MM: Sehr geehrter Herr Eissing, bereits der
Titel Ihres Buches "Kuckucksrufe und Eselsklagen" ist sehr ungewöhnlich, was
soll er besagen?
Dr. Eissing: Lieber Herr Özoguz, zunächst
einmal meinen herzlichen Dank für das Interview. Nun zu Ihrer Frage: Der
sachliche Anteil des Titels steht im Untertitel. Aber was wir in unserer
Zeit beobachten, ist nicht sachlich, sondern sehr emotional, kulturelle
Gewissheiten verändernd und umstürzend. Das versuche ich, in Worte zu
fassen. Kuckuck und Esel sind beide Boten. Der Kuckuck kündet vom Frühling
und im Lied („Auf einem Baum ein Kuckuck …“) sogar vom Aufstehen gegen Tod
und Gewalt („da war der Kuckuck wieder da“). Der Esel hat wenig melodischen
Klang, aber er bekommt im Alten Testament eine messianische Kraft
zugesprochen, etwa in der Bileam-Geschichte. Kuckuck und Esel, das ist
melodisch zu unmelodisch, Aufstehen und Wiederkommen zu Trotz und Beharrung.
Disparate Harmonie. Und das scheint mir die Melodie unserer Zeit zu sein.
MM: Genau so ungewöhnlich ist das Gemälde
auf dem Umschlag, in dem ein Papst als Papst und ein anderer als Narr
dargestellt ist. Drückt sich in dem Gemälde auch die Motivation zum Buch
aus?
Dr. Eissing: Als ich das Gemälde zum ersten
Mal sah, war ich begeistert, denn da war noch jemand, der diese disparate
Harmonie spürte und – statt in Worte – ins Bild setzen konnte. Das Heilige
und die Narretei, der Verfall und der spielerische Neuanfang. Nur dass hier
der Rabe als Bote ins Spiel kommt, während der Kuckuck fehlt. Der Künstler
muss anonym bleiben, denn er arbeitet für Klöster und Kirchen, seine
Bildsprache ist also geübt und doch in diesem Fall ein bisschen stark
geraten. Aber in der Bildmitte steht Papst Benedikt XVI. und von ihm her,
und seinem Rücktritt am 11. Februar 2012, teilt sich das Bild. In der Tat
ist dieser Rücktritt der Dreh- und Ankerpunkt, von dem aus mein Nachdenken
beginnt. Und zwei Kapitel im Buch befassen sich mit der Deutung dieses
Rücktritts.
MM: Im Buch drücken Sie Ihre Hoffnung auf
eine gottgefällige Zukunft in Deutschland unter anderem mit dem in seinem
Laden betenden muslimischen Gemüsehändler aus. Ist das nicht eine
ungewöhnliche Hoffnung für einen Katholiken?
Dr. Eissing: Die Wiederkehr der religiösen
Symbole in unseren Tagen ist ein gutes Zeichen. Es zeigt die Sehnsucht, und
dass diese unter den Formen und Ritualen liegende Sehnsucht durch die
Aufklärung und humanistische Wende nicht zerstört worden ist. Nur dass ohne
die religiösen Formen diese Sehnsucht diffuse Gestalt annehmen kann und etwa
in der Naturverehrung auf Verhaltensmuster zurückfällt, die wir seit den
Tagen des Mose für überwunden gehalten hatten. Das Kopftuch und das
Niederknien zum Gebet sind gelebte Zeichen gegen Nietzsches „Gott ist tot“.
Das ist gut. Die Ausrichtung des Kulturchristentums gegen den Islam ist der
Versuch, fehlende Substanz durch ein Feindbild auszugleichen. Das
Christentum als Glaube an Gott wird dadurch weiteren Schaden nehmen. Die
Muster dieser Kampagne ähneln im Übrigen den Anti-Semitismus-Kampagnen des
19. und frühen 20. Jahrhunderts.
MM: Sie holen teilweise sehr weit aus um
sehr tiefsinnige Zusammenhänge zu erläutern. Muss man den die Geschichte der
alten griechischen Götter und den Untergang Trojas kennen, um die heutige
Geschichte verstehen zu können?
Dr. Eissing: Die griechische Mythologie und
ihre Geschichten sind Bilder, die uns helfen, den kulturellen Umbruch
unserer Zeit besser zu verstehen. Wenn eine bestimmte Ordnung von Welt
zusammenbricht und eine neue kulturelle Ordnung sich durchsetzt, dann ist
das immer mit einem Umschreiben der Geschichte verbunden. Man könnte auch
von Verlust oder Zerstörung von Erinnerung sprechen. Platon beschreibt das
im Timaios recht anschaulich. Wenn durch eine große Flutwelle die Städte und
die Archive einer Kultur vernichtet werden und nur die Hirten in den Bergen
überleben, dann kollabiert auch das Gedächtnis dieser Kultur. Mythen und
Geschichten sind in diesem Kontext der Versuch, eine substanzielle Botschaft
durch katastrophische Umbrüche hindurch auf spätere Generationen zu
übertragen. Und das gelingt nur, wenn diese Botschaft in eine Erzählung
verpackt werden kann, die mit einem wiederkehrenden religiösen Ritual
verbunden ist. Deshalb tobt in unserer Zeit ein Kulturkrieg um die richtigen
Narrative. Es geht um Auslöschung von Erinnerung und Durchsetzung neuer
Narrative, also ein Neuschreiben von Erinnerung.
MM: ...und warum Troja?
Dr. Eissing: Troja ist ein ganz besonderer
Fall. In einem Krieg der Kulturen am Ausgang der Bronzezeit unterliegen die
frommen Trojaner den klugen Griechen. Odysseus schafft es, die Frömmigkeit
der Trojaner in ihre Schwäche zu verwandeln und ihre „heilige Burg“ zu
zerstören. Heiner Müller hat in einem kurzen Drama („Philoktet“) diesem
Odysseus die Rolle eines Kissingers seiner Zeit zugesprochen, der nach zehn
Jahren Krieg einfach nur noch das Sterben beenden will, ohne Rücksicht auf
Werte. Das wäre die humanistische Deutung. Vergil erzählt uns die andere
Seite des Geschehens, den Untergang der Frommen in der brennenden Stadt
Troja. Und da geht es um die Frage: Wie lange muss man an dem Heiligen
festhalten? Wie sehr verwandelt man sich im Kampf gegen die Griechen selber
in einen Griechen? Vergil beschreibt das detailliert. Und genau da kommen
drei Visionen und drei Frauen ins Spiel, die den Kämpfer Aeneas davon
abbringen, heldenhaft im Kampf unterzugehen und nach vorne zu schauen, die
Überlebenden zu sammeln und aufzubrechen. Die Reise dauert dann zehn Jahre
und führt über Karthago nach Latium. Alba Longa, der Sommersitz der Päpste
liegt da, und eigentlich hätte Benedikt XVI. seinen Rücktritt dort verkünden
müssen, denn das Thema unserer Zeit ist aus meiner Sicht: Was machen die
Frommen in einer Zeit der Übermacht des Griechischen?
Und noch ein Bild zu diesem Punkt. Ich bin in der
katholischen Kirche St. Michael in Papenburg groß geworden. Das
Deckengemälde zeigt in der Mitte Christus Jesus als Weltenherrscher,
Pantokrator, nach vier Seiten von den Evangelisten und den ihnen zugeordnete
Tiersymbolen umgeben. Die ganze übrige Decke ist von seltsamsten Tieren und
Gestalten verziert, den Sternbildern. Die Kirche ist damals von stolzen
Kapitänen gebaut worden, die mit ihren Segelschiffen die ganze Welt
befuhren. Ohne GPS sind die Sternbilder das Orientierungszeichen. Und wenn
Kommunikation nur indirekt möglich ist, dann muss jeder von uns die
Sternbilder beschreiben, die er gerade am Himmel sieht, damit wir erkennen
können, wo er sich befindet.
MM: Und was haben Jim Morrisons abartige
Phantasien des Vatermordes und der Mutterschändung in dem Buch zu suchen?
Dr. Eissing: Ich habe mir den Song heute
noch einmal angehört. Das ist schon starker Tobak, auch die kultische
Inszenierung. Aber Jim Morrison bringt die humanistische Wende bis zur
widerlichen Kenntlichkeit auf den Punkt des Vatermordes und der sexuellen
Entgrenzung. Aber dieser kulturpsychologische Kern der westlichen
Zivilisation ist bei Jim Morrison kein Anfang, sondern ein Ende. Der „blue
bus“ der neuen Zeit fährt bei ihm nicht die „Kings Highway“ hinauf ins
gelobte Land, denn das neue Land ist kein gelobtes. Indem Morrison uns den
Spiegel vorhält, ist er in einer Kultur der doppelten Standards selbst ein
Unhold. Tatsächlich beschreibt er nur sehr genau und ist der Überbringer der
schlechten Nachricht. Morrisons Dilemma ähnelt dem des Prometheus in der
griechischen Mythologie. Wenn sich ein Usurpator-Gott an die Spitze einer
Kultur stellt, durch den Sturz des Vaters oder Vatermord, dann bleibt nur
Aufklärung, also Kritik der unholdigen Verhältnisse. Prometheus muss gegen
den Usurpator Zeus den Menschen das Feuer in die Hand geben und sie die
Künste und Wissenschaften lehren. Das – und nur das – hilft und darin steckt
ganz tief der Glaube, dass das Gute und das Wissen Geschwister sind.
MM: Auch der sehr frühe Antisemitismus in
Deutschland wird analysiert. Hängt das damit zusammen, dass Sie zuvor
bereits das Buch "Zwischen Emanzipation und Beharrung: Studien zum Ort und
Kontext des Schicksals der jüdischen Gemeinde Papenburg-Aschendorf"
geschrieben haben?
Dr. Eissing: Die Analyse des Ursprungs der
Vernichtung Juden ist für mich ein Moment in meinem Leben geworden, wo ich
zu den Wurzeln meines Glaubens zurückfand, und viele Begegnungen mit
spannenden Menschen erlebt habe. Zugleich hat das Ereignis der Shoa eine
tiefgreifende Auswirkung auf unsere gesamte Kultur. Die Zerstörung
Jerusalems durch Titus im Jahre 71 beantworten die Christen mit dem wahren
und himmlischen Jerusalem. Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ist nun das
himmlische Jerusalem wieder geerdet worden, und das hat strukturelle Folgen
für unseren Kulturkreis. Ein Radikaler wie Bruno Bauer hat schon 1844 in
seiner Schrift „Zur Judenfrage“ im Christentum nur den Inkubationskörper
dieser neuen und ehemals älteren Zeit gesehen. Ich habe diesen Satz nie
gemocht, aber ich sehe die Wirkungen.
MM: Sie sind im Vorstand einer katholischen
Kirchengemeinde. Gab es kein Ärger für ihre nur teils versteckte Kritik am
amtierenden Papst?
Dr. Eissing: Im Kirchenvorstand war ich eine
Zeit lang, aber mein Interesse gilt dem Gemeindeleben, den Lektorendiensten,
den Gesprächen und wie in einer Gemeinde Gemeindeleben entsteht. Meine Frau
organisiert die Dömchen-Dienste, offene Kirche in einem kleinen Gebäude, in
der schon Karl der Große gebetet haben soll. Und jeden ersten Freitag im
Monat sorgen wir für Anbetung von 19:30 bis 22:30 Uhr. Zur vollen Stunde
Gebete, Texte aus dem Psalter, dann wieder Stille und Meditation. Ruhe, die
ich liebe. Stille, die ich brauche. Zum Lob und Ehre Gottes, des
Allmächtigen.
MM: Aktuell regt sich in Deutschland mehr
Widerstand gegen Vorgaben des Vatikan, als dem Papst lieb sein kann. Ändert
sich das Verständnis gegenüber dem Papst in der katholischen Kirche?
Dr. Eissing: Die Wahl von Papst Franziskus
nach dem Rücktritt von Benedikt XVI hat eine unerwartete Welle der Kritik in
der katholischen Kirche freigesetzt. Ungeachtet der großenteils schlechten
Form dieser Kritik sind aus meiner Sicht drei Strömungen zu erkennen. Da
sind die Traditionalisten, die im Wesentlichen an den ihnen bekannten und
heiligen Formen der Verehrung festhalten wollen. Vieles an deren Haltung ist
mir sympathisch. Dann haben wir die neokonservative Strömung, die
katholische Lebensmuster mitten in der modernen Welt gelebt sehen möchte,
aber eben als individuelles Bekenntnis. Im Grunde ist das die amerikanische
Version des Katholischen, letztlich ein katholischer Calvinismus.
Traditionalisten und Neokonservative schießen in
Richtung Franziskus und gegen die Modernisten und die Deutschen. Tatsächlich
aber müssen die Neokonservativen als die modernistischste Form des
Katholischen in unserer Zeit betrachtet werden, weil sie den Katholizismus
seiner gesamtgesellschaftlichen Rolle entkleiden. Dagegen sind die deutschen
Katholiken näher an der (eher mittelalterlichen) gesellschaftlichen Aufgabe
und Haltung orientiert, nur ist der Preis für diesen Zusammenhalt eine immer
weitergehende Modernisierung der Formen und eben auch inzwischen von Werten.
Die Deutsche Bischofskonferenz ist auf Verwaltung aus. Ihr gehen die
Priester aus und sie muss deshalb die Laien stärker einbinden, was mit
professionellen Laien organisiert wird. Das eigentliche Gemeindeleben
verdorrt darüber immer mehr. Corona tut jetzt ein Übriges. Aber die
inhaltliche Debatte ist dünn. Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim, hat mit
„Gott ist nicht nett“ und seinem Moses-Buch zwei denkwürdige Beiträge
geliefert, die eine existenzialistische Sicht liefern. Es gibt aber aus
meiner Sicht keine Alternative zum deutschen Vorgehen, den Weg in die
Moderne mit den Menschen zusammen zu gehen. Im Hebräer-Brief gibt es einen
Gedanken, den ich auch im Buch verwende. Sinngemäß steht da: „Noch einmal
lasse ich Himmel und Erde erschüttern, damit das Unerschütterliche um so
klarer hervortritt“. Krisen sind auch Zeiten, um auf das Wesentliche sich zu
besinnen.
MM: Wie sieht Ihr nächstes Buchprojekt aus?
Dr. Eissing: Auch die Kuckucksrufe und
Eselsklagen waren kein Buchprojekt, sondern es ging um Aufsätze und Beiträge
in einem Diskussionsprozess, bis ein Freund aus der Schweiz sagte: „Packt
alles zu einem Buch zusammen.“ Neue Aufsatzthemen habe ich schon. Neben mir
liegt der Beitrag „Earth system impacts of the European arrival and Great
Dying in the Americas after 1492“, zu dem ich einen Kommentar schreiben
möchte. Nur als Beispiel.
MM: Herr Dr. Eissing, vielen Dank für das
Interview.
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