Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Prof. Günther

 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Hans-Christian Günther, klassischer Philologe an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
19.1.2019

Prof. Dr. Hans-Christian Günther (Jahrgang 1957) ist klassischer Philologe am Seminar für Griechische und Lateinische Philologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Prof. Günther ist in Müllheim (Baden) geboren und hat nach dem Abitur Griechisch, Latein, Sprachwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Oxford studiert. Im Jahr 1985 folgte in Freiburg die Promotion, wo er ab 1986 als Akademischer Rat tätig war. 1991 folgte die Habilitation – die Habilitationsschrift hat er während seines Aufenthaltes am Lincoln College Oxford verfasst – und Tätigkeit als Privatdozent in Freiburg. Im Sommersemester 1999 wurde er zum apl. Professor ernannt. Zu seinen Auszeichnungen gehört der Gerhard Hess Preis der DFG.

Prof. Günther beherrscht die Sprachen Englisch, Italienisch, Latein, Altgriechisch, Neugriechisch, zudem im geringeren Umfang Französisch, Spanisch, Georgisch und hat Grundkenntnisse in Japanisch und Chinesisch. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem antike Philosophie, die griechischen Tragödie, byzantinischer Philologie und Übersetzung neugriechischer Lyrik sowie die Antike im interkulturellen Vergleich, interkulturelle Philosophie, internationales Recht und Politik und der interreligiöse Dialog.

Seit 2004 ist er vor allem im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen tätig mit zahlreichen Veröffentlichungen. Er lehrt regelmäßig in Italien und hat zahlreiche Aufenthalte als Gastwissenschaftler in der Schweiz, Polen, Georgien, Indonesien, Iran, Korea, Japan und China. Er ist Herausgeber mehrerer Buchreihen, selbst Autor zahlreicher Bücher und sitzt im wissenschaftlichen Beirat zahlreicher wissenschaftlichen Zeitschriften.  Er schreibt regelmäßig Kommentare zu aktuellen Themen unter NEX24.

Prof. Günther hat den Islam angenommen und lebt im Großraum Freiburg.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Günther, wie kommt ein deutscher klassischer Philologe am Seminar für Griechische und Lateinische Philologie dazu, Erdogan wählen zu wollen und die Sanktionen gegen den Iran zu kritisieren?

Prof. Günther: Ja, der Weg von der Klassischen Philologie zu Erdogan scheint wirklich weit zu sein, und ich dürfte mit meiner Einschätzung der Lage hier auch auf wenig Verständnis in der - ich möchte fast sagen - europäischen Universitätslandschaft stoßen. Die Gründe für mein Eintreten für den Islam liegen zwar zum Teil in meiner persönlichen Biographie, sind aber durchaus auch mit meiner akademischen Tätigkeit verbunden. Ich war seit meiner Kindheit von anderen Kulturen fasziniert; insbesondere Iran und Zentralasien, China und Japan zogen mich an. Mit der islamischen und der persischen Kultur insbesondere habe ich wie selbstverständlich ein sehr nahes Verhältnis entwickelt: buchstäblich seit meiner Kindheit - noch bevor ich viel verstehen konnte - hat Goethe mein Leben geprägt, und prägt es noch heute. Goethes Hochschätzung des Islam, besonders aber seine Aneignung der persischen Kultur im ,West-östlichen Divan' haben mich tief beeindruckt und vielleicht sogar noch mehr die davon angeregte Aneignung islamischer Dichtung, insbesondere Mevlanas, in den Nachdichtungen Friedrich Rückerts. Mevlana wurde so für mich eine der wichtigsten Gestalten der Weltkultur.

MM: Führte der Weg von der Philologie zur Religion?

Prof. Günther: Neben klassischer Philologie habe ich nun ja auch in gleicher Weise Philosophie studiert. Seit meiner Gymnasialzeit war es für mich evident, dass Martin Heidegger der bedeutendste europäische Denker der ,Moderne' ist. Meine Auseinandersetzung mit der antiken Kultur war somit irgendwie immer von Heidegger geprägt. Heidegger hinterfragt die unausgesprochenen Grundlagen des europäischen Denkens im griechischen Denken. Dadurch wird die europäische Kultur in ihrer spezifischen Ausprägung offengelegt, d.h. auch in ihrer Beschränktheit. So wird das von Europa kommende Denken offen für das Denken anderer Kulturen.

So kam ich wie selbstverständlich zur sog. interkulturellen Philosophie - ich würde vorziehen von interkulturellem Denken zu sprechen -, und ich glaube nur mit dieser interkulturellen Dimension kann das, was man landläufig Philosophie nennt, heute für das Leben fruchtbar sein. Akademische Philosophie hat mich nie interessiert; Denken bedeutet für mich: kritischer Intellektueller zu sein - freilich nicht im Sinne von vordergründiger Banalität.

MM: Wie kam es zu Ihrer neuen Ausrichtung?

Prof. Günther: Als ich glaubte, im strikt akademischen Betrieb meines Faches genug geleistet zu haben, habe ich mich seit etwa 2000 hauptsächlich dem Dialog der Kulturen und Religionen zugewendet. Seit meiner Kindheit war für mich politisch - gesellschaftliches Engagement selbstverständlich, wenn es auch zu verschiedenen Zeiten meines Lebens eine verschieden große Rolle gespielt hat. Ich denke aber, wenn man älter wird, fragt man sich immer mehr nach der Relevanz seines Handelns. Mir schien, dass die gesellschaftliche Relevanz gerade des klassischen Philologen als dessen, der die Grundlagen unserer europäischen Kultur gründlich kennt, im Bauen von Brücken zwischen unserer und anderen Kulturen besteht.

Zudem kommt man im Alter auch immer mehr auf seine Wurzeln zurück: mir - aufgewachsen in einem strikt protestantisch geprägten Milieu im stark religiös geprägte Nachkriegsdeutschland - wurde immer deutlicher, dass die zentrale Frage, um die mein Leben immer kreiste und kreist, die Frage nach Gott ist. So habe ich mich besonders dem Dialog der Religionen zugewendet.

Durch meine bis auf 1987 zurückgehenden engen Kontakte zu Japan begann ich mit dem Dialog ,Christentum - Buddhismus'. Ich wendete mich dann aber, ohne mein Interesse an Ostasien je zu verlieren, bald immer mehr dem Islam zu. Einerseits glaube ich, dass das friedliche Zusammenleben der Welt mit dem Islam eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart ist, außerdem ist der Zugang zum Islam für den vom Christentum Herkommenden besonders kongenial - das sollte man eigentlich gar nicht erst sagen müssen. Und abgesehen davon: der Islam hat nicht nur das Denken des europäischen Mittelalters erst ermöglicht, der Islam ist ein selbstverständlicher Teil der deutschen Kultur. Wer wie ich mit Goethe und Rückert aufgewachsen ist, hat das in sich.

MM: Dann gehört Islam ja doch zu Deutschland!?

Prof. Günther: Die lächerliche Diskussion, ob der Islam zu Deutschland gehöre, zeigt, welche halbgebildeten Fatzken heute die gesamte öffentliche Diskussion beherrschen. Zudem fühlte ich auch immer eine große Affinität zur Mentalität von Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis. Ich habe mit Muslimen (ich meine nicht Halbstarke mit Migrationshintergrund) nur sehr positive Erfahrungen gemacht. Ein ganz entscheidender Teil meines Lebens spielte sich in Griechenland ab: das Griechenland, in dem ich ab 1977 quasi lebte, war nicht Europa. Es war der Türkei weit näher.

Zudem erlebte ich Muslime immer als die Schwachen, Diskriminierten und weltweit geradezu einem Völkermord Ausgesetzten. Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, dass wahre Menschlichkeit und Religiosität Einsatz für die Schwachen und Leidenden bedeutet.

Je mehr ich mich dann mit dem Islam befasste, desto größer wurde auch meine Bewunderung für diese Religion und meine persönliche Affinität zu ihrem Gottesbild und ihrer Ethik. Dies hat inzwischen sogar dazu geführt, dass ich zum Islam übergetreten bin.

MM: Und deswegen würden Sie Erdogan wählen?

Prof. Günther: Was Erdogan anbelangt, so habe ich die kemalistische Türkei immer für einen kulturlosen Unstaat gehalten. Die osmanische Kultur ist der Islam. Ich habe Erdogan dafür geschätzt, dass er der Türkei ihre islamische Kultur wiedergegeben hat. Wie er - im Geist des Islam - in der Türkei den Kurden, anderen Volksgruppen und Religionen ihre Würde zurückgegeben hat, die wirtschaftliche Situation und die öffentlichen Dienstleistungen für die kleinen Leute verbessert hat. Erdogan hat auch schwere Fehler gemacht: ich war entsetzt und wütend, dass er im Syrienkonflikt auf den Wagen des Westens aufgesprungen ist. Trotzdem glaube ich, dass seine Leistungen die Fehler weit überwiegen. Er ist einer der wenigen Politiker von Einfluss heute in der Welt, den ich überwiegend positiv sehe. Die Kampagne in Deutschland gegen Erdogan, im Grunde genommen eine gegen die Türkei und den Islam, halte ich für so dumm, empörend, widerwärtig und vor allem auch so konträr zu deutschen nationalen Interessen, dass mir die Worte fehlen.

MM: Und warum kritisieren Sie die Sanktionen gegen den Iran?

Prof. Günther: Die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran sind so offensichtlich eine völkerrechtswidrige Schurkerei, dass ich mit meiner Opposition gegen sie nicht einmal im wenig islamfreundlichen deutschen akademischen Ambiente ganz allein stehe. Meine Unterstützung des Iran geht aber weiter: ich glaube, dass der Iran geradezu das Vorbild eines auf geistige Werte gegründeten Staates ist. Die iranische Revolution muss sich seit vierzig Jahren gegen Barbarei und Gewalt von außen verteidigen. Sie konnte so nie das voll verwirklichen, was Imam Chomenei gewollt hat. Es gibt deshalb gewiss auch im Iran Dinge, die man kritisieren kann, aber ich werde das erst dann tun, wenn der Iran von äußerer Bedrohung frei ist. Vorher weigere ich mich, in der westlichen Öffentlichkeit überhaupt Kritik am Iran zu üben.

MM: Sie haben Imam Chomeini als größten Muslim der Nachkriegszeit bezeichnet. Gab es dafür keinen Ärger?

Prof. Günther: Nun, ich habe noch viel kontroversere Dinge öffentlich gesagt oder gar publiziert. Einmal wurde ich bei einem Vortrag an der Universität Wien auch fast verprügelt. Aber ich denke, zum Glück bin ich viel zu unwichtig, als dass es sich lohnen würde, mir allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Natürlich ist es auch im akademischen Bereich so: wer nicht Mainstream-Ansichten vertritt, wissenschaftlich und politisch, ist raus. Ersteres ist dabei sogar noch wichtiger als das Zweite. Ich kenne zahlreiche Fälle hochqualifizierter Personen, die es an an der Universität zu nichts gebracht haben. Dass ich eine Beamtenstelle habe, ist nur ein glücklicher Zufall. Und mehr als eine niederrangige Stelle war nie drin, denn ich habe mich nie angepasst. Dass ich es zu internationalem wissenschaftlichen Ansehen gebracht habe, verdanke ich einem der großen alten Wissenschaftler, bei denen ich noch lernen konnte. Allerdings, wäre ich nicht Beamter geworden, wäre es mir längst aufgrund wissenschaftlicher Kontroversen wie Herrn Ganser gegangen. Was die Politik anbelangt, hoffe ich mal, dass ich weiter ein so unwichtiger kleiner Professor bleibe, dass man mich nicht zur Kenntnis nimmt.

MM: Das wollen wir nicht hoffen. Sie haben schon einige Male Ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die muslimische Welt sich vereinigen und von den Fesseln des Kolonialismus befreien würde. Insbesondere haben Sie Ihren Wunsch zu einer Allianz der Türkei mit dem Iran betont. Welches Interesse kann ein Deutscher daran haben?

Prof. Günther: Man spricht ja heute viel von einer ,multipolaren' Weltordnung. Gerade Vladimir Putin hat das - etwa in einer Rede auf dem Valdai-Forum - ausgeführt. Ich glaube in der Tat, dass nur durch eine derartige Machtbalance international Stabilität und Friede möglich sind. Das Vorbild einer solchen Ordnung ist die erfolgreiche Ordnung des postnapoleonischen Europas durch Metternich; solch einer Politik bedarf die Welt heute mehr denn je.

Eine solche multipolare Welt kann nicht nur im Interessenausgleich USA - Russland - China bestehen, sie bedarf auch einer stabilen geeinigten muslimischen Welt, zumal der Islam die einzige eigenständige geistige Kraft ist, die die Dritte Welt gegen Europa mit ihrer sie inzwischen beherrschenden Appendix USA und gegen die neue Kolonialmacht China vertreten kann. Die islamische und die dritte Welt leben immer noch im Chaos, als Spielball des Westens und inzwischen noch mehr Chinas. Diese Ansicht habe ich schon immer allein deshalb vertreten.

MM: Plädieren Sie also für eine Art islamischen Block?

Prof. Günther: Ein ,vierter' islamischer Block ist freilich noch aus anderen Gründen nötiger denn je: es konnte lange so aussehen, als ob eine stabile und positive multipolare Ordnung dadurch entstehen könnte, dass Russland und China das verbrecherische Monopol des Westens brechen. Das hat sich als fataler Irrtum erwiesen. China ist heute eine noch größere Bedrohung für die Welt als die USA: es ist zur rassistischen Kolonialmacht entartet, deren Konzept, die Welt zu unterwerfen, noch perfider und vor allem durchdachter und langfristiger angelegt ist, als das der USA. China - darüber darf man sich nicht hinwegtäuschen - ist heute ein völkermörderischer Schurkenstaat, und dabei ist Chinas Völkermord an den Muslimen in China nur ein Anfang: es ist schon jetzt klar, China will die vollständige Vernichtung der Religion, aller geistigen Werte im Interesse der Züchtung des vollkommenen Untertanen unter ein System, das von Chauvinismus, Gier und Materialismus beherrscht ist. Man darf auch nie vergessen: China kann die Dritte Welt nicht glaubhaft vertreten. Die Grundlage des chinesischen Systems ist europäisch: es ist der Marxismus. Zudem hat China analog zum Eurozentrismus traditionellerweise eine sinozentrische Kultur. Heute steht die Welt zwischen den beiden großen Satans: China und den USA. Es muss alles getan werden, China zu stoppen.

MM: Und welche Rolle sollen die Muslime dabei übernehmen?

Prof. Günther: Muslime sind eingekeilt zwischen dem Völkermord des Westens und Israels, wo immer es letzteren beliebt, und der die Nazis noch übertreffenden systematischen Vernichtung des Islam in China (mit Unterstützung des Völkermords an den Rohingya). Dabei gelingt es dem Westen, Israel und China immer noch, korrupte Regierungen in muslimischen Staaten für sich zum Mord an Muslimen zu instrumentalisieren oder gar Terrorismus - zumeist gegen Muslime - zu provozieren oder gar zu etablieren. Muslime müssen sich von korrupten Regierungen befreien und sich zusammentun. Nur so kann die zerstörerische Gewalt der Feinde des Islam überwunden werden. Und nur dann kann der Islam seine befreiende Wirkung für die Welt entfalten.

Der Islam ist unvereinbar mit dem Raubtierkapitalismus, der unsere Welt immer offenkundiger zerstört, der keinen Respekt vor Menschleben hat, der die perverse Folterung von Tieren, die Zerstörung der gesamten Natur im Interesse der niederen Triebe, der Gier und des wahllosen Vergnügens nicht scheut. Der Islam ist immer noch weitgehend selbst in diesem Kreis des Verderbens gefangen, da korrupte Herrscher ihn seit der Kolonialzeit bis heute dazu missbrauchen.

Es ist eines der großen Verdienste von Imam Chomeini, die Basis des Islam als einer Religion der sozialen Gerechtigkeit, einer Religion der Unterdrückten wieder freigelegt zu haben. Dieser Islam ist nicht nur geeignet, die unterdrückten Völker der dritten Welt zu befreien, sondern auch dazu, die Welt von der Geißel des Kapitalismus zu befreien. Der Marxismus hat vieles richtig gesehen, einer seiner Grundirrtümer war sein Materialismus, verständlich aus dem Missbrauch der Religion durch den Staat im christlichen Europa. Aber der Kapitalismus ist das Produkt der Herrschaft des blinden Triebs; ohne eine spirituelle Macht ist er nicht zu bändigen. So ist der Marxismus auch in der Sowjetunion und der VR China zum totalitären Verbrechertum verkommen.

MM: Ist die die Vereinigung der muslimischen Völker denn realistisch?

Prof. Günther: Was ich hier anvisiere, ist natürlich ein Ziel in weiter Ferne. Der alte Brennpunkt des Konflikts ,Islam - Westen' sind der Nahe und Mittlere Osten. Die Türkei Erdogans ist einer der wenigen Staaten, wo man auf eine ernsthafte islamische Politik hoffen darf. Die Türkei ist eine äußert effiziente Militärmacht. Wenn die Türkei und der ebenfalls starke Iran ihre Differenzen durch Kompromiss lösen und sich zusammentun, würde hier an einem Brennpunkt eine formidable islamische Macht entstehen, die dem Morden des Westens und Israels Grenzen setzen und u.U. in der Zukunft Motor einer größeren islamischen Kooperation werden könnte.

Die Befreiung der muslimischen Völker von korrupten Herrschern zu einer Gemeinschaft wehrhafter Staaten ist im Interesse der Welt, des Friedens, der Gerechtigkeit, somit eines jeden anständig gesonnenen Menschen, also auch Deutschlands. Insbesondere aber im Interesse ganz Europas ist ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen auf Augenhöhe im europäischen Raum.

MM: Ihr Beitrag zur Integration von Muslimen in Deutschland liest sich derart, dass Muslime in deutschen Mainstreamparteien, so wie sie derzeit sind, nichts verloren hätten und jene für Muslime noch nicht einmal wählbar wären. Aber wie kann ein deutscher Muslim seine Heimat Deutschland politisch mitgestalten?

Prof. Günther: Das ist eine berechtigte und zugleich sehr schmerzliche Frage. Denn angesichts der Situation ist man versucht aufzugeben: Ich selbst werde immer geneigter, mir zu sagen, wozu soll ich meine noch verbleibenden Lebensjahre damit verbittern, Politik auch nur noch zu verfolgen. Ich denke, dass die im Bundestag vertretenen Parteien dem Islam derart - ich möchte fast eher sagen ignorant und pervers, als feindlich gegenüberstehen, dass kein Muslim irgendetwas da verloren hätte. Zudem sind sie allesamt ohnehin so inkompetent, verantwortungslos und verrottet, dass ich überhaupt nicht sehe, wie ein vernünftig denkender Mensch sie auch nur wählen kann.

MM: Aber politischer Ausstieg ist doch keine Lösung?

Prof. Günther: Vielleicht kann man versuchen mit der ,Linken', insbesondere Frau Wagenknecht am Rande im Gespräch zu bleiben. Hier gibt es zumindest eine Zone der Überlappungen: soziale Gerechtigkeit, Auflösung der NATO (ich schlage vor: Austritt aus der NATO), Frieden mit Russland. Aber in der Haltung zu Fragen der öffentlichen Moral, der Türkei klaffen hier Welten zwischen der Partei und dem, was ein Muslim verdauen kann. Ich befürchte, politische Einflussnahme auf dem Wege über Parteien ist nicht möglich.

MM: Was ist die Alternative?

Prof. Günther: Als Muslim kann man viel zum Wohl der Gesellschaft und politischen Kultur beitragen: einfach dadurch, dass jeder sich immer wieder bemüht, möglichst intensiv die Werte des Islam zu leben. Dazu gehören nach außen Hilfsbereitschaft, Solidarität mit Schwachen und Benachteiligten, Friedfertigkeit. Das sind Tugenden, die in unserer Gesellschaft bitter nötig sind. Und Muslime sollten dies gemeinsam tun. Angesichts der Zumutungen, denen man heute ausgesetzt ist, verbietet sich der ernsthafte Dialog mit staatlicher Bevormundung. Umso wichtiger wäre es, dass alle ernsthaften muslimischen Vereinigungen sich hinter verschlossenen Türen einigen und zusammenarbeiten. Ausgeschlossen müssen nur selbstverständlich diejenigen bleiben, die gewaltbereit sind, damit meine ich auch diejenigen, die die Sprache der Gewalt im Munde führen, die andere mit Gewalt bedrohen und mit ihrem Fanatismus die Muslime spalten. Ebenso kann es keinen Dialog mit denen geben, die den Islam zur Appendix des Grundgesetzes herabwürdigen wollen.

Einen intensiven Dialog sollte es aber mit Christen und Juden und allen religiösen Menschen geben. Ich halte zwar von den christlichen Mainstreamkirchen wenig, aber selbstverständlich gibt es auch dort echte Christen oder zumindest Menschen, die auf echte religiöse Werte ansprechbar sind. Hier sollte man entschieden das Gemeinsame von Islam und Christentum und Judentum betonen. Und im caritativen Bereich gibt es ja ohnehin genügend gemeinsam anzupacken - natürlich auch mit Atheisten.

Religion ist keine Theorie, sondern eine Lebensform. Muslime sollten kompromisslos die Werte des Islam leben, andere Muslime freundlich ermahnen, sich auch nach Kräften zu bemühen. Dort eine glasklare, wenn nötig, harte Sprache sprechen und unbeugsam bleiben, wo die Grundwerte des Islam zur Diskussion stehen, aber kompromisslos friedfertig sein. Wenn Muslime das tun, werden sie jede Gesellschaft zum Guten verändern und sich am Ende auch den Respekt der Gesellschaft erwerben.

MM: In ihrem jüngsten Kommentar schreiben Sie: "Dieses Europa ist – auf gut Deutsch gesagt – zum Kotzen. Es ist eben doch bloß eine Kolonie der USA und Israels und wird es immer bleiben, auch wenn man zufällig mal einen amerikanischen Präsidenten nicht mag." Was schlagen Sie vor, damit es nicht immer so bleibt?

Prof. Günther: Dazu ist manches in meiner Antwort auf die vorherige Frage schon gesagt. Über die etablierte Politik wird man kaum weiterkommen. Nur gibt es - nimmt man Europa insgesamt in den Blick - einen Hoffnungsschimmer: Sollte Jeremy Corbyn einmal englischer Premierminister werden, hätte wenigstens ein europäisches Land, und dazu eines der mächtigsten, endlich wieder einen Mann an der Spitze, von dem man Positives erwarten kann.

Doch um Europa von den USA und von der perversen Gewaltpolitik Israels loszureißen, gibt es doch eine gewisse Chance auch über die öffentliche Meinung. Wie man auch immer zum Islam steht, kein natürlich empfindender Mensch kann Israels Verbrechen billigen, und es wird auch immer schwerer, sie zu verbergen. Ich denke, gerade die europäische Jugend verabscheut in ihrer Mehrheit Israel. Auch die Erfolglosigkeit der amerikanischen Gewaltpolitik in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, die Sinnlosigkeit der Gewalt im Jemen steht der Öffentlichkeit vor Augen. Ich denke hier gibt es eine Chance, den Druck der öffentlichen Meinung so stark werden zu lassen, dass sich etwas bewegt. Jedenfalls scheint es mir die Pflicht jedes anständigen Menschen zu sein, die Verbrechen Israels und der USA bei jeder Gelegenheit zu thematisieren.

MM: Herr Prof. Günther, wir danken für das Interview.

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