MM: Sehr geehrter Herr Tilgner, was war der
Auslöser, dass Sie Ihre Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen
Sendern im Jahr 2010 beendet haben, um keinen eingebetteten Journalismus
mehr betreiben zu müssen, war es denn früher anders?
Tilgner: Unter „eingebettet sein“ habe
ich bisher immer die Situation der Korrespondentinnen oder der
Korrespondenten am Einsatzort verstanden. Sie haben Recht. Journalisten
sind bei ihrer Arbeit immer doppelt eingebettet. Zum einen an dem
Einsatzort: Mal ist man auf der einen und mal auf der anderen Seite „embedded“
– beim Embedding bei Streitkräften handelt es sich nur um die Spitze des
Eisbergs. Alle – ich wiederhole – alle Seiten versuchen,
Medienschaffende zu manipulieren und so weit wie möglich für ihre
Interessen zu nutzen oder sie zumindest zu neutralisieren. Dies zu
leugnen, ist für mich ein Zeichen, die Rahmenbedingungen der eigenen
Arbeit nicht begriffen zu haben oder nicht begreifen zu wollen.
MM: Und wie ist es unterhalb der Spitze
des Eisberges namens Embedded?
Tilgner: Embedded – also
eingebettet – ist man nur mehr oder weniger offensichtlich. Wenn man mit
Soldaten unterwegs ist, wird das eingebettet sein ganz offensichtlich.
Deshalb ist es wichtig, dass aus Berichten oder Interviews hervorgeht,
wo man eingebettet ist. Genau hier ist der heikle Punkt: Nur zu oft wird
das „Eingebettet sein“ verschwiegen. Meist wird – jedenfalls bei
Fernsehberichten - an der Art der Aufnahmen deutlich, dass die Autorin
oder der Autor eines Beitrages eingebettet ist. Das sind Irreführungen,
die nicht einmal böswillig sein müssen, denn oft fehlt das Bewusstsein
über ein Embedding. Dies liegt entweder daran, dass ein bestimmter Typus
der Medienschaffenden fast ausschließlich mit Militärs arbeitet und dies
verschweigt oder dass Journalistinnen oder Journalisten kein Bewusstsein für die Übergänge von
einem normalen zu einem militärischen Embedding entwickeln. Wenn das
Auftreten in militärischen Verbänden verschwiegen wird, kann man in der
Regel Absicht unterstellen. Wichtig ist der zentrale Punkt: Wenn ich
mich in einem bestimmten Umfeld befinde, bin ich automatisch „embedded“
– eingebettet – sei es nun in die westliche oder in die orientalische
Kultur. Leider gilt man gemeinhin nur als „embedded“, wenn man sich auf
der sogenannten Gegenseite befindet.
MM: Wie ist es mit der Einbettung in den
Arbeitgeber?
Tilgner: Sie haben völlig Recht:
zusätzlich eingebettet ist man in dem Medium, für das man berichtet: Das
kann weitreichende Konsequenzen haben. Die Einbindung in einen
westlichen Sender kann die Berichterstattung nachhaltiger prägen, als
das Umfeld, aus dem jemand berichtet. Auf die Konsumentin oder den
Konsumenten kommt also eine doppelte Schwierigkeit zu: Es geht darum,
die Darstellung doppelt zu filtern.
MM: ... und das alles zusammen hat dazu
geführt, dass Sie die öffentlich-rechtlichen Sender verlassen haben?
Tilgner: Meine Kündigung beim ZDF im
Herbst 2007 (nicht wie vom Sender suggeriert im Winter oder sogar erst
2008) hatte unterschiedliche Gründe, die vor allem aus der
Afghanistanberichterstattung resultierten. Für das Land war ich beim ZDF
zuständig. Die Berichterstattung über das Land wurde nicht mit mir
diskutiert und mehr und mehr mit Kollegen abgedeckt, die mit der
Bundeswehr ins Land kamen oder die zumindest in einem Fall sogar von der
Bundeswehr angefordert wurden. Ich habe vergeblich versucht, anders als
andere Kolleginnen und Kollegen in der deutschen Berichterstattung, mich
dem Einfluss des Einsatzfühungskommandos der Streitkräfte in Potsdam und
des Auswärtigen Amtes zu entziehen und den Einsatz der Bundeswehr und
die gesamte Afghanistan-Politik nicht zu beschönigen. Mein späterer
Arbeitgeber (das Schweizer Fernsehen SRF) war deutlich neutraler. Nicht
zufällig hat der Schweizer Bundesrat (vergleichbar mit der
Bundesregierung) den militärischen Beitrag des Landes zum
Afghanistaneinsatz zeitgleich mit meinem Ausscheiden beim ZDF beendet
und das vom Parlament gebilligte Kontingent von vier Stabsoffizieren in
den Reihen der ISAF zurückgezogen.
MM: Sie haben den Anfang der Islamischen
Republik Iran Vorort miterlebt, sie haben die Reste der Slums aus der
Schah-Zeit gesehen und durch Ihre langjährige Tätigkeit auch die
Entwicklung verfolgt. In der westlichen Welt wird seit nunmehr fast vier
Jahrzehnten darüber berichtet, dass der Iran wirtschaftlich am Boden
zerstört sei. Warum fällt eine differenzierte Betrachtung so schwer?
Tilgner: Um dieses zweifellos
existierende Problem besser zu verstehen, sollte man mit der
Berichterstattung in der Zeit der Pahlavi-Herrschaft beginnen. Der Vater
des 1979 gestürzten Schahs hatte Sympathie für den deutschen Faschismus.
Sein Sohn konnte nach einer Phase des Exils die Herrschaft mit einem vom
britischen Geheimdienst und der CIA organisierten Staatsstreichs 1953
wiedererringen. Er wurde auch wegen seiner Frauen zum Liebling der
deutschen Regenbogenpresse. Die islamische Bewegung im Iran hatte aus
diesen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland zusätzliche Probleme
akzeptiert zu werden.
Im Iran fand mit dem Sturz der Schahdiktatur
erstmals ein Regimewechsel in Friedenszeiten statt. Die Staaten des
Westens und deren Industrie setzten auf einen schnellen wirtschaftlichen
Zusammenbruch der jungen Islamischen Republik. Ich erinnere mich noch,
dass die westlichen Erdölfirmen ihre Spezialisten nach deren Abzug Ende
1978 und Anfang 1979 auf Mittelmeerinseln einquartierten, um ihre
Mitarbeiter nach einem von ihnen angestrebten Zusammenbruch der Republik
möglichst schnell wieder in den Erdölgebieten Südirans einsetzen zu
können. Die Medien verbreiteten Negativmeldungen über die Entwicklungen
der Islamischen Republik, um die öffentliche Atmosphäre für ein Rollback
zu schaffen.
MM: ... kurze Zeit später griff Saddam
die noch junge Islamische Republik Iran an...
Tilgner: Die Parteinahme des Westens für
Irak im ersten Golfkrieg war eine logische Konsequenz, die sich bis
heute in vielen antiiranischen Berichten fortsetzt. Vor allem die
deutschen Medien zeichneten nach dem Sturz des Schah ein negatives
Iran-Bild, das sich besonders in der Darstellung der wirtschaftlichen
Probleme zeigte. Die bis heute anhaltende mediale Kampagne über die
wirtschaftliche Schwäche Irans widerspricht insbesondere in den
vergangenen Jahren der Darstellung Irans als Gefahr für die regionale
Stabilität.
Dass Iran wegen der von den USA seit 1980
verhängten Wirtschaftssanktionen eine relative wirtschaftliche
Eigenständigkeit entwickeln konnte, wird systematisch übergangen. Die
Sanktionen haben Iran gezwungen, sich selbständig zu entwickeln und die
Rahmenbedingungen für eine verzerrte Entwicklung gebildet. Iran wurde
vom Weltmarkt abgekoppelt. Die relativ große Bevölkerung und die trotz
der Sanktionen bestehenden Öleinnahmen waren die Bedingungen für eine
derartige selbständige Entwicklung. Eine differenzierte Betrachtung
fällt so schwer, weil sie US-Wirtschaftsinteressen und auch europäischen
Wirtschaftsinteressen widerspricht. Zwar äußern Politiker Westeuropas
immer wieder die Absicht, eine eigenständige Iran-Politik zu entwickeln,
faktisch folgt die europäische Politik jedoch den Vorgaben der USA. Das
hat sich insbesondere in den vergangenen Monaten wieder gezeigt.
MM: Als Sie sozusagen ausgestiegen sind,
war das Verhältnis zu den USA zumindest für westliche Politiker noch
intakt. Inzwischen hat sich die Lage drastisch verändert. Dennoch
scheinen viele Journalisten nicht die notwendige Freiheit zur Kritik an
kriegerischen US-Interventionen zu haben. Liegt das wirklich nur an der
Politik, oder denken nicht viele Journalisten selbst so unkritisch?
Tilgner: Fehlende Kritik in der
Berichterstattung hat unterschiedlichste Elemente. Zum einen hat sich
die Form der militärischen US-Interventionen geändert. Demokratisierung
durch Krieg wird nicht mehr angestrebt. Auch begrifflich hat dies
Konsequenzen. Es wird heute im Gegensatz zum Beginn der Kriege in
Afghanistan und Irak schneller von Krieg geredet. Heute wird über Kriege
berichtet, ohne die Gründe für ihr Scheitern zu benennen. Die Lage in
Mali und Niger wird auch beschönigt, um das Scheitern deutscher Soldaten
zu verschweigen. Statt in diesen Kriegen und in dem gleichzeitigen
Scheitern der Globalisierung (als Mittel zur weltweiten
Wirtschaftsentwicklung) zentrale Ursachen für die Ausbreitung des
Terrorismus zu sehen, wird diese in der Regel allein dem Islam
angelastet. Das journalistische Umdenken wird erschwert, weil die
hochindustrialisierte Welt nicht die Verantwortung für wirtschaftliches,
politisches und militärisches Scheitern übernehmen und die Folgen tragen
will und zunehmend glaubt, die eigenen Privilegien durch Abschottung
sichern zu können. Journalismus ist nicht erst heute, sondern war schon
immer ein Mittel zur Beeinflussung von Untertanen.
MM: "Der inszenierte Krieg", wie Ihr
Buch über die Täuschungen zum Irak-Krieg heißt, hat nie zu irgendwelchen
Konsequenzen bei den Menschen geführt, die für den Tod von einer Million
Menschen verantwortlich oder mitverantwortlich sind. Welche Auswirkungen
haben diese moralischen Verwerfungen in der Politik auf den
Journalismus?
Tilgner:
Nicht der Journalismus hat sich geändert, sondern die Politik wird heute
von vielen Menschen anders gesehen. Die Medien stehen so schlecht da,
weil nur ein kleiner Teil von ihnen die katastrophale Entwicklung
darstellt und dargestellt hat. Statt die zusätzlichen Probleme mit dem
ausländischen Eingreifen zum Beispiel im Orient zu erklären, wird einer
ganzen Region und den dort lebenden Menschen die Fähigkeit abgesprochen,
sich demokratisch zu entwickeln. Ein wichtiger Teil der Leitmedien
übernimmt diese Sicht und produziert Berichte, die das Scheitern beim
Erreichen von westlichen Politikern genannter Ziele mit einer falschen
Darstellung begründet, z.B. mit in der Region existierender Korruption,
mit nicht mehr bezahlbare Kriegskosten oder sogar mit der fehlenden
Lernbereitschaft der dort lebenden Menschen.
MM: Sie haben bereits im Jahr 2006 über
den Zusammenprall von Islam und westlicher Politik im Mittleren Osten
geschrieben. Inzwischen findet der Zusammenprall in viel näheren
Regionen bis hin vor unserer Haustür statt. Was kann Journalismus dazu
beitragen, dass wir aus dieser teuflischen Spirale ausbrechen?
Tilgner: Journalismus kann Probleme
nicht lösen und sollte darin bestehen, sie zu beschreiben und zu erklären.
Darunter verstehe ich, die Wurzeln des Terrors und das Scheitern
westlicher Politik zu zeigen. Islam und Christentum ähneln sich stark,
wenn heute der Untergang der christlichen abendländischen Kultur
beschworen wird, ist dies lächerlich. Wenn Einwanderer nicht die
gleichen Chancen haben wie Menschen, deren Vorfahren angeblich schon in
dem Lande lebten, dann darf sich niemand wundern, wenn das Zusammenleben
nicht funktioniert. Wenn unter Integration Assimilation verstanden wird,
darf sich niemand wundern, wenn in Ghettos Kleinkriminelle zu
Terroristen werden. Journalismus kann Terror nicht verhindern, aber er
kann dazu beitragen, dass Menschen eine Politik stärken, die dem Terror
die Grundlage entzieht. Nur sind die Leitmedien nicht in der Lage, einen
derartigen Journalismus zu fördern und zu stärken.
MM: Wenn nicht die Leitmedien, wer dann?
Tilgner: Einzelne Journalistinnen oder
Journalisten können ihren Beitrag leisten. Allerdings wird es schwer, in
einer Welt der Neuen Medien mit Verschwörungstheorien und Fake News
durchzudringen. Das Problem ist alt. Die neuen Medien haben nur die
Bedingungen verändert. Es ist heute leichter, Meinungen kundzutun, aber
es ist schwieriger, die Lage zu verstehen. Noch vor 30 Jahren war es
relativ einfach, Falschmeldungen oder die Hetze in der Bild-Zeitung zu
durchschauen. Heute ist es auch wegen der in den neuen Medien
verbreiteten Flut der Informationen mit haltlosen Behauptungen von
Politikern schwieriger geworden, sich ein Bild der Wirklichkeit zu
machen. Letztlich kommt es auf die Einzelne oder den Einzelnen an, ob
sie oder er in der Lage ist, sich nicht Irre führen zu lassen.
Aufklärung und das Verstehen der Wirklichkeit ist die Aufgabe von
Individuen und kann nicht von Institutionen übernommen werden.
MM: Welche Projekte können wir von Ihnen
in Zukunft erwarten?
Tilgner: Keine. Ich bin zu alt.
Möglicherweise wird in der Schweiz eine Kino-Dokumentation über meine
Arbeit im Orient und aktuelle Schlussfolgerungen entstehen. Da bin ich
dann physisch und intellektuell gefordert. Danach werde ich wohl nur
noch Einzelne aufrütteln können. Letztlich werde ich wie so viele in der
Ecke des "skurrilen Alten" enden.
MM: Herr Tilgner, wir danken für das
Interview? |