Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Prof. Dreier

 

Prof. Dr. Horst DreierMuslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Horst Dreier, Jurist und Rechtsphilosoph - Autor des Buches „Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne“
18.5.2018

Prof. Dr. Horst Dreier wurde 1954 in Hannover geboren. Dort studierte er von 1975 bis 1981 die Rechtswissenschaften und ging anschließend als Wissenschaftlicher Assistent an die Universität Würzburg. 1985 folgte die Promotion und im Juli 1989 habilitierte er sich für die Fächer Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Verwaltungswissenschaften an der Universität Würzburg. An der Universität Heidelberg wurde er 1990 auf die Professur „Öffentliches Recht“ berufen. Kurz darauf folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für „Öffentliches Recht und Verwaltungslehre“ am Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg, wo er von 1991 bis 1995 lehrte. Seit dem Wintersemester 1995/96 ist er Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Von 2001 bis 2003 amtierte er als Dekan der Juristischen Fakultät.

Professor Dreier war von 1996-2001 Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes und von 2000-2004 Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für das Gebiet „Rechts- und Staatsphilosophie“. Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst hat ihm am 2. März 2000 einen „Preis für gute Lehre 1999“ verliehen. Von 2000 bis 2010 war Professor Dreier Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums der FEST (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V.). Die Auflistung aller seiner Auszeichnungen würde hier den Rahmen sprengen (siehe dazu Verlinkung unten).

Professor Dreier ist Herausgeber eines dreibändigen, neu konzipierten Grundgesetz-Kommentars und zahlreicher anderer Schriften. Zuletzt erschien sein Buch „Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne“.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Dreier. Sie haben erst jüngst ein Buch mit dem provokanten Titel „Staat ohne Gott“ geschrieben. Ist der Titel nicht provokant?

Prof. Dreier: Ich will gerne zugeben, dass der Titel provokant wirkt, aber vielleicht auch nur solange, bis man den ersten Satz des Buches – der auch prominent auf der Rückseite des Umschlags erscheint – liest. Er lautet: „Staat ohne Gott heißt nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott.“ Das sollte Missverständnissen vorbeugen, es könnte sich um eine atheistische Streitschrift handeln.

MM: ... wenn keine Atheismuswerbung, was dann ....?

Prof. Dreier: Wenn die Aufmerksamkeit dafür geweckt ist, was denn „Staat ohne Gott“ denn nun positiv bedeuten könnte, ist die Bahn frei für die Darlegung der zentralen Grundsätze eines säkularen Staates, der seinen Bürgern Religionsfreiheit gewährt und sich selbst religiös-weltanschaulich neutral verhält. Es geht also nicht gegen die Religion, der säkulare Staat ist kein antireligiöses Projekt. Den Religionen und auch den Weltanschauungen der Bürger wird Freiheit und Entfaltung gewährt. Für den Staat aber gilt das Gebot der Nicht-Identifikation. Nur so kann der Staat „Heimstatt aller Bürger“ sein, wie es das Bundesverfassungsgericht einmal formuliert hat. Würde er religiös oder weltanschaulich selbst Position beziehen, stände er ja einigen Bürgern näher als anderen.

MM: Die Veröffentlichung fiel zusammen mit der heftiger werdenden Islamdebatte. Was war die Motivation zu diesem Buch und hing es auch mit der Frage zusammen, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht?

Prof. Dreier: Als ich mit der Arbeit an dem Buch anfing – das war vor mehr als fünf Jahren –, bestimmten ähnlich wie heute einige notorischen Problemfälle die Diskussion: das Kopftuch der muslimischen Lehrerin, der Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, das Schächten des islamischen Metzgers. Aber das war für mich nicht mehr als der Hintergrund für die sehr viel grundsätzlichere Frage nach Programmatik und Problematik des säkularen Staates. Ich wollte nicht noch ein Buch über Kopftücher schreiben, sondern eine Art von prinzipieller Selbstvergewisserung oder vielleicht besser: Selbstvergewisserung über die zentralen Prinzipien des säkularen Staates vornehmen.

MM: Die Präambel des Grundgesetzes beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben“. Einmal abgesehen davon, dass der Artikel 146 faktisch besagt, dass sich das Deutsche Volk jenes Grundgesetz nicht frei gegeben hat, ist denn nicht gleich im ersten Satz der Gottesbezug gegeben?

Prof. Dreier: Fangen wir mit Ihrem beiläufigen Hinweis auf Art. 146 GG an. Der besagt keineswegs, dass das Grundgesetz nicht auf einer freien Entscheidung beruht, sondern, dass an dieser freien Entscheidung die Deutschen in der damaligen Sowjetische Besatzungszone nicht mitwirken konnten. Das Grundgesetz war das Werk der Deutschen in den drei Westzonen – und dort übrigens auch nicht, wie manche meinen, ein Diktat der Besatzungsmächte.

MM: ... und der Gottesbezug in der Präambel?

Prof. Dreier: Hier bedarf es einer doppelten Präzisierung. Erstens steht die Wendung im Vorspruch der Verfassung. Solche Präambeln haben in aller Regel keine regulative, sondern mehr eine appellative Funktion. Konkrete Rechtsfolgen ergeben sich aus der Bezugnahme auf Gott jedenfalls nicht. Insbesondere wird die in den Normen des Grundgesetzes gewährleistete Religionsfreiheit um keinen Deut geschmälert oder die Verpflichtung des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität eingeschränkt. Zweitens muss man den Unterschied zu den anderen Anrufungen Gottes sehen, wie wir sie in der Verfassungspräambeln der Schweiz oder Irlands finden. Dort heißt es: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ Das ist ein großer Unterschied. Wenn ich eine Verfassung im Namen Gottes erlasse, dann stütze ich mich auf ihn als eine Art von primärem Autor, in dessen Namen ich spreche. Das birgt in der Tat die Gefahr der Anmaßung in sich, die Verfassung als irgendwie göttlichen Ursprungs zu präsentieren. In der Präambel des Grundgesetzes finden wir die sehr viel defensivere, bescheidenere Formel einer „Verantwortung vor Gott“. Das ist im Grunde eine Demutsformel. Die Schöpfer des Grundgesetzes geben zu verstehen, dass das, was sie hier verabschieden, fehlerhaftes Menschenwerk ist und dass es Größeres und Höheres gibt als dieses. Es ist eine Relativierung staatlicher Macht und gerade keine Staatsapotheose.

MM: Einmal direkt gefragt, wird ein Staat ohne Gott nicht gottlos?

Prof. Dreier: Es zeichnet den säkularen, freiheitlichen Staat gerade aus, dass Religion kein Staatsattribut mehr ist – so, wie das lange Zeit in Frankreich und Spanien oder auch in deutschen Territorien der Fall war und wie das in manchen islamischen Staaten noch der Fall ist. Ob die Gesellschaft gottlos ist oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Staat ohne Gott heißt nur, dass Religion und Weltanschauung Sache der Bürger und der Gesellschaft sind. Religionsfreiheit wird gewährleistet – ob sie in Anspruch genommen wird, hängt von der Glaubenskraft der Menschen und der Religionsgemeinschaften ab. Aber gerade weil der Staat selbst keine Staatsreligion und auch keine Staatsweltanschauung kennt, können alle seine Bürger sich religiös und weltanschaulich frei entscheiden und betätigen. Der säkulare Staat ist nicht der erste Schritt hin zu Religionslosigkeit der Gesellschaft, sondern kann die religiösen Kräfte in der Gesellschaft gerade stärken. Ein bisschen abstrakter formuliert: Wir müssen die Säkularisierung der Gesellschaft (Rückgang der Kirchenmitgliedschaft, Rückgang religiöser Praxis, Rückgang religiöser Überzeugungen) streng von der Säkularität des Staates (Religionsfreiheit für die Bürger, religiös-weltanschauliche Neutralität als Pflicht des Staates) unterscheiden.

MM: An vielen Orten Deutschlands werden zu Karfreitag Feierlichkeiten mit Bezug auf den Trauercharakter des Tages verboten. Einmal abgesehen davon, dass viele Muslime jenen Trauerbezug unterstützen, wäre ja solch ein Verbot aus Ihrer Sicht angreifbar, zumal ein Großteil der Bevölkerung Schwierigkeiten damit haben dürfte zu erklären, was Karfreitag und Ostern eigentlich passiert ist ohne Osterhasen. Erlaubt denn das Grundgesetz keine solchen Rücksichtnahmen, wenn ein bestimmter Teil der Bevölkerung das wünscht, aber ein anderer Teil lieber feiern möchte?

Prof. Dreier: Es liegt im Wesen der Gewährleistung von Grundrechten, dass sie miteinander kollidieren können. Das gilt auch für eine denkbare Kollision zwischen dem Bedürfnis nach weltlichen Vergnügungen und dem nach religiöser Besinnung. Es ist die vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers, hier einen Ausgleich und eine Grenzregulierung zu finden. Im Fall der Feiertage haben wir sogar eine Regelung auf Verfassungsebene, nämlich Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV. Hierdurch ist auch der Karfreitag als ein besonders ernster christlicher Feiertag geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer kürzlich ergangenen Entscheidung ausgelotet, wie weit entsprechende landesrechtliche Verbote für weltliche Vergnügungsveranstaltungen an diesem Tag reichen und ob man eventuell für Ausnahmebestimmungen Vorsorge treffen muss. Man versucht also auch hier, die verschiedenen Freiheitsbetätigungen miteinander kompatibel zu machen.

MM: Die Würde des Menschen mit Gottesbezug zu definieren ist schon schwierig genug, da jene Interpretation letztendlich wiederum von Menschen erfolgt. Wie aber kann die Würde des Menschen ohne Gott definiert werden?

Prof. Dreier: Könnte es nicht genau umgekehrt sein: Man kann sich leichter auf den verfassungsrechtlichen Schutz der Würde des Menschen verständigen, wenn man die Frage der Letztbegründung für diesen Schutz (Glaube an Gott, rationaler Selbstschutzgedanke, Idee menschlicher Solidarität, humanistische Ideen etc. pp.) offen lässt. So jedenfalls war es bei den Beratungen zum Grundgesetz. Hier blieben Versuche, Menschenrechte oder Menschenwürde ausdrücklich als „von Gott gegeben“ zu bezeichnen oder auf einen Schöpfergott zu verweisen, erfolglos. Das bot die Chance, sich auf einen von vordergründigen politischen, religiösen, philosophischen oder weltanschaulichen Bekenntnissen freien Konsens auf relativ hoher Abstraktionshöhe zu verständigen. Theodor Heuss brachte es im Parlamentarischen Rat einmal mehr auf den Punkt: Menschenwürde, so sagte er, könne „der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen“. Gerade diese Begründungsenthaltsamkeit erwies sich als erfolgreich, wenn man nicht gleich sagen will: als segensreich.

MM: Sehen Sie denn in der aktuellen Debatten zu Kreuzen in öffentlichen Gebäuden in Bayern eine Gefahr für die Säkularität?

Prof. Dreier: Ich halte das für einen klaren Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. Denn das Neutralitätsgebot verpflichtet den Staat ja gerade dazu, sich nicht mit einer bestimmten Religion zu identifizieren. Und das Kreuz ist nun einmal das zentrale Symbol des Christentums – nicht des Islams, nicht des Judentums, nicht anderer Religionen und Weltanschauungen. Untauglich ist auch der Versuch, dieses religiöse Symbol nun einfach von staatlicher Seite aus umzuinterpretieren und es als eine Chiffre für die bayerische Tradition oder Identität auszugeben. Eine solche Okkupation der Deutung religiöser Zeichen steht dem Staat nicht zu. Und schließlich hilft auch der Hinweis darauf, dass die subjektive Religionsfreiheit derjenigen, die die Amtgebäude betreten, nicht verletzt sei, weil die Kreuze ja im Eingangsbereich hingen und man nur kurz mit ihnen konfrontiert werde, nicht weiter. Selbst wenn man dem zustimmt: Ein Verstoß gegen die Verfassung setzt nicht voraus, dass Grundrechte der Bürger verletzt werden. Das Neutralitätsgebot ist ein objektivrechtliches Gebot, an das der Staat auch dann gebunden ist, wenn eine Grundrechtsbeeinträchtigung nicht vorliegt.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Dreier, wir danken für das Interview.

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