Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. Uwe Eissing
 

Buchtitel - Vor- und RückseiteMuslim-Markt interviewt
Dr. Uwe Eissing - Autor des Buches "Kuckucksrufe und Eselsklagen - Einspruch gegen die freudige Selbstabschaffung der Kirche"

28.7.2020

Uwe Eissing (Rosenmontag 1958), Ausbildung Lehrer, promoviert, ist im Vorstand eines Unternehmens für Vernetzungstechniken in der Medizin. Neben seinem Beruf ist er als Autor tätig und hat neben Beiträgen zur jüdischen und emsländischen Regionalgeschichte folgendes Buch verfasst: "Kuckucksrufe und Eselsklagen - Einspruch gegen die freudige Selbstabschaffung der Kirche (2017)"

Er ist in der katholischen Gemeinde St. Stephan in Köln Lindenthal aktiv.

Dr. Uwe Eissing ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Köln (Lindenthal).

MM: Sehr geehrter Herr Eissing, bereits der Titel Ihres Buches "Kuckucksrufe und Eselsklagen" ist sehr ungewöhnlich, was soll er besagen?

Dr. Eissing: Lieber Herr Özoguz, zunächst einmal meinen herzlichen Dank für das Interview. Nun zu Ihrer Frage: Der sachliche Anteil des Titels steht im Untertitel. Aber was wir in unserer Zeit beobachten, ist nicht sachlich, sondern sehr emotional, kulturelle Gewissheiten verändernd und umstürzend. Das versuche ich, in Worte zu fassen. Kuckuck und Esel sind beide Boten. Der Kuckuck kündet vom Frühling und im Lied („Auf einem Baum ein Kuckuck …“) sogar vom Aufstehen gegen Tod und Gewalt („da war der Kuckuck wieder da“). Der Esel hat wenig melodischen Klang, aber er bekommt im Alten Testament eine messianische Kraft zugesprochen, etwa in der Bileam-Geschichte. Kuckuck und Esel, das ist melodisch zu unmelodisch, Aufstehen und Wiederkommen zu Trotz und Beharrung. Disparate Harmonie. Und das scheint mir die Melodie unserer Zeit zu sein.

MM: Genau so ungewöhnlich ist das Gemälde auf dem Umschlag, in dem ein Papst als Papst und ein anderer als Narr dargestellt ist. Drückt sich in dem Gemälde auch die Motivation zum Buch aus?

Dr. Eissing: Als ich das Gemälde zum ersten Mal sah, war ich begeistert, denn da war noch jemand, der diese disparate Harmonie spürte und – statt in Worte – ins Bild setzen konnte. Das Heilige und die Narretei, der Verfall und der spielerische Neuanfang. Nur dass hier der Rabe als Bote ins Spiel kommt, während der Kuckuck fehlt. Der Künstler muss anonym bleiben, denn er arbeitet für Klöster und Kirchen, seine Bildsprache ist also geübt und doch in diesem Fall ein bisschen stark geraten. Aber in der Bildmitte steht Papst Benedikt XVI. und von ihm her, und seinem Rücktritt am 11. Februar 2012, teilt sich das Bild. In der Tat ist dieser Rücktritt der Dreh- und Ankerpunkt, von dem aus mein Nachdenken beginnt. Und zwei Kapitel im Buch befassen sich mit der Deutung dieses Rücktritts.

MM: Im Buch drücken Sie Ihre Hoffnung auf eine gottgefällige Zukunft in Deutschland unter anderem mit dem in seinem Laden betenden muslimischen Gemüsehändler aus. Ist das nicht eine ungewöhnliche Hoffnung für einen Katholiken?

Dr. Eissing: Die Wiederkehr der religiösen Symbole in unseren Tagen ist ein gutes Zeichen. Es zeigt die Sehnsucht, und dass diese unter den Formen und Ritualen liegende Sehnsucht durch die Aufklärung und humanistische Wende nicht zerstört worden ist. Nur dass ohne die religiösen Formen diese Sehnsucht diffuse Gestalt annehmen kann und etwa in der Naturverehrung auf Verhaltensmuster zurückfällt, die wir seit den Tagen des Mose für überwunden gehalten hatten. Das Kopftuch und das Niederknien zum Gebet sind gelebte Zeichen gegen Nietzsches „Gott ist tot“. Das ist gut. Die Ausrichtung des Kulturchristentums gegen den Islam ist der Versuch, fehlende Substanz durch ein Feindbild auszugleichen. Das Christentum als Glaube an Gott wird dadurch weiteren Schaden nehmen. Die Muster dieser Kampagne ähneln im Übrigen den Anti-Semitismus-Kampagnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

MM: Sie holen teilweise sehr weit aus um sehr tiefsinnige Zusammenhänge zu erläutern. Muss man den die Geschichte der alten griechischen Götter und den Untergang Trojas kennen, um die heutige Geschichte verstehen zu können?

Dr. Eissing: Die griechische Mythologie und ihre Geschichten sind Bilder, die uns helfen, den kulturellen Umbruch unserer Zeit besser zu verstehen. Wenn eine bestimmte Ordnung von Welt zusammenbricht und eine neue kulturelle Ordnung sich durchsetzt, dann ist das immer mit einem Umschreiben der Geschichte verbunden. Man könnte auch von Verlust oder Zerstörung von Erinnerung sprechen. Platon beschreibt das im Timaios recht anschaulich. Wenn durch eine große Flutwelle die Städte und die Archive einer Kultur vernichtet werden und nur die Hirten in den Bergen überleben, dann kollabiert auch das Gedächtnis dieser Kultur. Mythen und Geschichten sind in diesem Kontext der Versuch, eine substanzielle Botschaft durch katastrophische Umbrüche hindurch auf spätere Generationen zu übertragen. Und das gelingt nur, wenn diese Botschaft in eine Erzählung verpackt werden kann, die mit einem wiederkehrenden religiösen Ritual verbunden ist. Deshalb tobt in unserer Zeit ein Kulturkrieg um die richtigen Narrative. Es geht um Auslöschung von Erinnerung und Durchsetzung neuer Narrative, also ein Neuschreiben von Erinnerung.

MM: ...und warum Troja?

Dr. Eissing: Troja ist ein ganz besonderer Fall. In einem Krieg der Kulturen am Ausgang der Bronzezeit unterliegen die frommen Trojaner den klugen Griechen. Odysseus schafft es, die Frömmigkeit der Trojaner in ihre Schwäche zu verwandeln und ihre „heilige Burg“ zu zerstören. Heiner Müller hat in einem kurzen Drama („Philoktet“) diesem Odysseus die Rolle eines Kissingers seiner Zeit zugesprochen, der nach zehn Jahren Krieg einfach nur noch das Sterben beenden will, ohne Rücksicht auf Werte. Das wäre die humanistische Deutung. Vergil erzählt uns die andere Seite des Geschehens, den Untergang der Frommen in der brennenden Stadt Troja. Und da geht es um die Frage: Wie lange muss man an dem Heiligen festhalten? Wie sehr verwandelt man sich im Kampf gegen die Griechen selber in einen Griechen? Vergil beschreibt das detailliert. Und genau da kommen drei Visionen und drei Frauen ins Spiel, die den Kämpfer Aeneas davon abbringen, heldenhaft im Kampf unterzugehen und nach vorne zu schauen, die Überlebenden zu sammeln und aufzubrechen. Die Reise dauert dann zehn Jahre und führt über Karthago nach Latium. Alba Longa, der Sommersitz der Päpste liegt da, und eigentlich hätte Benedikt XVI. seinen Rücktritt dort verkünden müssen, denn das Thema unserer Zeit ist aus meiner Sicht: Was machen die Frommen in einer Zeit der Übermacht des Griechischen?

Und noch ein Bild zu diesem Punkt. Ich bin in der katholischen Kirche St. Michael in Papenburg groß geworden. Das Deckengemälde zeigt in der Mitte Christus Jesus als Weltenherrscher, Pantokrator, nach vier Seiten von den Evangelisten und den ihnen zugeordnete Tiersymbolen umgeben. Die ganze übrige Decke ist von seltsamsten Tieren und Gestalten verziert, den Sternbildern. Die Kirche ist damals von stolzen Kapitänen gebaut worden, die mit ihren Segelschiffen die ganze Welt befuhren. Ohne GPS sind die Sternbilder das Orientierungszeichen. Und wenn Kommunikation nur indirekt möglich ist, dann muss jeder von uns die Sternbilder beschreiben, die er gerade am Himmel sieht, damit wir erkennen können, wo er sich befindet.

MM: Und was haben Jim Morrisons abartige Phantasien des Vatermordes und der Mutterschändung in dem Buch zu suchen?

Dr. Eissing: Ich habe mir den Song heute noch einmal angehört. Das ist schon starker Tobak, auch die kultische Inszenierung. Aber Jim Morrison bringt die humanistische Wende bis zur widerlichen Kenntlichkeit auf den Punkt des Vatermordes und der sexuellen Entgrenzung. Aber dieser kulturpsychologische Kern der westlichen Zivilisation ist bei Jim Morrison kein Anfang, sondern ein Ende. Der „blue bus“ der neuen Zeit fährt bei ihm nicht die „Kings Highway“ hinauf ins gelobte Land, denn das neue Land ist kein gelobtes. Indem Morrison uns den Spiegel vorhält, ist er in einer Kultur der doppelten Standards selbst ein Unhold. Tatsächlich beschreibt er nur sehr genau und ist der Überbringer der schlechten Nachricht. Morrisons Dilemma ähnelt dem des Prometheus in der griechischen Mythologie. Wenn sich ein Usurpator-Gott an die Spitze einer Kultur stellt, durch den Sturz des Vaters oder Vatermord, dann bleibt nur Aufklärung, also Kritik der unholdigen Verhältnisse. Prometheus muss gegen den Usurpator Zeus den Menschen das Feuer in die Hand geben und sie die Künste und Wissenschaften lehren. Das – und nur das – hilft und darin steckt ganz tief der Glaube, dass das Gute und das Wissen Geschwister sind.

MM: Auch der sehr frühe Antisemitismus in Deutschland wird analysiert. Hängt das damit zusammen, dass Sie zuvor bereits das Buch "Zwischen Emanzipation und Beharrung: Studien zum Ort und Kontext des Schicksals der jüdischen Gemeinde Papenburg-Aschendorf" geschrieben haben?

Dr. Eissing: Die Analyse des Ursprungs der Vernichtung Juden ist für mich ein Moment in meinem Leben geworden, wo ich zu den Wurzeln meines Glaubens zurückfand, und viele Begegnungen mit spannenden Menschen erlebt habe. Zugleich hat das Ereignis der Shoa eine tiefgreifende Auswirkung auf unsere gesamte Kultur. Die Zerstörung Jerusalems durch Titus im Jahre 71 beantworten die Christen mit dem wahren und himmlischen Jerusalem. Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ist nun das himmlische Jerusalem wieder geerdet worden, und das hat strukturelle Folgen für unseren Kulturkreis. Ein Radikaler wie Bruno Bauer hat schon 1844 in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ im Christentum nur den Inkubationskörper dieser neuen und ehemals älteren Zeit gesehen. Ich habe diesen Satz nie gemocht, aber ich sehe die Wirkungen.

MM: Sie sind im Vorstand einer katholischen Kirchengemeinde. Gab es kein Ärger für ihre nur teils versteckte Kritik am amtierenden Papst?

Dr. Eissing: Im Kirchenvorstand war ich eine Zeit lang, aber mein Interesse gilt dem Gemeindeleben, den Lektorendiensten, den Gesprächen und wie in einer Gemeinde Gemeindeleben entsteht. Meine Frau organisiert die Dömchen-Dienste, offene Kirche in einem kleinen Gebäude, in der schon Karl der Große gebetet haben soll. Und jeden ersten Freitag im Monat sorgen wir für Anbetung von 19:30 bis 22:30 Uhr. Zur vollen Stunde Gebete, Texte aus dem Psalter, dann wieder Stille und Meditation. Ruhe, die ich liebe. Stille, die ich brauche. Zum Lob und Ehre Gottes, des Allmächtigen.

MM: Aktuell regt sich in Deutschland mehr Widerstand gegen Vorgaben des Vatikan, als dem Papst lieb sein kann. Ändert sich das Verständnis gegenüber dem Papst in der katholischen Kirche?

Dr. Eissing: Die Wahl von Papst Franziskus nach dem Rücktritt von Benedikt XVI hat eine unerwartete Welle der Kritik in der katholischen Kirche freigesetzt. Ungeachtet der großenteils schlechten Form dieser Kritik sind aus meiner Sicht drei Strömungen zu erkennen. Da sind die Traditionalisten, die im Wesentlichen an den ihnen bekannten und heiligen Formen der Verehrung festhalten wollen. Vieles an deren Haltung ist mir sympathisch. Dann haben wir die neokonservative Strömung, die katholische Lebensmuster mitten in der modernen Welt gelebt sehen möchte, aber eben als individuelles Bekenntnis. Im Grunde ist das die amerikanische Version des Katholischen, letztlich ein katholischer Calvinismus.

Traditionalisten und Neokonservative schießen in Richtung Franziskus und gegen die Modernisten und die Deutschen. Tatsächlich aber müssen die Neokonservativen als die modernistischste Form des Katholischen in unserer Zeit betrachtet werden, weil sie den Katholizismus seiner gesamtgesellschaftlichen Rolle entkleiden. Dagegen sind die deutschen Katholiken näher an der (eher mittelalterlichen) gesellschaftlichen Aufgabe und Haltung orientiert, nur ist der Preis für diesen Zusammenhalt eine immer weitergehende Modernisierung der Formen und eben auch inzwischen von Werten. Die Deutsche Bischofskonferenz ist auf Verwaltung aus. Ihr gehen die Priester aus und sie muss deshalb die Laien stärker einbinden, was mit professionellen Laien organisiert wird. Das eigentliche Gemeindeleben verdorrt darüber immer mehr. Corona tut jetzt ein Übriges. Aber die inhaltliche Debatte ist dünn. Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim, hat mit „Gott ist nicht nett“ und seinem Moses-Buch zwei denkwürdige Beiträge geliefert, die eine existenzialistische Sicht liefern. Es gibt aber aus meiner Sicht keine Alternative zum deutschen Vorgehen, den Weg in die Moderne mit den Menschen zusammen zu gehen. Im Hebräer-Brief gibt es einen Gedanken, den ich auch im Buch verwende. Sinngemäß steht da: „Noch einmal lasse ich Himmel und Erde erschüttern, damit das Unerschütterliche um so klarer hervortritt“. Krisen sind auch Zeiten, um auf das Wesentliche sich zu besinnen.

MM: Wie sieht Ihr nächstes Buchprojekt aus?

Dr. Eissing: Auch die Kuckucksrufe und Eselsklagen waren kein Buchprojekt, sondern es ging um Aufsätze und Beiträge in einem Diskussionsprozess, bis ein Freund aus der Schweiz sagte: „Packt alles zu einem Buch zusammen.“ Neue Aufsatzthemen habe ich schon. Neben mir liegt der Beitrag „Earth system impacts of the European arrival and Great Dying in the Americas after 1492“, zu dem ich einen Kommentar schreiben möchte. Nur als Beispiel.

MM: Herr Dr. Eissing, vielen Dank für das Interview.

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