MM: Sehr geehrter Prof. Duchrow, bereits im
Jahr 1986 publizierten Sie das Buch „Weltwirtschaft heute - ein Feld für
bekennende Kirche?“.1995 haben Sie "Alternativen zur kapitalistischen
Weltwirtschaft" auf Basis von biblischen Erinnerungen veröffentlicht,
was damals ins Englische, Spanische, Italienische, Koreanische,
Indonesische und Chinesische übersetzt worden ist. Und im Jahr 2017
wollten Sie mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Ist
der Ansatz realistisch?
Prof. Duchrow: Die Gegenfrage: ist es realistisch, zu erwarten,
die Lebensbedingungen der Menschheit würden erhalten bleiben, wenn wir
nicht mittel- und langfristig eine Alternative zum Kapitalismus finden?
Das Wesen des Kapitals – im Unterschied zum Geld, das als nützliches
Mittel für eine arbeitsteilige Gesellschaft unverzichtbar ist – besteht
darin, dass es wachsen muss. Darum ist die Maximierung des
Kapitalprofits – oder der Zinsrente die treibende Kraft und letztlich
der einzige Sinn der kapitalistischen Wirtschaft um jeden Preis. Darum
muss die Wirtschaft heute unbegrenzt und mit möglichst hohen Raten
wachsen. In einer begrenzten Welt ist aber der unendliche
Ressourcenverbrauch und der Ausstoß von Gift, Klimagasen usw. auf Dauer
für die Erde und die Menschheit untragbar. Die Klimakatastrophe ist der
für alle klarste Beweis. Das heißt, es ist nicht eine Frage, welche
Meinung wir haben, sondern: entweder wir schaffen den Kapitalismus ab
oder der Kapitalismus schafft uns ab. Das sollte insbesondere Muslime
nicht wundern. Denn der Prophet Mohammed hat wie die Bibel und
Aristoteles vor ihm das Zinsverbot sogar in der vorkapitalistischen
Wirtschaft ausgesprochen. Das war und ist – jedenfalls der Theorie nach
– der Grund für islamische Banken.
MM: Ihr 2002 erschienenes Buch "Leben ist
mehr als Kapital – Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums"
wurde ebenfalls in viele Sprache übersetzt. Warum fällt es
offensichtlich den meisten Menschen so schwer, diese Alternativen zu
erkennen?
Prof. Duchrow: Sie müssten sagen: „den meisten Menschen in den
reichen Ländern“. Denn die Mehrheit der Menschen weltweit leidet unter
dem Kapitalismus. Warum aber die Alternativen noch nicht greifen, hat
mindestens zwei Gründe: 1. Die bürokratische Form des real existierenden
Sozialismus hat als angebliche Alternative nicht funktioniert. Darum
meinen die Leute, es gäbe keine Alternative. Was das Eigentum betrifft,
so hatte der Parteisozialismus einfach den römisch-rechtlichen Begriff
des Eigentums übernommen: eben das absolute Herrschaftseigentum – nur
dass jetzt dieses von der Bürokratie der Partei statt der Privaten
kontrolliert wurde. Dazu hat Daniela Dahn das kritische Buch geschrieben
„Wir sind der Staat“. Die Alternative zu bauen geht nur von unten, also
von der lokal-regionalen Ebene aus. Das haben Franz Hinkelammert und ich
in dem von Ihnen genannten Buch in Kapitel 7 beschrieben. Der
Ausgangspunkt ist: Die Erde ist eine Gabe an alle Menschen (und Tiere),
in den abrahamischen Religionen sagen wir: eine Gabe Gottes. Darum ist
sie Gemeingut. Darum sind auch Kooperationsformen wie Genossenschaften,
oder muslimisch formuliert „Beteiligungswirtschaft“, die beste Form von
Wirtschaft. Das passiert bereits weltweit, aber erst in den Anfängen.
Viele Bücher erzählen bereits Beispiele.
MM: Ihre befreiungstheologischen Ansätze
greifen zuweilen ja auch eine durchkapitalisierte Kirche an, die zur
Säule des westlichen Wertesystems geworden ist. In wie weit sehen Sie
Chancen, dass aus dem kirchlichen Raum heraus Alternativen vorgestellt
werden können, wenn einerseits Großteile der Kirche sich mit dem
Kapitalismus arrangiert haben und andererseits große Teile der
Bevölkerung keine Beziehung mehr zur Kirche haben?
Prof. Duchrow: Das ist eine Frage, die mich schon zeitlebens
beschäftigt. Zunächst ist festzustellen, dass alle weltweiten
Kirchenbünde in offiziellen Beschlüssen den imperialen Kapitalismus
verworfen haben: Der Lutherische Weltbund 2003, der Reformierte Weltbund
2004 im Accra-Bekenntnis, die Utrechter Union der Altkatholiken 2006,
der Ökumenische Rat der Kirchen (mit zusätzlich den orthodoxen,
methodistischen, baptistischen und pfingstlerischen Kirchen) Anfang
November 2013 in seiner Vollversammlung in Busan, Papst Franziskus in
seinem Apostolischen Brief „Die Freude des Evangeliums“ Ende November
2013. Diese noch nie dagewesene Einheit in der Stellungnahme zur
politischen Ökonomie ist ein kirchengeschichtliches Ereignis ersten
Ranges. Daran haben wir seit mindestens 1983 gearbeitet.
Aber leider setzen unsere Kirchen in
Deutschland diese Beschlüsse nicht um, obwohl es auf örtlicher und
regionaler Ebene Ansätze gibt. Auch arbeiten Organisationen wie die
ökumenische Basisbewegung Kairos Europa oder die Akademie Solidarische
Ökonomie durch Tagungen und Veröffentlichungen an den Fragen der
notwendigen Transformation (s.
www.kairoseuropa.de).
MM: Als Mitherausgeber der Reihe „Die
Reformation radikalisieren“ haben sie im Jahr 2017 auch über die
Religionen, die sich für Gerechtigkeit in Palästina-Israel einsetzen
(sollten) nachgedacht. Seither ist die Ungerechtigkeit in Form einer
gesetzlich verankerten Apartheid noch deutlicher zutage getreten. Haben
Sie immer noch Hoffnung?
Prof. Duchrow: Im Blick auf das Apartheidsystem in Südafrika
hatte bis in die 1980er Jahre hinein auch niemand Hoffnung. Aber der
Widerstand der Bevölkerung und internationale Solidarität brachte die
Wende zur Demokratie. Je mehr ein System auf Gewalt setzen muss, desto
näher ist es seinem Ende. Und in Deutschland nehmen die Kampagnen derer,
die Kritik an den Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen des
Staats Israel als Antisemitismus zu diffamieren, derart rabiate Formen
an, dass die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen beginnt – bei aller
notwendigen Wachsamkeit gegen wirklichen Antisemitismus. Da aber der
Staat Israel seine Unterdrückungspolitik gegen die PalästinenserInnen
nur aufrecht erhalten kann, solange der Westen dies toleriert, wird er
seine Politik ändern müssen, wenn die Mehrheiten der westlichen
Bevölkerung das Unrecht nicht mehr länger hinnehmen. Die gewaltfreien
Methoden des Boykotts, des Divestments und der Sanktionen (BDS) sind ein
besonders gutes Mittel, um die Basis zu erweitern. Inzwischen beteiligen
sich daran fast alle historischen Kirchen z.B. in Südafrika, USA und
Kanada, in Schottland und in Schweden; auch viele Gewerkschaften,
Universitäten und sogar politische Parteien machen mit.
MM: Warum schweigen die deutschen Kirchen
aber auch die meisten Hochschullehrer bei fast allen Themen, bei denen
es um Gerechtigkeit geht?
Prof. Duchrow: Das müssen sie diese selbst fragen. In Deutschland
hatten wir das gleiche Problem im Fall der Apartheid in Südafrika. Wenn
Sie mich fragen, so liegt es vor allem daran, dass die Verflochtenheit
zwischen Staat, Wirtschaft und Kirchen in Deutschland besonders eng ist.
Außerdem ist es schwer für Reiche ins Reich Gottes zu kommen, wie schon
Jesus sagte. Auch der Prophet Mohammed hatte besondere Probleme mit den
reichen Händlern in Mekka. Hoffnung geben die befreiungstheologischen
Bewegungen in allen Weltreligionen.
MM: Die Goldene Regel ist in allen
Religionen bekannt. Im Islam gibt es zudem die kollektive Form der
Goldenen Regel gemäß einer Überlieferung: „Der gerechteste des Volkes
ist der, der für die Leute das wünscht, was er sich selbst wünscht, und
für die Leute das nicht wünscht, was er sich selbst nicht wünscht“. In
allen derzeit die Erde beherrschenden Kulturen dominiert das
Kains-Prinzip. Ist eine Überwindung dieser Lage ohne Erlösungserwartung
denkbar?
Prof. Duchrow: Ich glaube, dass diese Frage kein Mensch wirklich
beantworten kann. Allein Gott kennt die Zukunft. Aber diese ist in jedem
Fall offen. Es kann zu zunehmenden furchtbaren Katastrophen kommen –
insbesondere durch die Atombomben und den dramatischen Klimawandel. Aber
es können auch überraschende positive Dinge passieren. Ein Beispiel:
Viele Menschen haben den russischen Präsidenten Gorbatschow bewundert,
weil er wie aus heiterem Himmel den Kalten Krieg beendete. Ich kenne
aber Leute, die aus seiner persönlichen Umgebung wissen, dass er diesen
Schritt nur gewagt hat, weil er die starke Friedensbewegung im Westen
wahrgenommen hat. Ich hoffe vor allem auf eine breite Bündnisbildung
aller Kräfte in den Religionsgemeinschaften, die aus ihrem Glauben die
Konsequenzen für ihren Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung
der Schöpfung ziehen und sich darum mit den Bewegungen für soziale
Gerechtigkeit, den Frieden und die Ökologie einsetzen. Dazu müssen aber
noch mehr Menschen in den Religionsgemeinschaften aus ihrer Anpassung an
Macht und Reichtum befreit werden.
MM: Würden wir die Goldene Regel
völkerübergreifend anwenden, so müssten wir in Deutschland eine ganze
Reihe von Privilegien aufgeben, denn die Welt würde es nicht verkraften,
wenn alle so leben würden wie wir. Wie aber kann man ein ganzes Volk
bzw. die ganze Westliche Welt dazu bringen, freiwillig auf Privilegien
zu verzichten?
Prof. Duchrow: Freiwillig geben nie größere Anzahlen von Menschen
ihre Privilegien auf. Aber erstens nehmen die Katastrophen zu, wenn wir
so weitermachen wie jetzt, und das kann Wirkung zeigen. Beispiel: Frau
Merkel war gerade aus dem Atomausstieg wieder ausgestiegen, da passierte
Fukushima. Sofort änderte sie ihren unseligen Beschluss, weil sie sonst
die nächsten Wahlen verloren hätte. Zweitens: die jetzt noch zu gewinnen
meinen, hauptsächlich die Mittelklasse, werden bereits in eine kleine
Gruppe von Gewinnern und eine große Gruppe von VerliererInnen gespalten.
Das ist ja der Grund, warum sie Abstiegsangst haben und entweder
depressiv werden oder nach Sündenböcken suchen und darum AFD wählen. Um
das zu verstehen, kann man unser Buch lesen mit dem Titel
Solidarisch
Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus -
Wege zu ihrer Überwindung. Darin ist dann drittens auch zu
lesen, wie alternativ zu leben, nicht nur oder sogar gar nicht Verzicht
ist, sondern die Lebensqualität verbessert. Denn, so sagt die
Glücksforschung: Glücklich machen gelingende Beziehungen – nicht nur
persönlich, sondern auch sozial und im Verhältnis zur Natur.
MM: Ihr Buch "Gieriges Geld - Auswege aus
der Kapitalismusfalle - Befreiungstheologische Perspektiven", beinhaltet
auch viele Seiten über Wirtschaften im Islam und die damit
zusammenhängende Befreiung von Gier (das
Buch bieten Sie frei zum Download an). Antrieb des westlichen
Kapitalismus hingegen ist die Gier. Muss Europa die Gunst der Stunde
nutzen, um sich mehr der östlichen Welt zuzuwenden?
Prof. Duchrow: Auf jeden Fall. Die Zivilisation, die von der
Geldvermehrung und darum in den Abgrund getrieben wird, ist zwar in der
Antike vorbereitet, aber erst im imperialen Kapitalismus Europas voll
entwickelt worden – allerdings inzwischen in allen Kontinenten kopiert.
Demgegenüber haben neben dem Islam auch der Buddhismus seit der
Lebenszeit des Buddha wichtige Wege aufgezeigt, wie man die „Gifte“, die
Leiden erzeugen, nämlich Gier, Aggression und illusionäres Bewusstsein
überwinden kann. Ich habe gerade einen Beitrag für die Festschrift eines
buddhistischen Kollegen und Freundes, Karl-Heinz Brodbeck, geschrieben,
in dem auch die Bedeutung der chinesischen Philosophen Laozi, dem
Begründer des Taoismus, und Konfuzius in diesem Zusammenhang deutlich
wird. Ein weiteres Lernfeld wären die indigenen Kulturen mit ihrer Frage
nach dem „guten Leben“. Auch geopolitisch wandelt sich die Welt in diese
Richtung. Die Zeit der Unipolarität ist bereits vorbei – deshalb benimmt
sich Trump auch so grotesk, um die alte, aber schwindende Hegemonie zu
erhalten.
MM: Wirtschaftspolitische Kompetenz und
spirituelle Theologie scheinen in allen Religionen zwei völlig
verschiedene und einander fremde Welten zu sein. Müssen Theologen mehr
Wirtschaftswissenschaft studieren, um uns aus der Umklammerung des
Kapitalismus befreien zu können?
Prof. Duchrow: Ich hätte auf diese Frage fast geantwortet: sie
sollten vielmehr ihre eigenen Quellen, die Bibel, den Qur'an usw.
genauer lesen, um etwas von Wirtschaft verstehen zu lernen. Da erfahren
sie mehr über eine menschengerechte Wirtschaft als in den meisten
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, die dem Glauben an die
Absolutheit des Marktes und der Kalkulation verfallen sind (vgl. Hans
Chr. Binswanger, Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen). Aber Spaß
beiseite, die Frage, die Sie stellen, ist sehr wichtig und muss bereits
in der Schule ansetzen. Wir werden von der Kindheit an bewusst von
kritischem Wissen über Ökonomie ferngehalten, indem man uns weismacht,
von Wirtschaft verständen nur Experten etwas. Im Blick auf die
TheologInnen hatten wir mal eine Studienreform im Anschluss an die
1960er Jahre, die nicht nur Interdisziplinarität mit Ökonomie,
Soziologie, Politikwissenschaften förderte, sondern auch
Industriepraktika usw. anbot. Das ist alles wieder rückgängig gemacht
worden. Heute zählen möglichst gute Noten in Fachidiotie. Dadurch ist
die Theologie vielfach wieder sehr in den Individualismus verfallen, die
unbewusste Voraussetzung für kapitalistisches Denken. Darum Ihr Wort in
Gottes Ohr!
MM: Worüber werden Sie in Zukunft
schreiben?
Prof. Duchrow: Als nächstes wird eine kleine Arbeit erscheinen,
in der ich zusätzlich zu Luthers Kapitalismuskritik Thomas Müntzer in
die kritischen Überlegungen einbeziehe: „Marx im Gespräch mit Bibel,
Luther und Müntzer – Zur Bündnisbildung humanistischer Bewegungen und
der Ökumene der Religionen“. Es wird zusammen mit einem Aufsatz von
Franz Hinkelammert, Die Marx’sche Dialektik und der Humanismus der
Praxis, in einem
Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2018
erscheinen. Im gleichen Verlag VSA habe ich das Vorwort zur
deutschen Ausgabe eines sehr wichtigen Buchs geschrieben, das im
September erscheinen wird: Joerg Rieger/Rosemarie Henkel-Rieger,
Gemeinsam sind wir stärker – »Tiefe Solidarität« zwischen Glauben und
Arbeit. Hier zeigt sich an Erfahrungen aus den
USA, dass neben den Fragen des Eigentums und des Geldes ein neues
Verständnis der Arbeit und ihrer Würde zentral für die Alternativen zum
Kapitalismus sind. Außerdem bin ich mit Kairos
Europa in
einem Projekt engagiert, das christliche und
muslimische Gruppen und Gemeinden zu vernetzen versuchen, die mit
Flüchtlingen gemeinsam interreligiös gegen Fluchtursachen arbeiten. Das
nächste Mal treffen sich VertreterInnen dieses Netzes am 28.9. von 11-17
in Mannheim – direkt vor der
Jahrestagung von Kairos Europa vom 28.-30.9.2018.
Regional gibt es noch eine Tagung in Goslar zu „Religionsgemeinschaften
und Fluchtursachen“. Sollten VertreterInnen
muslimischer Gruppen oder Gemeinden an einer dieser Veranstaltungen
teilnehmen wollen, wäre ich sehr glücklich.
MM: Herr Prof. Duchrow, wir danken für das
Interview. |