unter anderem für die "Junge Welt", die "UZ" und die "Marxistischen Blätter". Er hat im Oktober 2008, einen Monat nach der Pleite von Lehman Brothers als einer der ersten ein Buch über die große Finanzkrise veröffentlicht: "Ende der Party". Es folgten "Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus. Versuch über die politische Ökonomie des Finanzsektors" (2010) und "Euroland ist abgebrannt. Opfer – Profiteure – Alternativen" (2012). Zeise ist seit 1973 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), für die er zur Wahl des EU-Parlaments kandidiert hat. Zeise ist Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal, und aktives Mitglied des Frankfurter Solidaritätskomitees für Syrien.

Lucas Zeise ist geschieden, hat vier Kinder und lebt in Frankfurt.

MM: Sehr geehrter Herr Zeise, von einem Mitbegründer der "Financial Times Deutschland" erwartet man nicht unbedingt, dass er marxistische Positionen als Linker verbreitet. Hatten sie eine Art Damaskuserlebnis oder haben Sie sich früher verstellt?

Zeise: Bei mir ging das Damaskuserlebnis nicht so schnell wie beim heiligen Paulus. Ich bin an der Universität Marxist geworden und während meines Berufslebens geblieben. Das ist eigentlich normal, dass man sich im Arbeitsleben als Angestellter verstellen muss. Zumindest muss der Angestellte tun, was der Chef befiehlt. Aber ich behaupte, dass ich als Marxist die Wirrungen des Finanzgeschehens besser verstanden habe als manche andere Journalistenkollegen. Auch Zeitungen, die sich mit Finanzen befassen, sollten eigentlich aufklärerisch wirken. Das kommt zuweilen vor. Die Financial Times Deutschland war in dieser Beziehung gar nicht schlecht. Ich musste mich nur wenig verstellen, und die Arbeit hat mir Spaß gemacht.

MM: Sie haben einmal geschrieben, dass die kapitalistische Wirtschaft nicht einfach zu verstehen sei. Was ist so schwer daran zu verstehen, dass Reiche immer reicher und Arme immer Ärmer werden und das Elend der Not leidenden proportional dem Reichtum der Superreichen wächst?

Zeise: Wie machen die Reichen das - den Rest der Bevölkerung auszubeuten? Das ist eine schwierige Frage. Für die Volkswirtschaftslehre ist die Frage umstritten, woher der Gewinn (Profit) stammt. Schwierig ist es auch zu erklären, warum die Massen das mit sich machen lassen. Karl Marx hat der Analyse des Kapitalismus drei fette Bände (Das Kapital) gewidmet und ist leider nicht fertig geworden damit. Kapitalismus ist Menschenwerk, aber das macht es nicht leichter zu verstehen. Im Übrigen ist es überhaupt schwer, Geschichte zu begreifen und den Menschen auch.

MM: Ein Phänomen des kapitalistischen Imperialismus besteht darin, dass sie mit Geld - also eigentlich Schuldscheinen - einen äußert intensiven und ruinösen Handel betreibt, das sie gar nicht besitzt, sondern aus dem Nichts heraus generiert, womit auch sämtliche Kriege finanziert werden. Wir bringt man die Welt dazu Waren zu liefern für einen Schuldschein, von dem man lediglich glaubt, er habe einen Gegenwert, aber in Wirklichkeit wertlos ist.

Zeise: Ich bin mit Ihrer Behauptung, Geld sei Kredit, vollkommen einverstanden. Und natürlich wird der Kreditvertrag (= Geld) einfach so - aus dem Nichts - geschaffen. Wie auch sonst? Damit das aber auch massenhaft klappt, sind andere Randbedingungen nötig. Ganz einfach ist das nicht zu verstehen, gebe ich zu. Geld ist Ausdruck der Beziehungen zwischen den Menschen in einer Warenwirtschaft, in der - im Allgemeinen - zum gleichen Wert getauscht wird. Also 'wertlos' sind Geldscheine nicht, auch nicht das Guthaben auf dem Kontoauszug. Dieses Geld hat genau den Wert, den die Zahl angibt. Bei anderen Waren - Äpfel oder Computer oder Theaterkarten (Gutscheine ähnlich wie Geldscheine) - ist der Wert nicht immer aufgedruckt, manchmal auch nicht bekannt, bis die Ware verkauft ist. Aber diese Waren haben nicht nur Wert sondern auch Nutzen (oder Gebrauchswert, wie die Marxisten sagen). Der Gebrauchswert des Geldes besteht darin, dass es in jede andere Ware getauscht werden kann. Kein Wunder also, dass sich die Leute abrackern, um an Geld zu kommen. Sie brauchen es, um essen, trinken, wohnen und überleben zu können.

MM: Aber würde man die Gesamtmenge aller zur Zeit auf der Erde generierten und in Privatbesitz befindlichen Gelder dem vorhandenen Gütern in Privatbesitz gegenüber stellen, wäre jeder Euro wohl kaum noch einige Cent wert. Muss solch ein System nicht früher oder später zwangsläufig zusammen brechen?

Zeise: Aber niemand stellt das viele Geld auf der einen Seite den gesammelten Waren auf der anderen gegenüber. In Ihrer Frage schwingt, wie Sie sicher wissen, so eine Theorie mit, die Monetarismus heißt und - kurz gesagt - darauf hinausläuft, dass proportional mit der Menge des Geldes die Preise der produzierten Waren steigen, also Inflation herrscht. Plausibel ist die Theorie. Jedoch hat die Geschichte der vergangenen etwa 30 Jahre die Theorie weitgehend widerlegt. Noch nie zuvor wurde so viel Geld durch die riesige Erhöhung der Kredite in dieser Zeit geschaffen. Und dennoch ist gleichzeitig die Inflation in allen kapitalistischen Ländern zurückgegangen. Warum das so ist? Nun, die Reichen haben sich gegenseitig Kredit gewährt, also sich gegenseitig verschuldet, während die Armen von der ganzen Sause wenig mitbekommen haben. So sind denn auch die Preise für Vermögenswerte (Aktien, Immobilien, Unternehmen, Anleihen) stark gestiegen, während die Waren des täglichen Bedarfs immer weniger schnell teurer wurden. Kurz, es kommt bei der Analyse der ökonomischen Tatbestände immer auf die Verteilung an. Die Wirkung von immer mehr Geld im Umlauf ist unterschiedlich, je nachdem, bei wem das viele Geld ankommt.

MM: Eines der an häufigsten verwendeten Begriffe des Kapitalismus ist Wachstum. Schaut man sich an, was damit gemeint ist, landet man sehr schnell bei einer exponentiellen Form des Wachstums, das auch theoretisch stets begrenzt ist. Muss es also immer wieder einen Weltkrieg geben, damit der Wachstumswahn von Neuem beginnen kann?

Zeise: Also grundsätzlich gesprochen ist Wachstum immer begrenzt. Wir machen mal eine vorsichtige Ausnahme mit dem Hinweis auf das Universum als Ganzes. Vielleicht wächst es unbegrenzt. Auf der Erde ist Wachstum immer begrenzt. Wir stellen aber fest, dass der Kapitalismus die Produktion von Waren und interessanterweise auch das Wachstum der Zahl der Menschen stärker beschleunigt hat als alle Gesellschaftsformen vorher. Ist das vielleicht seine einzige Tugend? Aber im Alltag zeichnet er sich dadurch aus, dass der Kapitalist sein Vermögen wachsen lassen, sich vermehren lassen muss, weil er sonst verliert, ausscheidet, pleite geht, übernommen wird und - schrecklicher Gedanke - aufhört, Kapitalist zu sein. Wachstumswahn ist das nicht, finde ich, sondern Wachstumsrealität. Weil kapitalistische (imperialistische) Staaten von den Kapitalisten für ihre Zwecke organisiert werden, unterliegen auch sie dem 'Zwang', andere Staaten oder Regionen zu unterjochen und auszubeuten. Das muss keineswegs immer so weiter gehen und keineswegs immer zu einem weiteren Weltkrieg führen. Die Alternative ist meiner Meinung nach Sozialismus statt Kapitalismus. Ich gebe zu, dass es momentan eher nach Krieg als nach Sozialismus aussieht.

MM: Der Sozialismus ist eine rein materialistische Ideologie, die die spirituellen Aspekte des Menschen genau so unberücksichtigt lässt, wie seine Triebe. Wie aber will der Sozialismus den Menschen Solidarität lehren und dass ein Arzt oder eine Krankenschwester im Hospiz wertvoller für die Gesellschaft ist, als ein Profifußballer und eine Frau die ihre Bluse öffentlich öffnet und dadurch viel mehr Geld erhält?

Zeise: Materialismus ist für Marxisten ein Ehrentitel. Wir Marxisten behaupten, dass eine materialistisches Verständnis vom Menschen weder seine spirituellen Aspekte (Bedürfnisse) noch seine Triebe unberücksichtigt lässt. Den ganzen Menschen, seine Gesellschaft und seine Geschichte versteht man unserer Meinung nach am besten, wenn man den Menschen als handelnden Menschen begreift, der im Schweiße seines Angesichts mit anderen zusammen arbeitet, sein Überleben sichert und das seiner Kultur oder Gesellschaft.

MM: Eine Theorie wie der Sozialismus hat einen Überbau und geht dabei von einem bestimmten Menschenbild aus. Stimmt jener Überbau nicht, wird auch die daraus folgende Theorie scheitern. Warum sollte der Sozialismus, den zur Zeit kaum jemand auf diesem Erdball will, attraktiver sein und sich besser "verkaufen" können als die berühmten westlichen Werbefiguren Freiheit und Demokratie?

Zeise: Klar, ich setze Erkenntnisfähigkeit beim Menschen voraus. Das gehört zu meiner Vorstellung vom Menschsein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen den Sozialismus wollen, jedenfalls den Kapitalismus, in dem sie jetzt leben, ablehnen. Aber sie wissen nicht, wie der Sozialismus erreicht werden kann. Das ist in der Tat eine schwierige Frage. Bestimmt kann man aus den Erfolgen und gerade auch den Fehlern des realen Sozialismus in Europa Folgerungen ziehen, wie es besser zu machen ist. Die Desillusionisierung mit 'Freiheit & Demokratie' ist ja schon weit fortgeschritten. Da sieht mancher sich nach Alternativen um.

MM: Wie ist es möglich einer nicht verhungernden halbwegs gebildeten Bevölkerung zu erklären, dass das gesamte System von Hochschullehrern über Medien bis hin zu Intellektuellen ein kapitalistisches System verbreiten helfen, das zum Schaden aller Menschen führt, wenn doch die meisten Menschen das gar nicht glauben wollen und sie bestenfalls mit dem Attribut "Verschwörungstheoretiker" beaufschlagen würde?

Zeise: Der erste Teil der Antwort auf die Frage lautet: weil die Wissenschaftler und Journalisten zu großen Teilen selber an den Unsinn glauben, den sie erzählen. Zweiter Grund: Die herrschenden Ideen sind immer die Ideen der herrschenden Klasse. Der Verleger kann bestimmen, was der Journalist schreibt. Der Großkonzern bestimmt, welche Politik die Volkspartei und ihre Regierung betreiben.

MM: 62 Einzelpersonen verfügen in der Welt über so viel Vermögen wie die Hälfte der restlichen Menschheit. Will man das in welchem Maß auch immer und mit welchem System auch immer umverteilen, wird man auf den unerbittlichen Widerstand dieser Leute stoßen, die mit ihrem Vermögen nicht nur ganze Armeen befehligen können, sondern auch so skrupellos sind, das zu tun. Welchen friedlichen Weg gibt es, dennoch eine halbwegs faire Umverteilung zu bewirken?

Zeise: Man sollte sich in der Tat keine Illusionen darüber machen, dass eine andere, gleichere Verteilung der erzeugten Güter dieser Welt sich ohne den unerbittlichen und gewaltsamen Widerstand der herrschenden Oberschicht durchsetzen lässt. Ob es einen friedlichen Weg gibt, weiß ich nicht. Zwei Beispiele: die russische Oktoberrevolution war an sich keine blutige Angelegenheit. Der mehrjährige Bürgerkrieg danach und der Kampf gegen die ausländischen Interventen aber sehr wohl. Zweites Beispiel: der 'New Deal' des US-Präsidenten Franklin Roosevelt ab 1933, als die Banken und Konzerne zerschlagen und umfangreiche Arbeitsprogramme und Infrastrukturprojekte staatlich angestoßen wurden, war eine Reaktion der herrschenden Klasse auf die verheerende Wirtschaftskrise. Ich will damit sagen, dass die halbwegs faire Verteilung Resultat einer tiefen Krise war. Friedlich oder nicht friedlich ist nur ein Gesichtspunkt. Es gibt leider keinen Königsweg.

MM: Mit welchen zukünftigen Aktivitäten wollen Sie sich für eine gerechtere Welt einbringen?

Zeise: Ich halte den Kampf gegen aktuelle und drohende weitere Kriege für am wichtigsten. In ökonomischen Fragen plädiere ich dafür, dass die, welche wie ich für den Sozialismus eintreten, und die anderen, welche für eine bessere Verteilung der Güter unter Beibehaltung des Kapitalismus plädieren, zusammenarbeiten müssen. Persönlich mache ich dafür das, was ich am besten kann. Reden und schreiben.

MM: Wir danken für das Interview.

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