MM: Sehr geehrter Herr Chaukair, die
aktuelle Berichterstattung über ein mögliches Kopftuchverbot bei Mädchen
unter 14 Jahren macht es notwendig, mit einigen juristischen Fragen zu
beginnen. Dürfen Eltern nach aktueller Rechtslage ihren Kinder bezüglich
dem Anziehen bestimmter Kleidungsstücke selbst eine Orientierung bieten
oder hat der Staat diesbezüglich mehr Rechte als die Eltern? Chaukair:
Das Grundgesetz gewährt den Eltern sowohl über die
Religions- und Glaubensfreiheit als auch über die Freiheit zur Erziehung
der eigenen Kinder das Recht, ihre Kinder religiös nach ihren
persönlichen Ansichten und ihrer Weltanschauung zu erziehen. Hierzu
gehört auch, dass die Eltern das Recht haben ihre Kinder zum Anziehen
bestimmter Kleidungsstücke zu erziehen, sei es bei muslimischen Mädchen
ab einem bestimmten Alter das Kopftuch, bei jüdischen Kindern die Kippa
oder bei Christen vielleicht eine bestimmte Art von Röcken, wie es bei
einigen christlichen Glaubensgemeinschaften der Fall ist.
MM: ...Und wie ist es mit der Orientierung?
Chaukair:
Eltern haben nicht nur das Recht Orientierung zu
bieten, sie haben als Erzieher sogar das Recht aktiv darauf hinzuwirken.
Zwingen dürfen sie natürlich nicht, das ist klar, auch muslimische
Eltern dürfen ihre Kinder nicht zum Einhalten religiöser Gebote zwingen.
Der Staat darf nur auf Basis von Gesetzen in Fällen, in denen das Wohl
der Kinder gefährdet sein könnte, in die Erziehung der Eltern
intervenieren und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen treffen. Eine
solche Beschränkung ist auch im Grundgesetz vorgesehen und den
allgemeinen Gesetzen ausführlich umgesetzt.
MM: Von den Medien bevorzugte sogenannte
Islamexperten behaupten in der Öffentlichkeit, dass das Kopftuch bei
Kindern im Islam angeblich keine Grundlage habe. Ist das relevant für
ein Berufen auf das Grundrecht von Religions- und Glaubensfreiheit?
Chaukair:
Grundsätzlich ist es rechtlich so, dass die Verfolgung von religiösen
Geboten plausibel und nachvollziehbar sein muss. Es reicht nicht, dass
man schlicht und möglicherweise nach dem eigenen Gutdünken behauptet,
eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Kleidungsstück ist Teil der
Ausübung der Religion. Im Falle des Kopftuches verhält es sich so, dass
unter islamischen Theologen, darunter fallen nicht sog. Islam-Experten,
Einigkeit oder zumindest ein sehr breiter Konsens darüber besteht, dass
das Tragen des Kopftuchs bzw. des Hidschabs, welcher nicht nur die
Bedeckung der Haare betrifft, ab einem bestimmten Alter eine religiöse
Pflicht darstellt.
MM: Und wann beginnt die religiöse Reife im
Islam?
Chaukair: Bei manchen wird die
Alterstufe auf 8 Jahre und 9 Monate (9 Mondjahre) gesetzt, bei anderen
noch früher, bei weiteren wiederum etwas später oder auch wenige Jahre
später bzw. mit dem tatsächlichen Beginn der Pubertät. Diese Pflicht
geht einher mit dem Eintritt in die religiöse Reife, wenn man so will
dem Eintritt in die sog. Religionsmündigkeit. Die gegenteilige
Behauptung mag auf die eine oder andere Art wissenschaftlich begründbar
sein, sie ist aber für die Ausübung der vorbenannten Grundrechte
letztlich nicht von Relevanz. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass
die Kinder ja nicht von einem Tag auf den anderen anfangen zu beten, zu
fasten usw. sondern sie werden schon lange vorher gewissenhaft
herangeführt, wie auch bei der Kopfbedeckung.
MM: Der Verbotswunsch wurde ja nicht nur
von einem Bundesland ins Spiel gebracht, sondern wird auch von dem
Vorsitzenden der so genannten Freien Demokraten unterstützt. Wie wollen
sie das juristisch begründen?
Chaukair:
Es stehen auf der einen Seite Eltern und Kinder
mit ihren Grundrechten: Glaubens- und Religionsfreiheit, Freiheit der
elterlichen Erziehung, allgemeines Persönlichkeitsrecht der Kinder, und
wohl auch die Unantastbarkeit ihrer menschlichen Würde. Auf der anderen
Seite steht der verfassungsgemäße Auftrag an den Staat das Bildungswesen
zu beaufsichtigen und somit zu regeln, und vor allem die gesetzlich
geltende Schulpflicht. Insbesondere die Schulpflicht würde zu einem
faktischen Zwang zum Abnehmen des Kopftuchs führen. Selbst vor dem
Hintergrund, dass Grundrechte einschränkbar sind und z.B. die
Grundrechte auf Glaubens- und Religionsfreiheit als auch die Freiheit
der elterlichen Erziehung bei Muslimen bereits eingeschränkt wurden, wie
z.B. im Falle des sogenannten koedukativen Sport- und/oder
Schwimmunterrichts, dürfte ein solches Kopftuchverbot, und der damit
verbundene Zwang dieses in der Schule abzunehmen, in eklatanter Weise
das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mädchen verletzen. Anders als
bei den bisherigen Einschränkungen, würden muslimische Mädchen gezwungen
etwas preiszugeben, was sie als ihre Privat- oder sogar Intimsphäre
betrachten. Das ist eine völlig neue Dimension. Hier sehe ich sogar die
Würde der betroffenen Mädchen angetastet. Halten diese Mädchen sich
nicht an ein solches Verbot, müssen sie und ihre Eltern sehr
wahrscheinlich schwere rechtliche Konsequenzen in Kauf nehmen, oder nach
alternativen Bildungseinrichtungen im In- oder Ausland suchen,
zusätzlich zu dem enormen medialen Druck, der bereits jetzt auf diesen
lastet. Wenn wir nochmal das Beispiel des Schwimmunterrichts heranziehen
- hier wurden sie immerhin nicht gezwungen im gewöhnlichen Badeanzug
teilzunehmen.
MM: ... wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Chaukair:
Die bisher ins Feld geführten Argumente bzw. Positionen lassen nicht
erkennen, dass ein solches Verbot in verfassungsgemäßer Form eingeführt
werden kann. Die neue Staatsministerin für Integration, Frau
Widmann-Mauz, als auch die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des
Bundes, Frau Lüders, haben diese und ähnliche Bedenken ebenfalls und
zurecht geäußert. Bereits beim Kopftuchverbot für Lehrerinnen hatte man
erhebliche Schwierigkeiten ein solches auf Grundlage des Grundgesetzes
einzuführen. Vorliegend ist auch der genannte Zweck, die Integration zu
fördern, Ausgrenzung zu vermeiden, ein ganz anderer, und der bzw. die
Gesetzgeber müssen sich ohnehin erstmal fragen, ob ein solches Gesetz
überhaupt geeignet ist diesen Zweck zu erreichen, ob sie diesen Zweck
mit einem anderen milderen Mittel erreichen können, und ob in einer
Gesamtschau der widerstreitenden Interessen ein solches Verbot für die
Betroffenen zumutbar wäre. Da müssen sehr viele Abwägungen stattfinden.
Wenn FDP-Chef Lindner davon spricht, dass ein solches Verbot
verhältnismäßig wäre, dann nimmt er das Ergebnis ohne jegliche plausible
Begründung bereits vorweg. Aus meiner Sicht ist aber eine langwierige
juristische Debatte vorprogrammiert.
MM: Nehmen wir an, ein Bundesland wollte
solch ein Kopftuchverbot erlassen, wie wäre der Gang der Dinge bis das
Gesetz wirksam ist?
Chaukair:
In der Regel ist es so, dass ein Gesetzesvorschlag
in ein Parlament eingebracht wird, meist von der jeweiligen
Landesregierung. Dieser wird dann dort diskutiert und schließlich zur
Abstimmung freigegeben. Findet er die nötige Mehrheit, gilt das Gesetz
als beschlossen und wird dann umgesetzt.
MM: Im Zusammenhang mit dem angedachten
Gesetzvorhaben ist immer wieder die Rede von 14 Jahren als
Religionsmündigkeit. Hingegen hat ein Kind bereits auch davor einige
Rechte. Wie ist die Gesetzeslage?
Chaukair:
Ja, die Religionsmündigkeit wird zwar mit dem
Alter von 14 Jahren erreicht, allerdings wird die Freiheit des
religiösen Bekenntnisses bereits mit dem Alter von 12 Jahren erreicht.
Und in strittigen Fällen, sollen Kinder sogar bereits im Alter von 10
Jahren von den Gerichten angehört werden. So sieht es das Gesetz zur
religiösen Kindererziehung vor, ein etwas älteres Gesetz zwar, es hat
aber Geltung. Auf dieser Grundlage ist das Verbot mit der Altersgrenze
von 14 Jahren, statt 12 oder sogar 10 Jahren, bereits gesetzeswidrig,
ganz unabhängig von seiner, aus meiner Sicht, offensichtlichen
Verfassungswidrigkeit.
MM: Für Juden ist z.B. das Tragen einer
Kippa religionsrechtliche Pflicht. Wäre es in Deutschland denkbar, dass
zwar ein Kopftuch verboten wird, nicht aber die Kippa?
Chaukair:
Denkbar ist es. Es dürfte aber aufgrund des
Gleichheitssatzes des Grundgesetzes keinerlei Bestand haben. Eine
Abweichung vom Gleichheitsgrundsatz stellt zunächst eine
Ungleichbehandlung, in Normaldeutsch Diskriminierung, dar, die nur bei
Vorliegen eines triftigen Grundes als verfassungsgemäß durchgehen kann.
Auch hier kann das Beispiel des Kopftuchverbotes bei Lehrerinnen
angeführt werden: Dieses wurde nach längeren gerichtlichen
Auseinandersetzungen nicht mehr allein als Kopftuchverbot formuliert,
sondern ist in ein allgemeines Verbot des Tragens bzw. Zeigens
religiöser Symbole und Kleidungsstücke geändert worden. Die aktuellen
Pläne müssen auch vor diesem Hintergrund sehr ausführlich juristisch
geprüft werden. Allerdings ist ein plausibler Grund, weshalb man bei
jungen Schülern andere religiöse Symbole und Kleidungsstücke von einem
möglichen "Kopftuchverbot" ausnehmen sollte, für mich nicht ersichtlich.
So etwas würde im Übrigen die These vieler Muslime bestärken, es finde
ein gezielter Kampf gegen den Islam statt.
MM: Kommen wir abschließend zu Ihrer Rechtspraxis, die
zumindest bisher wohl eher weniger mit dem Kopftuch zu tun hatte. Was
sind die juristischen Hauptprobleme, die Migranten in Deutschland haben?
Chaukair:
Menschen mit Migrationshintergrund haben wie alle
anderen auch Probleme mit ihren Vermietern, mit Vertragspartnern, beim
Kauf, Verkauf , sie haben auch Verkehrsunfälle usw. In meiner Kanzlei
kommen viele Fälle im Aufenthalts - und Asylrecht hinzu. Traurig sind
leider familienrechtliche Streitigkeiten, seien es Scheidungen oder
Konflikte wegen der Kinder. Hier vertrete ich zumeist die Interessen der
Väter. Auffällig ist hierbei leider, wenn ich es auch statistisch nicht
nachweisen kann, die hohe Zahl von Ehe- und Familienstreitigkeiten von
syrischen Flüchtlingen. Dies wird mir auch von Syrern selbst bestätigt,
die in der syrischen Community tief verwurzelt sind.
MM: Herr Chaukair, wir danken für das
Interview. |