MM: Sehr geehrter Herr Prof. Dreier. Sie
haben erst jüngst ein Buch mit dem provokanten Titel „Staat ohne Gott“
geschrieben. Ist der Titel nicht provokant?
Prof. Dreier: Ich will gerne zugeben, dass
der Titel provokant wirkt, aber vielleicht auch nur solange, bis man den
ersten Satz des Buches – der auch prominent auf der Rückseite des
Umschlags erscheint – liest. Er lautet: „Staat ohne Gott heißt nicht:
Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht:
Mensch ohne Gott.“ Das sollte Missverständnissen vorbeugen, es könnte
sich um eine atheistische Streitschrift handeln.
MM: ... wenn keine Atheismuswerbung, was
dann ....?
Prof. Dreier: Wenn die
Aufmerksamkeit dafür geweckt ist, was denn „Staat ohne Gott“ denn nun
positiv bedeuten könnte, ist die Bahn frei für die Darlegung der
zentralen Grundsätze eines säkularen Staates, der seinen Bürgern
Religionsfreiheit gewährt und sich selbst religiös-weltanschaulich
neutral verhält. Es geht also nicht gegen die Religion, der säkulare
Staat ist kein antireligiöses Projekt. Den Religionen und auch den
Weltanschauungen der Bürger wird Freiheit und Entfaltung gewährt. Für
den Staat aber gilt das Gebot der Nicht-Identifikation. Nur so kann der
Staat „Heimstatt aller Bürger“ sein, wie es das Bundesverfassungsgericht
einmal formuliert hat. Würde er religiös oder weltanschaulich selbst
Position beziehen, stände er ja einigen Bürgern näher als anderen.
MM: Die Veröffentlichung fiel zusammen
mit der heftiger werdenden Islamdebatte. Was war die Motivation zu
diesem Buch und hing es auch mit der Frage zusammen, ob der Islam zu
Deutschland gehört oder nicht?
Prof. Dreier: Als ich mit der Arbeit an
dem Buch anfing – das war vor mehr als fünf Jahren –, bestimmten ähnlich wie
heute einige notorischen Problemfälle die Diskussion: das Kopftuch der
muslimischen Lehrerin, der Schwimmunterricht für muslimische Mädchen,
das Schächten des islamischen Metzgers. Aber das war für mich nicht mehr
als der Hintergrund für die sehr viel grundsätzlichere Frage nach
Programmatik und Problematik des säkularen Staates. Ich wollte nicht
noch ein Buch über Kopftücher schreiben, sondern eine Art von
prinzipieller Selbstvergewisserung oder vielleicht besser:
Selbstvergewisserung über die zentralen Prinzipien des säkularen Staates
vornehmen.
MM: Die Präambel des Grundgesetzes
beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz
gegeben“. Einmal abgesehen davon, dass der Artikel 146 faktisch besagt,
dass sich das Deutsche Volk jenes Grundgesetz nicht frei gegeben hat,
ist denn nicht gleich im ersten Satz der Gottesbezug gegeben?
Prof. Dreier: Fangen wir mit Ihrem
beiläufigen Hinweis auf Art. 146 GG an. Der besagt keineswegs, dass das
Grundgesetz nicht auf einer freien Entscheidung beruht, sondern, dass an
dieser freien Entscheidung die Deutschen in der damaligen Sowjetische
Besatzungszone nicht mitwirken konnten. Das Grundgesetz war das Werk der
Deutschen in den drei Westzonen – und dort übrigens auch nicht, wie
manche meinen, ein Diktat der Besatzungsmächte.
MM: ... und der Gottesbezug in der
Präambel?
Prof. Dreier: Hier bedarf es einer
doppelten Präzisierung. Erstens steht die Wendung im Vorspruch der
Verfassung. Solche Präambeln haben in aller Regel keine regulative,
sondern mehr eine appellative Funktion. Konkrete Rechtsfolgen ergeben
sich aus der Bezugnahme auf Gott jedenfalls nicht. Insbesondere wird die
in den Normen des Grundgesetzes gewährleistete Religionsfreiheit um
keinen Deut geschmälert oder die Verpflichtung des Staates zu
religiös-weltanschaulicher Neutralität eingeschränkt. Zweitens muss man
den Unterschied zu den anderen Anrufungen Gottes sehen, wie wir sie in
der Verfassungspräambeln der Schweiz oder Irlands finden. Dort heißt es:
„Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ Das ist ein großer Unterschied. Wenn
ich eine Verfassung im Namen Gottes erlasse, dann stütze ich mich auf
ihn als eine Art von primärem Autor, in dessen Namen ich spreche. Das
birgt in der Tat die Gefahr der Anmaßung in sich, die Verfassung als
irgendwie göttlichen Ursprungs zu präsentieren. In der Präambel des
Grundgesetzes finden wir die sehr viel defensivere, bescheidenere Formel
einer „Verantwortung vor Gott“. Das ist im Grunde eine Demutsformel. Die
Schöpfer des Grundgesetzes geben zu verstehen, dass das, was sie hier
verabschieden, fehlerhaftes Menschenwerk ist und dass es Größeres und
Höheres gibt als dieses. Es ist eine Relativierung staatlicher Macht und
gerade keine Staatsapotheose.
MM: Einmal direkt gefragt, wird ein
Staat ohne Gott nicht gottlos?
Prof. Dreier: Es zeichnet den säkularen,
freiheitlichen Staat gerade aus, dass Religion kein Staatsattribut mehr
ist – so, wie das lange Zeit in Frankreich und Spanien oder auch in
deutschen Territorien der Fall war und wie das in manchen islamischen
Staaten noch der Fall ist. Ob die Gesellschaft gottlos ist oder nicht,
ist eine ganz andere Frage. Staat ohne Gott heißt nur, dass Religion und
Weltanschauung Sache der Bürger und der Gesellschaft sind.
Religionsfreiheit wird gewährleistet – ob sie in Anspruch genommen wird,
hängt von der Glaubenskraft der Menschen und der Religionsgemeinschaften
ab. Aber gerade weil der Staat selbst keine Staatsreligion und auch
keine Staatsweltanschauung kennt, können alle seine Bürger sich religiös
und weltanschaulich frei entscheiden und betätigen. Der säkulare Staat
ist nicht der erste Schritt hin zu Religionslosigkeit der Gesellschaft,
sondern kann die religiösen Kräfte in der Gesellschaft gerade stärken.
Ein bisschen abstrakter formuliert: Wir müssen die Säkularisierung der
Gesellschaft (Rückgang der Kirchenmitgliedschaft, Rückgang religiöser
Praxis, Rückgang religiöser Überzeugungen) streng von der Säkularität
des Staates (Religionsfreiheit für die Bürger, religiös-weltanschauliche
Neutralität als Pflicht des Staates) unterscheiden.
MM: An vielen Orten Deutschlands werden
zu Karfreitag Feierlichkeiten mit Bezug auf den Trauercharakter des
Tages verboten. Einmal abgesehen davon, dass viele Muslime jenen
Trauerbezug unterstützen, wäre ja solch ein Verbot aus Ihrer Sicht
angreifbar, zumal ein Großteil der Bevölkerung Schwierigkeiten damit
haben dürfte zu erklären, was Karfreitag und Ostern eigentlich passiert
ist ohne Osterhasen. Erlaubt denn das Grundgesetz keine solchen
Rücksichtnahmen, wenn ein bestimmter Teil der Bevölkerung das wünscht,
aber ein anderer Teil lieber feiern möchte?
Prof. Dreier: Es liegt im Wesen der
Gewährleistung von Grundrechten, dass sie miteinander kollidieren
können. Das gilt auch für eine denkbare Kollision zwischen dem Bedürfnis
nach weltlichen Vergnügungen und dem nach religiöser Besinnung. Es ist
die vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers, hier einen Ausgleich und eine
Grenzregulierung zu finden. Im Fall der Feiertage haben wir sogar eine
Regelung auf Verfassungsebene, nämlich Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV.
Hierdurch ist auch der Karfreitag als ein besonders ernster christlicher
Feiertag geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer kürzlich
ergangenen Entscheidung ausgelotet, wie weit entsprechende
landesrechtliche Verbote für weltliche Vergnügungsveranstaltungen an
diesem Tag reichen und ob man eventuell für Ausnahmebestimmungen
Vorsorge treffen muss. Man versucht also auch hier, die verschiedenen
Freiheitsbetätigungen miteinander kompatibel zu machen.
MM: Die Würde des Menschen mit
Gottesbezug zu definieren ist schon schwierig genug, da jene
Interpretation letztendlich wiederum von Menschen erfolgt. Wie aber kann
die Würde des Menschen ohne Gott definiert werden?
Prof. Dreier: Könnte es nicht genau
umgekehrt sein: Man kann sich leichter auf den verfassungsrechtlichen
Schutz der Würde des Menschen verständigen, wenn man die Frage der
Letztbegründung für diesen Schutz (Glaube an Gott, rationaler
Selbstschutzgedanke, Idee menschlicher Solidarität, humanistische Ideen
etc. pp.) offen lässt. So jedenfalls war es bei den Beratungen zum
Grundgesetz. Hier blieben Versuche, Menschenrechte oder Menschenwürde
ausdrücklich als „von Gott gegeben“ zu bezeichnen oder auf einen
Schöpfergott zu verweisen, erfolglos. Das bot die Chance, sich auf einen
von vordergründigen politischen, religiösen, philosophischen oder
weltanschaulichen Bekenntnissen freien Konsens auf relativ hoher
Abstraktionshöhe zu verständigen. Theodor Heuss brachte es im
Parlamentarischen Rat einmal mehr auf den Punkt: Menschenwürde, so sagte
er, könne „der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte
ethisch auffassen“. Gerade diese Begründungsenthaltsamkeit erwies sich
als erfolgreich, wenn man nicht gleich sagen will: als segensreich.
MM: Sehen Sie denn in der aktuellen
Debatten zu Kreuzen in öffentlichen
Gebäuden in Bayern eine Gefahr für die Säkularität?
Prof. Dreier: Ich halte das für einen
klaren Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. Denn das Neutralitätsgebot
verpflichtet den Staat ja gerade dazu, sich nicht mit einer bestimmten
Religion zu identifizieren. Und das Kreuz ist nun einmal das zentrale
Symbol des Christentums – nicht des Islams, nicht des Judentums, nicht
anderer Religionen und Weltanschauungen. Untauglich ist auch der
Versuch, dieses religiöse Symbol nun einfach von staatlicher Seite aus
umzuinterpretieren und es als eine Chiffre für die bayerische Tradition
oder Identität auszugeben. Eine solche Okkupation der Deutung religiöser
Zeichen steht dem Staat nicht zu. Und schließlich hilft auch der Hinweis
darauf, dass die subjektive Religionsfreiheit derjenigen, die die
Amtgebäude betreten, nicht verletzt sei, weil die Kreuze ja im
Eingangsbereich hingen und man nur kurz mit ihnen konfrontiert werde,
nicht weiter. Selbst wenn man dem zustimmt: Ein Verstoß gegen die
Verfassung setzt nicht voraus, dass Grundrechte der Bürger verletzt
werden. Das Neutralitätsgebot ist ein objektivrechtliches Gebot, an das
der Staat auch dann gebunden ist, wenn eine Grundrechtsbeeinträchtigung
nicht vorliegt.
MM: Sehr geehrter Herr Prof. Dreier, wir
danken für das Interview. |