MM: Sehr geehrter Herr Dr. Hever, sie
bezeichnen sich selbst nicht als Zionisten und nicht als Antizionisten,
treten aber gleichzeitig für ein gleichberechtigtes Miteinander aller
Bürger Palästinas ein, wie passt das zusammen?
Dr. Hever:
Ich denke, dass die Diskussion über die Geschichte und Vielfalt des
Zionismus interessant ist, aber hier nicht besonders relevant. Vergessen
wir nicht, dass der Antizionismus als Bewegung zumeist eine Bewegung
ultra-orthodoxer praktizierender Juden ist. Selbstverständlich gibt es
auch Antizionisten, die aus anderen Gruppierungen kommen, und ich
respektiere ihr Recht, sich selbst als Antizionisten zu beschreiben,
selbst wenn sie innerhalb dieser Bewegung eine Minderheit darstellen.
Genauso sollten wir nicht vergessen, dass die zionistische Bewegung
selbst unterschiedlich ist. Die Mehrheit identifiziert sich mit der
rassistischen Politik des Staates Israel, aber es gibt auch Menschen,
die gleiche Rechte für Palästinensern anstreben, die die BDS-Bewegung
unterstützen, die gegen die Ungerechtigkeiten in Palästina kämpfen und
sich Zionisten nennen. Ich respektiere ihr Recht, sich selbst als
Zionisten zu bezeichnen, auch wenn sie innerhalb dieser Bewegung eine
Minderheit sind. Wegen dieser kleinen Gruppe an Menschen nenne ich mich
nicht Antizionist. Es ist wichtiger für mich, für Gerechtigkeit,
Gleichheit und Freiheit zu kämpfen als für Bezeichnungen.
I think that the discussion of the history and
diversity of Zionism is interesting, but not very relevant here. Let’s
not forget that anti-Zionism as a movement is mostly a movement of
Ultra-Orthorodox observant Jews. Of course, there are also anti-Zionists
who come from other groups and I respect their right to define
themselves as anti-Zionists, even if they are the minority within this
movement. In the same way, let’s not forget that the Zionist movement
itself is varied. The majority identifies itself with racist policies of
the State of Israel, but there are also people who promote equal rights
to Palestinians, who support the BDS movement, who struggle against the
injustices in Palestine and call themselves Zionists. I respect their
right to define themselves as Zionists even if they are a minority
within this movement. Because of this small group of people, I do not
call myself an anti-Zionist. It is more important for me to struggle for
justice, equality and freedom than it is over labels.
MM: In der Regel befassen sich die Analysen
um Palästina mit den Auswirkungen der Besatzung auf die besetzten. Sie
haben sich auch mit den Auswirkungen auf den Besatzer befasst. Was ist
dabei vor allem zu nennen?
Dr. Hever:
Analysten haben gute Gründe, ihr Interesse auf die
Opfer der Besetzung zu konzentrieren und nicht auf die Täter. Meine
Arbeit zu diesem Thema begann vor etwa 14 Jahren, als nur sehr wenig
Material über die Auswirkungen der Besatzung auf Israelis existierte,
und es war wichtig für mich, zu dieser Debatte beizutragen, aber darin
steckt ist keinesfalls die Behauptung, dass die Wirkung der Besetzung
auf Israelis wichtiger oder interessanter wäre als ihre Auswirkung auf
Palästinenser.
Analysts are correct to focus their interest on the
victims of occupation rather than on the perpetrators. My work on the
topic began about 14 years ago, when very little material existed about
the effects of the occupation on Israelis, and it was important for me
to contribute to this debate, but it is by no means a claim that the
effect of the occupation on Israelis is more important or interesting
than its effect on Palestinians.
MM: ... aber zweifelsohne gibt es auch
diesen Effekt ...
Dr. Hever:
Das wichtigste Problem, um die Auswirkungen der
Besatzung auf Israelis zu verstehen, ist, dass der Kolonialismus eine
Gesellschaft von innen heraus zerreißt. Sie schafft Korruption und
Ungleichheit unter den Kolonialisten. Eine kolonialistische Gesellschaft
muss Geheimhaltung wahren, diskriminierende Gesetze verabschieden,
Kollektivstrafen ausüben und viel Gewalt anwenden, um die Kontrolle über
die einheimische Bevölkerung zu sichern. Früher oder später richten sich
alle diese Dinge gegen verschiedene Minderheiten innerhalb der
Kolonialistengesellschaft selbst und zerreißt sie. Das ist bei jeder
kolonialistischen Gesellschaft der jüngeren Geschichte geschehen, und
Israel/Palästina ist keine Ausnahme diesbezüglich.
The most important issue to understand about the
effect of the occupation on Israelis, is that colonialism tears a
society from within. It creates corruption and inequality among the
colonizers. A colonial society must use secrets, discriminatory laws,
collective punishment and a lot of violence in order to maintain its
control over the native population. Sooner or later, all these things
are turned against various minority groups within the colonizing society
itself, tearing it apart. This happened to every colonial society in
modern times, and Israel/Palestine is not an exception.
MM: Wenn die Besatzung sowohl für die
Besetzten als auch für die Besatzer negative Auswirkungen hat, welche
Kräfte bewirken denn dass die Besatzung aussichtslos weitergeführt wird?
Dr. Hever:
Ein weiteres wiederkehrendes Merkmal kolonialistischer Gesellschaften
ist ihre politische Lähmung. Politischer Einfluss hängt von Ehre und
Status ab, und diese werden dadurch erlangt, dass man beweist, dass man
"loyal und patriotisch" ist und den Palästinensern hinreichend feindlich
gegenübersteht. Falls ein israelischer Politiker versucht darzulegen
(wie es einige getan haben), dass die Besatzung die langfristigen
Interessen des Staates Israel schädigt, gilt er als unpatriotisch und
verliert sofort seine Popularität.
Another recurring feature of colonial societies is
that they become politically paralyzed. Political influence depends on
honor and status, and those are gained by proving that one is
sufficiently “loyal and patriotic” and sufficiently hostile towards
Palestinians. If an Israeli politician tries to point out (as several
have) that the occupation harms the long-term interests of the State of
Israel, they are deemed non-patriotic and lose their popularity at once.
MM: Gibt es keinen Ausweg für Israel?
Dr. Hever: Es gibt keinen Ausweg aus
dieser Falle, und tatsächlich gab es nie eine Kolonialmacht, die ihre
Kolonien aus Herzensgüte herausgegeben hat. Immer gibt es einen Kampf
und der Kampf ist nie einfach. Es ist der Kampf der Palästinenser, die
für ihre eigene Freiheit kämpfen, und die Israelis wollen diesen Kampf
nicht verlieren, selbst wenn das "Gewinnen", ihnen mehr Schaden zufügt
als Nutzen.
There is no way out of this trap, and indeed there
has never been a colonial empire which gave up its colonies out of the
kindness of its heart. There is always a struggle, and the struggle is
never easy. It is the struggle of the Palestinians who fight for their
own freedom, and Israelis do not want to lose this fight, even if
“winning” it causes them more harm than good.
MM: Die weltweite Boykottbewegung BDS hat
nur einen vergleichsweise geringen ökonomischen Effekt auf die
Wirtschaft Israels, warum wird sie dennoch so erbarmungslos bekämpft von
Anhängern des Zionismus?
Dr. Hever:
Ich stimme der Frage nicht zu, weil es einige Zionisten gibt, die BDS
unterstützen! Es sind die israelische Regierung und pro-israelische
Gruppen, die gegen BDS kämpfen (und nicht alle sind zionistisch). Sie
verstehen, dass BDS sehr effektiv darin ist, die ungleichen
Machtverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern aufzudecken. Wenn
jemand beim Betreten eines Supermarkts einen BDS-Flyer erhält, wird er,
selbst wenn er nicht davon überzeugt ist und ein israelisches Produkt im
Supermarkt kauft, sich des Systems der Unterdrückung bewusst werden,
unter dem dieses Produkt hergestellt wurde, und wie dieses Geld zur
Enteignung der Palästinenser beiträgt. Die Stärke von BDS liegt nicht in
seinen wirtschaftlichen Auswirkungen, die, wie Sie sagen, eher gering
sind, sondern in seiner aufklärenden Wirkung.
I disagree with the question, because there are
some Zionists who support BDS! It is the Israeli government and
pro-Israeli groups which are fighting against BDS (and not all of them
are Zionist). They understand that BDS is very effective in exposing the
unequal power relations between the Israelis and the Palestinians. When
someone receives a BDS flyer when entering a supermarket, even if they
are not convinced and do choose to buy an Israeli product in the
supermarket, they will become aware of the system of oppression under
which this product was produced, and how this money contributes to the
dispossession of Palestinians. The power of BDS is not in its economic
impact, which as you say is rather small, but in its educational impact.
MM: Können Sie sich denn als Bürger Israels
vorstellen, dass eines Tages in Israel alle Volksgruppen
gleichberechtigt zusammen leben werden und selbst die Vertriebenen
zurück können; das würde doch den jüdischen Charakter Israels beenden?
Dr. Hever:
Solange die palästinensischen Flüchtlinge selbst
das Rückkehrrecht nicht aufgeben, werden sie es nicht verlieren. Ich
glaube absolut, dass das, was Sie beschreiben, die Realität in
Israel/Palästina sein wird, und wahrscheinlich früher als viele von uns
denken. Die israelische Regierung verlässt sich zunehmend allein auf die
Waffengewalt, um ihre Kontrolle zu bewahren, und dies ist ein Zeichen
der Schwäche, sie hat die Legitimität zu herrschen in den Augen der
Palästinenser und auch in den Augen vieler Israelis und ausländischer
Regierungen verloren.
As long as the Palestinian refugees themselves do
not give up the Right of Return, they will not lose it. I absolutely
believe that what you describe will be the reality in Israel/Palestine,
and probably sooner than what many of us think. The Israeli government
increasingly relies on force of arms alone to maintain its control, and
this is a sign of weakness, it has lost the legitimacy to rule in the
eyes of the Palestinians, and also in the eyes of many Israelis and
foreign governments.
MM: ... und der jüdische Charakter?
Dr. Hever:
Was den "jüdischen Charakter" des Staates
betrifft, ist dies eine Frage, die genauer definiert werden müsste. Ich
denke, dass die Definition eines Staates als "jüdisch" durch seine
Apartheidgesetze, die eine Gruppe gegenüber anderen bevorzugen, durch
staatlich sanktionierte Diskriminierung und demographische Maßnahmen, um
eine jüdische Mehrheit mit Gewalt zu sichern, eine Definition ist, die
das Judentum extrem beleidigt. Das Judentum kann ohne Apartheid
existieren. Ein Staat, der voll von Synagogen, Museen, Zentren für das
Studium jüdischer Texte und Geschichte und voller jüdischer Kultur sein
wird, muss nicht von allen diese Dinge geleert werden, um muslimische,
christliche und andere Glaubensrichtungen zu feiern und jede Kultur und
jeden Religion zu respektieren.
As for the “Jewish character” of the state, this is
a matter that has to be defined more precisely. I think that defining a
state as “Jewish” through its apartheid laws that privilege one group
over others, through state-sanctioned discrimination and demographic
policies to try to ensure a Jewish majority by force, is a definition
which is extremely offensive to Judaism. Judaism can exist without
apartheid. A state which will be full of synagogues, museums, centers
for study of Jewish texts and history and full of Jewish culture does
not have to be empty of all these things to celebrate Muslim, Christian
and other faiths, and to equally respect every culture and every
religion.
MM: Warum gibt es so wenige Juden, die
solch ein Judentum gegen die rassistische Staatlichkeit verteidigen?
Dr. Hever:
Das ist einfach nicht wahr. Jüdische Gruppen und Gemeinschaften aus
aller Welt protestieren sehr offensichtlich gegen die israelische
Politik. Die am häufigsten verwendete Parole "nicht in unserem Namen",
denn als Juden lehnen wir es ab, mit den Verbrechen in Verbindung
gebracht zu werden, die der Staat Israel verübt. Es gibt bestimmte
Regierungen, wie die deutsche Regierung, die es bevorzugen, sich mit
pro-israelischen jüdischen Gruppen zusammenzutun und die
Pro-Gerechtigkeits-Gruppen zu ignorieren. Sie zu ignorieren bedeutet
aber nicht, dass es sie nicht gäbe oder dass sie klein seien.
This is simply not true. Jewish groups and
communities from all over the world protest very openly against the
Israeli policy. The most common slogan is “not in our name” because as
Jews, we refuse to be associated with the crimes committed by the State
of Israel. There are certain governments, such as the German government,
which find it more convenient to associate with pro-Israeli Jewish
groups and to ignore the pro-justice groups. Ignoring them does not mean
that they do not exist, or that they are small.
MM: Was sind ihre nächsten Projekte?
Dr. Hever:
Ich untersuche derzeit die Auswirkungen von BDS auf die israelische
Wirtschaft und schreibe einige Artikel über die israelische
Sicherheitspolitik. Nachdem mein neues Buch "The Privatization of
Israeli Security" (Die Privatisierung der israelischen Sicherheit)
veröffentlicht wurde, verfolge ich auch weiterhin die Entwicklungen der
israelischen Sicherheits- und Rüstungsfirmen und suche einen deutschen
Verleger, der mein Buch ins Deutsche übersetzen würde.
I am currently studying the effects of BDS on the
Israeli economy, and writing some papers on the Israeli security
policies. After my new book was published: the Privatization of Israeli
Security, I am still following the developments of Israeli security and
arms companies, and am looking for a German publisher who would like to
translate my book into German.
MM: Herr Dr. Hever, wir danken für das
Interview. |