MM: Sehr geehrter Herr Prof. Günther, wie
kommt ein deutscher klassischer Philologe am Seminar für Griechische und
Lateinische Philologie dazu, Erdogan wählen zu wollen und die Sanktionen
gegen den Iran zu kritisieren? Prof.
Günther: Ja, der Weg von der Klassischen Philologie zu Erdogan
scheint wirklich weit zu sein, und ich dürfte mit meiner Einschätzung
der Lage hier auch auf wenig Verständnis in der - ich möchte fast sagen
- europäischen Universitätslandschaft stoßen. Die Gründe für mein
Eintreten für den Islam liegen zwar zum Teil in meiner persönlichen
Biographie, sind aber durchaus auch mit meiner akademischen Tätigkeit
verbunden. Ich war seit meiner Kindheit von anderen Kulturen fasziniert;
insbesondere Iran und Zentralasien, China und Japan zogen mich an. Mit
der islamischen und der persischen Kultur insbesondere habe ich wie
selbstverständlich ein sehr nahes Verhältnis entwickelt: buchstäblich
seit meiner Kindheit - noch bevor ich viel verstehen konnte - hat Goethe
mein Leben geprägt, und prägt es noch heute. Goethes Hochschätzung des
Islam, besonders aber seine Aneignung der persischen Kultur im
,West-östlichen Divan' haben mich tief beeindruckt und vielleicht sogar
noch mehr die davon angeregte Aneignung islamischer Dichtung,
insbesondere Mevlanas, in den Nachdichtungen Friedrich Rückerts. Mevlana
wurde so für mich eine der wichtigsten Gestalten der Weltkultur.
MM: Führte der Weg von der Philologie zur
Religion?
Prof.
Günther: Neben klassischer Philologie habe ich nun ja auch in
gleicher Weise Philosophie studiert. Seit meiner Gymnasialzeit war es
für mich evident, dass Martin Heidegger der bedeutendste europäische
Denker der ,Moderne' ist. Meine Auseinandersetzung mit der antiken
Kultur war somit irgendwie immer von Heidegger geprägt. Heidegger
hinterfragt die unausgesprochenen Grundlagen des europäischen Denkens im
griechischen Denken. Dadurch wird die europäische Kultur in ihrer
spezifischen Ausprägung offengelegt, d.h. auch in ihrer Beschränktheit.
So wird das von Europa kommende Denken offen für das Denken anderer
Kulturen.
So kam ich wie selbstverständlich zur sog.
interkulturellen Philosophie - ich würde vorziehen von interkulturellem
Denken zu sprechen -, und ich glaube nur mit dieser interkulturellen
Dimension kann das, was man landläufig Philosophie nennt, heute für das
Leben fruchtbar sein. Akademische Philosophie hat mich nie interessiert;
Denken bedeutet für mich: kritischer Intellektueller zu sein - freilich
nicht im Sinne von vordergründiger Banalität.
MM: Wie kam es zu Ihrer neuen Ausrichtung?
Prof.
Günther: Als ich glaubte, im strikt akademischen Betrieb meines
Faches genug geleistet zu haben, habe ich mich seit etwa 2000
hauptsächlich dem Dialog der Kulturen und Religionen zugewendet. Seit
meiner Kindheit war für mich politisch - gesellschaftliches Engagement
selbstverständlich, wenn es auch zu verschiedenen Zeiten meines Lebens
eine verschieden große Rolle gespielt hat. Ich denke aber, wenn man
älter wird, fragt man sich immer mehr nach der Relevanz seines Handelns.
Mir schien, dass die gesellschaftliche Relevanz gerade des klassischen
Philologen als dessen, der die Grundlagen unserer europäischen Kultur
gründlich kennt, im Bauen von Brücken zwischen unserer und anderen
Kulturen besteht.
Zudem kommt man im Alter auch immer mehr auf
seine Wurzeln zurück: mir - aufgewachsen in einem strikt protestantisch
geprägten Milieu im stark religiös geprägte Nachkriegsdeutschland -
wurde immer deutlicher, dass die zentrale Frage, um die mein Leben immer
kreiste und kreist, die Frage nach Gott ist. So habe ich mich besonders
dem Dialog der Religionen zugewendet.
Durch meine bis auf 1987 zurückgehenden engen
Kontakte zu Japan begann ich mit dem Dialog ,Christentum - Buddhismus'.
Ich wendete mich dann aber, ohne mein Interesse an Ostasien je zu
verlieren, bald immer mehr dem Islam zu. Einerseits glaube ich, dass das
friedliche Zusammenleben der Welt mit dem Islam eine der wichtigsten
Herausforderungen der Gegenwart ist, außerdem ist der Zugang zum Islam
für den vom Christentum Herkommenden besonders kongenial - das sollte
man eigentlich gar nicht erst sagen müssen. Und abgesehen davon: der
Islam hat nicht nur das Denken des europäischen Mittelalters erst
ermöglicht, der Islam ist ein selbstverständlicher Teil der deutschen
Kultur. Wer wie ich mit Goethe und Rückert aufgewachsen ist, hat das in
sich.
MM: Dann gehört Islam ja doch zu
Deutschland!?
Prof.
Günther: Die lächerliche Diskussion, ob der Islam zu Deutschland
gehöre, zeigt, welche halbgebildeten Fatzken heute die gesamte
öffentliche Diskussion beherrschen. Zudem fühlte ich auch immer eine
große Affinität zur Mentalität von Menschen aus dem muslimischen
Kulturkreis. Ich habe mit Muslimen (ich meine nicht Halbstarke mit
Migrationshintergrund) nur sehr positive Erfahrungen gemacht. Ein ganz
entscheidender Teil meines Lebens spielte sich in Griechenland ab: das
Griechenland, in dem ich ab 1977 quasi lebte, war nicht Europa. Es war
der Türkei weit näher.
Zudem erlebte ich Muslime immer als die
Schwachen, Diskriminierten und weltweit geradezu einem Völkermord
Ausgesetzten. Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, dass
wahre Menschlichkeit und Religiosität Einsatz für die Schwachen und
Leidenden bedeutet.
Je mehr ich mich dann mit dem Islam befasste,
desto größer wurde auch meine Bewunderung für diese Religion und meine
persönliche Affinität zu ihrem Gottesbild und ihrer Ethik. Dies hat
inzwischen sogar dazu geführt, dass ich zum Islam übergetreten bin.
MM: Und deswegen würden Sie Erdogan wählen?
Prof.
Günther: Was Erdogan anbelangt, so habe ich die kemalistische Türkei
immer für einen kulturlosen Unstaat gehalten. Die osmanische Kultur ist
der Islam. Ich habe Erdogan dafür geschätzt, dass er der Türkei ihre
islamische Kultur wiedergegeben hat. Wie er - im Geist des Islam - in
der Türkei den Kurden, anderen Volksgruppen und Religionen ihre Würde
zurückgegeben hat, die wirtschaftliche Situation und die öffentlichen
Dienstleistungen für die kleinen Leute verbessert hat. Erdogan hat auch
schwere Fehler gemacht: ich war entsetzt und wütend, dass er im
Syrienkonflikt auf den Wagen des Westens aufgesprungen ist. Trotzdem
glaube ich, dass seine Leistungen die Fehler weit überwiegen. Er ist
einer der wenigen Politiker von Einfluss heute in der Welt, den ich
überwiegend positiv sehe. Die Kampagne in Deutschland gegen Erdogan, im
Grunde genommen eine gegen die Türkei und den Islam, halte ich für so
dumm, empörend, widerwärtig und vor allem auch so konträr zu deutschen
nationalen Interessen, dass mir die Worte fehlen.
MM: Und warum kritisieren Sie die
Sanktionen gegen den Iran?
Prof.
Günther: Die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran sind so
offensichtlich eine völkerrechtswidrige Schurkerei, dass ich mit meiner
Opposition gegen sie nicht einmal im wenig islamfreundlichen deutschen
akademischen Ambiente ganz allein stehe. Meine Unterstützung des Iran
geht aber weiter: ich glaube, dass der Iran geradezu das Vorbild eines
auf geistige Werte gegründeten Staates ist. Die iranische Revolution
muss sich seit vierzig Jahren gegen Barbarei und Gewalt von außen
verteidigen. Sie konnte so nie das voll verwirklichen, was Imam Chomenei
gewollt hat. Es gibt deshalb gewiss auch im Iran Dinge, die man
kritisieren kann, aber ich werde das erst dann tun, wenn der Iran von
äußerer Bedrohung frei ist. Vorher weigere ich mich, in der westlichen
Öffentlichkeit überhaupt Kritik am Iran zu üben.
MM: Sie haben Imam Chomeini als größten
Muslim der Nachkriegszeit bezeichnet. Gab es dafür keinen Ärger?
Prof. Günther: Nun, ich habe noch viel
kontroversere Dinge öffentlich gesagt oder gar publiziert. Einmal wurde
ich bei einem Vortrag an der Universität Wien auch fast verprügelt. Aber
ich denke, zum Glück bin ich viel zu unwichtig, als dass es sich lohnen
würde, mir allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Natürlich ist es auch
im akademischen Bereich so: wer nicht Mainstream-Ansichten vertritt,
wissenschaftlich und politisch, ist raus. Ersteres ist dabei sogar noch
wichtiger als das Zweite. Ich kenne zahlreiche Fälle hochqualifizierter
Personen, die es an an der Universität zu nichts gebracht haben. Dass
ich eine Beamtenstelle habe, ist nur ein glücklicher Zufall. Und mehr
als eine niederrangige Stelle war nie drin, denn ich habe mich nie
angepasst. Dass ich es zu internationalem wissenschaftlichen Ansehen
gebracht habe, verdanke ich einem der großen alten Wissenschaftler, bei
denen ich noch lernen konnte. Allerdings, wäre ich nicht Beamter
geworden, wäre es mir längst aufgrund wissenschaftlicher Kontroversen
wie Herrn
Ganser
gegangen. Was die Politik anbelangt, hoffe ich mal, dass ich weiter ein
so unwichtiger kleiner Professor bleibe, dass man mich nicht zur
Kenntnis nimmt.
MM: Das wollen wir nicht hoffen. Sie haben schon einige Male Ihrer
Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die muslimische Welt sich vereinigen
und von den Fesseln des Kolonialismus befreien würde. Insbesondere haben
Sie Ihren Wunsch zu einer Allianz der Türkei mit dem Iran betont.
Welches Interesse kann ein Deutscher daran haben?
Prof. Günther: Man spricht ja heute viel
von einer ,multipolaren' Weltordnung. Gerade Vladimir Putin hat das -
etwa in einer Rede auf dem Valdai-Forum - ausgeführt. Ich glaube in der
Tat, dass nur durch eine derartige Machtbalance international Stabilität
und Friede möglich sind. Das Vorbild einer solchen Ordnung ist die
erfolgreiche Ordnung des postnapoleonischen Europas durch Metternich;
solch einer Politik bedarf die Welt heute mehr denn je.
Eine solche multipolare Welt kann nicht nur im
Interessenausgleich USA - Russland - China bestehen, sie bedarf auch
einer stabilen geeinigten muslimischen Welt, zumal der Islam die einzige
eigenständige geistige Kraft ist, die die Dritte Welt gegen Europa mit
ihrer sie inzwischen beherrschenden Appendix USA und gegen die neue
Kolonialmacht China vertreten kann. Die islamische und die dritte Welt
leben immer noch im Chaos, als Spielball des Westens und inzwischen noch
mehr Chinas. Diese Ansicht habe ich schon immer allein deshalb
vertreten.
MM: Plädieren Sie also für eine Art
islamischen Block?
Prof. Günther: Ein ,vierter' islamischer
Block ist freilich noch aus anderen Gründen nötiger denn je: es konnte
lange so aussehen, als ob eine stabile und positive multipolare Ordnung
dadurch entstehen könnte, dass Russland und China das verbrecherische
Monopol des Westens brechen. Das hat sich als fataler Irrtum erwiesen.
China ist heute eine noch größere Bedrohung für die Welt als die USA: es
ist zur rassistischen Kolonialmacht entartet, deren Konzept, die Welt zu
unterwerfen, noch perfider und vor allem durchdachter und langfristiger
angelegt ist, als das der USA. China - darüber darf man sich nicht
hinwegtäuschen - ist heute ein völkermörderischer Schurkenstaat, und
dabei ist Chinas Völkermord an den Muslimen in China nur ein Anfang: es
ist schon jetzt klar, China will die vollständige Vernichtung der
Religion, aller geistigen Werte im Interesse der Züchtung des
vollkommenen Untertanen unter ein System, das von Chauvinismus, Gier und
Materialismus beherrscht ist. Man darf auch nie vergessen: China kann
die Dritte Welt nicht glaubhaft vertreten. Die Grundlage des
chinesischen Systems ist europäisch: es ist der Marxismus. Zudem hat
China analog zum Eurozentrismus traditionellerweise eine sinozentrische
Kultur. Heute steht die Welt zwischen den beiden großen Satans: China
und den USA. Es muss alles getan werden, China zu stoppen.
MM: Und welche Rolle sollen die Muslime
dabei übernehmen?
Prof. Günther: Muslime sind eingekeilt
zwischen dem Völkermord des Westens und Israels, wo immer es letzteren
beliebt, und der die Nazis noch übertreffenden systematischen
Vernichtung des Islam in China (mit Unterstützung des Völkermords an den
Rohingya). Dabei gelingt es dem Westen, Israel und China immer noch,
korrupte Regierungen in muslimischen Staaten für sich zum Mord an
Muslimen zu instrumentalisieren oder gar Terrorismus - zumeist gegen
Muslime - zu provozieren oder gar zu etablieren. Muslime müssen sich von
korrupten Regierungen befreien und sich zusammentun. Nur so kann die
zerstörerische Gewalt der Feinde des Islam überwunden werden. Und nur
dann kann der Islam seine befreiende Wirkung für die Welt entfalten.
Der Islam ist unvereinbar mit dem
Raubtierkapitalismus, der unsere Welt immer offenkundiger zerstört, der
keinen Respekt vor Menschleben hat, der die perverse Folterung von
Tieren, die Zerstörung der gesamten Natur im Interesse der niederen
Triebe, der Gier und des wahllosen Vergnügens nicht scheut. Der Islam
ist immer noch weitgehend selbst in diesem Kreis des Verderbens
gefangen, da korrupte Herrscher ihn seit der Kolonialzeit bis heute dazu
missbrauchen.
Es ist eines der großen Verdienste von Imam
Chomeini, die Basis des Islam als einer Religion der sozialen
Gerechtigkeit, einer Religion der Unterdrückten wieder freigelegt zu
haben. Dieser Islam ist nicht nur geeignet, die unterdrückten Völker der
dritten Welt zu befreien, sondern auch dazu, die Welt von der Geißel des
Kapitalismus zu befreien. Der Marxismus hat vieles richtig gesehen,
einer seiner Grundirrtümer war sein Materialismus, verständlich aus dem
Missbrauch der Religion durch den Staat im christlichen Europa. Aber der
Kapitalismus ist das Produkt der Herrschaft des blinden Triebs; ohne
eine spirituelle Macht ist er nicht zu bändigen. So ist der Marxismus
auch in der Sowjetunion und der VR China zum totalitären Verbrechertum
verkommen.
MM: Ist die die Vereinigung der
muslimischen Völker denn realistisch?
Prof. Günther: Was ich hier anvisiere,
ist natürlich ein Ziel in weiter Ferne. Der alte Brennpunkt des
Konflikts ,Islam - Westen' sind der Nahe und Mittlere Osten. Die Türkei
Erdogans ist einer der wenigen Staaten, wo man auf eine ernsthafte
islamische Politik hoffen darf. Die Türkei ist eine äußert effiziente
Militärmacht. Wenn die Türkei und der ebenfalls starke Iran ihre
Differenzen durch Kompromiss lösen und sich zusammentun, würde hier an
einem Brennpunkt eine formidable islamische Macht entstehen, die dem
Morden des Westens und Israels Grenzen setzen und u.U. in der Zukunft
Motor einer größeren islamischen Kooperation werden könnte.
Die Befreiung der muslimischen Völker von
korrupten Herrschern zu einer Gemeinschaft wehrhafter Staaten ist im
Interesse der Welt, des Friedens, der Gerechtigkeit, somit eines jeden
anständig gesonnenen Menschen, also auch Deutschlands. Insbesondere aber
im Interesse ganz Europas ist ein friedliches Zusammenleben von Muslimen
und Nicht-Muslimen auf Augenhöhe im europäischen Raum.
MM: Ihr Beitrag zur Integration von
Muslimen in Deutschland liest sich derart, dass Muslime in deutschen
Mainstreamparteien, so wie sie derzeit sind, nichts verloren hätten und
jene für Muslime noch nicht einmal wählbar wären. Aber wie kann ein
deutscher Muslim seine Heimat Deutschland politisch mitgestalten?
Prof. Günther: Das ist eine berechtigte
und zugleich sehr schmerzliche Frage. Denn angesichts der Situation ist
man versucht aufzugeben: Ich selbst werde immer geneigter, mir zu sagen,
wozu soll ich meine noch verbleibenden Lebensjahre damit verbittern,
Politik auch nur noch zu verfolgen. Ich denke, dass die im Bundestag
vertretenen Parteien dem Islam derart - ich möchte fast eher sagen
ignorant und pervers, als feindlich gegenüberstehen, dass kein Muslim
irgendetwas da verloren hätte. Zudem sind sie allesamt ohnehin so
inkompetent, verantwortungslos und verrottet, dass ich überhaupt nicht
sehe, wie ein vernünftig denkender Mensch sie auch nur wählen kann.
MM: Aber politischer Ausstieg ist doch
keine Lösung?
Prof. Günther: Vielleicht kann man
versuchen mit der ,Linken', insbesondere Frau Wagenknecht am Rande im
Gespräch zu bleiben. Hier gibt es zumindest eine Zone der Überlappungen:
soziale Gerechtigkeit, Auflösung der NATO (ich schlage vor: Austritt aus
der NATO), Frieden mit Russland. Aber in der Haltung zu Fragen der
öffentlichen Moral, der Türkei klaffen hier Welten zwischen der Partei
und dem, was ein Muslim verdauen kann. Ich befürchte, politische
Einflussnahme auf dem Wege über Parteien ist nicht möglich.
MM: Was ist die Alternative?
Prof. Günther: Als Muslim kann man viel
zum Wohl der Gesellschaft und politischen Kultur beitragen: einfach
dadurch, dass jeder sich immer wieder bemüht, möglichst intensiv die
Werte des Islam zu leben. Dazu gehören nach außen Hilfsbereitschaft,
Solidarität mit Schwachen und Benachteiligten, Friedfertigkeit. Das sind
Tugenden, die in unserer Gesellschaft bitter nötig sind. Und Muslime
sollten dies gemeinsam tun. Angesichts der Zumutungen, denen man heute
ausgesetzt ist, verbietet sich der ernsthafte Dialog mit staatlicher
Bevormundung. Umso wichtiger wäre es, dass alle ernsthaften muslimischen
Vereinigungen sich hinter verschlossenen Türen einigen und
zusammenarbeiten. Ausgeschlossen müssen nur selbstverständlich
diejenigen bleiben, die gewaltbereit sind, damit meine ich auch
diejenigen, die die Sprache der Gewalt im Munde führen, die andere mit
Gewalt bedrohen und mit ihrem Fanatismus die Muslime spalten. Ebenso
kann es keinen Dialog mit denen geben, die den Islam zur Appendix des
Grundgesetzes herabwürdigen wollen.
Einen intensiven Dialog sollte es aber mit
Christen und Juden und allen religiösen Menschen geben. Ich halte zwar
von den christlichen Mainstreamkirchen wenig, aber selbstverständlich
gibt es auch dort echte Christen oder zumindest Menschen, die auf echte
religiöse Werte ansprechbar sind. Hier sollte man entschieden das
Gemeinsame von Islam und Christentum und Judentum betonen. Und im
caritativen Bereich gibt es ja ohnehin genügend gemeinsam anzupacken -
natürlich auch mit Atheisten.
Religion ist keine Theorie, sondern eine
Lebensform. Muslime sollten kompromisslos die Werte des Islam leben,
andere Muslime freundlich ermahnen, sich auch nach Kräften zu bemühen.
Dort eine glasklare, wenn nötig, harte Sprache sprechen und unbeugsam
bleiben, wo die Grundwerte des Islam zur Diskussion stehen, aber
kompromisslos friedfertig sein. Wenn Muslime das tun, werden sie jede
Gesellschaft zum Guten verändern und sich am Ende auch den Respekt der
Gesellschaft erwerben.
MM: In ihrem
jüngsten Kommentar schreiben Sie: "Dieses Europa ist – auf gut
Deutsch gesagt – zum Kotzen. Es ist eben doch bloß eine Kolonie der USA
und Israels und wird es immer bleiben, auch wenn man zufällig mal einen
amerikanischen Präsidenten nicht mag." Was schlagen Sie vor, damit
es nicht immer so bleibt?
Prof. Günther: Dazu ist manches in
meiner Antwort auf die vorherige Frage schon gesagt. Über die etablierte
Politik wird man kaum weiterkommen. Nur gibt es - nimmt man Europa
insgesamt in den Blick - einen Hoffnungsschimmer: Sollte Jeremy Corbyn
einmal englischer Premierminister werden, hätte wenigstens ein
europäisches Land, und dazu eines der mächtigsten, endlich wieder einen
Mann an der Spitze, von dem man Positives erwarten kann.
Doch um Europa von den USA und von der
perversen Gewaltpolitik Israels loszureißen, gibt es doch eine gewisse
Chance auch über die öffentliche Meinung. Wie man auch immer zum Islam
steht, kein natürlich empfindender Mensch kann Israels Verbrechen
billigen, und es wird auch immer schwerer, sie zu verbergen. Ich denke,
gerade die europäische Jugend verabscheut in ihrer Mehrheit Israel. Auch
die Erfolglosigkeit der amerikanischen Gewaltpolitik in Afghanistan,
Irak, Libyen, Syrien, die Sinnlosigkeit der Gewalt im Jemen steht der
Öffentlichkeit vor Augen. Ich denke hier gibt es eine Chance, den Druck
der öffentlichen Meinung so stark werden zu lassen, dass sich etwas
bewegt. Jedenfalls scheint es mir die Pflicht jedes anständigen Menschen
zu sein, die Verbrechen Israels und der USA bei jeder Gelegenheit zu
thematisieren.
MM: Herr Prof. Günther, wir danken für
das Interview. |