MM: Sehr
geehrte Frau Lipp, Sind Sie Putins deutsche Infokriegerin, wie es in
Deutschland heißt, sind Sie ihm schon einmal begegnet, und zahlt er gut?
Lipp: Na klar, wir sehen uns fast jeden Tag und er steckt mir dann
immer wieder mal Geldbündel in die Tasche. Man verdient ziemlich gut als
Infokriegerin! Ganz im Ernst: Es ist eine so unkreative und ermüdende
Anschuldigung, mich als bezahlte Marionette des Kremls darzustellen.
Die, die mich kennen oder seit Jahren im Internet verfolgen, wissen,
dass ich immer nur mein eigenes Ding mache. In den Donbass bin ich im
Sommer 2021 aus eigener Initiative und aus reiner Neugier gefahren. Dort
kam ich zu der Erkenntnis, dass die deutschen Medien darüber schweigen,
wie ukrainische Nationalisten seit acht Jahren auf Zivilisten der
Donbassrepubliken schießen. Es gibt hier keine Korrespondenten der
großen deutschen Medien vor Ort, weshalb sie ausschließlich nur die
ukrainische Sichtweise zeigen. Ich habe daher entschlossen zu bleiben
und diese Informationslücke zu füllen. Finanzieren tue ich mich
ausschließlich aus Spenden.
MM: Obwohl noch vor wenigen Monate kaum
ein Deutscher wusste, wo Lugansk liegt, haben wir jetzt rund 80
Millionen Ukraine-Experten, die neben der Anklage gegen Russland auch
den Richterspruch bereit halten, ohne dass der Angeklagte jemals zu Wort
kommt. Unter welchen Arbeitsbedingungen versuchen Sie die Informationen
zu verbreiten, die viele Deutsche kaum erfahren?
Lipp: Ganz konkret: Ich lebe nun insgesamt
ein halbes Jahr in Donezk und es vergeht kein Tag, an dem die
ukrainische Seite nicht auf die Stadt schießt. Mal sind die Schüsse
näher, mal weiter entfernt - ständig horcht man, wie nah der Einschlag
dieses Mal gewesen ist. Manchmal werde ich mit Herzrasen aus dem Schlaf
gerissen, wenn durch die Druckwellen sogar die Fenster wackeln. Ich war
den ganzen Winter hier, draußen und drinnen war es sehr kalt. Seit einem
Monat habe ich keine Heizung in der Wohnung und nur einmal pro Tag ein
paar Stunden Wasser. In Mariupol bin ich unter Beschuss geraten und
neulich noch einmal an der Front im Schützengraben. Ich weiß nicht, ob
jemand all dies freiwillig für Geld auf sich nehmen würde.
Wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb ich die einzige deutsche
Journalistin hier bin – ich arbeite nicht für ein Gehalt, sondern weil
ich es falsch finde, dass das Leid der Donbassbevölkerung im Westen
nicht gehört wird. Und ich bin scheinbar die Einzige, die bereit dazu
ist, das zu ändern. Ich würde mich freuen, wenn die 80 Mio. deutschen
Ukraine-Experten für eine differenzierte Meinung auch einmal
hierherkommen würden. Man kann kein richtiger Experte oder Journalist
sein, wenn man nur eine Seite betrachtet.
MM: Für die meisten Deutschen hat der
Krieg in der Region mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine
begonnen. Warum dauert er für die Russen schon mehrere Jahre länger?
Lipp: 2014 hat in der Ukraine eine
nationalistische, anti-russische Regierung illegal die Macht ergriffen
und damit angefangen, den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu
diskriminieren und im Donbass sogar umzubringen. In den letzten Jahren
wurden Sprachen- und Rassegesetze verabschiedet, die den
russischsprachigen Teil der ukrainischen Bevölkerung zu Bürgern zweiter
Klasse gemacht hat: Behörden und Dienstleister (Friseure, Supermärkte,
Cafés etc.) dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr
verwenden. Durch das Rassengesetz „über die einheimischen Völker“ werden
die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien
eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben - Russen gehören zur
letzten Kategorie. Außerdem gibt es staatlich subventionierte
Ferienlager, in denen Kinder lernen, dass man „russische Untermenschen“
erschießen muss (siehe Bericht in euronews 2018). Das rechtsradikale
Asow-Regiment ist offiziell in die ukrainische Armee eingegliedert
worden und untersteht damit direkt dem Verteidigungsministerium. Auf
Befehl der Regierung hin beschießen Asow-Kämpfer und reguläre Soldaten
seit 2014 die Donbassbevölkerung mit Artillerie – einfach dafür, weil
sie sich nicht von ihren russischen Wurzeln lossagen wollen. Viele hier
sprechen noch nicht einmal Ukrainisch. All dies spielt sich unmittelbar
an Russlands Grenzen ab, weshalb der Konflikt dort logischerweise nicht
erst seit diesem Jahr diskutiert wird.
MM: Gegen die geballte Macht und
Propaganda-Erfahrung der Westlichen Medien, die Ihre Glaubwürdigkeit
auch aufgrund Ihres Einsatzes im Querdenkerbereich mit allen Mitteln zu
untergraben versuchen, wirken Ihre sachlichen Infos bestenfalls wie
Nadelstiche. Was motiviert sie unter solch schwierigen Bedingungen
weiterzumachen?
Lipp: Die westlichen Medien arbeiten seit
Längerem mit der sogenannten Kontaktschuld, um Menschen zu
diskreditieren. So ist es mittlerweile rufschädigend, mit einer Person
zu sprechen, die dem öffentlichen Narrativ widerspricht, oder einmal auf
einer Demo anwesend zu sein, um sich ein eigenes Bild davon zu machen.
Aber wo kommen wir hin, wenn wir uns nicht mehr die gegenteilige Meinung
anhören? Wo bleibt da die Objektivität? Gerade Journalisten haben
eigentlich die Pflicht, sich immer beide Seiten anzusehen. Doch in
meinem, wie auch in anderen Fällen, wird einfach über mich gesprochen,
statt mit mir. Dass meine Arbeit nicht nur wie Nadelstiche wirkt, zeigt
die Tatsache, dass mittlerweile alle großen deutschen Zeitungen über
mich geschrieben haben. Ich werde gehört. Das teilen mir auch immer
wieder meine Abonnenten mit, die sich bei mir dafür bedanken, ihnen oder
ihren Bekannten „die Augen geöffnet“ zu haben. Das lässt mich
weitermachen.
MM: Die Unterwanderung ukrainischer
Behörden und Kampfverbände mit Nazigedankengut sollte eigentlich kein
Geheimnis sein. Dennoch findet die Tatsache kein Gehör bei Westlichen
Politikern. Wie wird die Situation in Russland empfunden?
Lipp: In Russland betrachtet man die
aktuellen Ereignisse immer mehr wie eine Wiederholung des zweiten
Weltkriegs. Besonders, wenn aus Deutschland wieder einmal berichtet
wird, wie ein russischer Supermarkt beschädigt wird, russische Produkte
aus dem Verkauf verbannt werden oder Russen der Zutritt zu Restaurants
verweigert wird, fragt man sich hier, wo da der Unterschied zum
damaligen deutschen Umgang mit Juden liegt. Man wertet die Ereignisse
als Wiederaufkommen des Faschismus in Europa – nur diese Mal gegen
Russen gerichtet, nicht gegen Juden. Und dies stellt logischerweise eine
riesige Gefahr für Russland dar.
MM: Die Tatsache, dass der ukrainische
Präsident ein Jude ist, wird hier als starkes Gegenargument genutzt, um
eine mögliche Naziunterwanderung auszuschließen. Wie ist die Sichtweise
dazu in Russland?
Lipp: Ein
„Nazi“ ist nicht immer automatisch ein „Antisemit“, sondern jemand, der
radikale Ansichten über andere Menschengruppen, Ethnien etc. vertritt.
Es geht in dem aktuellen Konflikt nicht um die Diskriminierung und
Verfolgung von Juden, sondern um die Verfolgung von Russen. Aus diesem
Grund ist die Aussage in Bezug auf Selenski kein starkes Gegenargument,
sondern gar kein Argument.
MM: Im Westen ist immer wieder vom Krieg
Putins die Rede. Wünschen sich alle anderen Russen Navalny, den Putin ja
nicht so richtig töten konnte nach westlicher Denkweise?
Lipp: Interessant zu beobachten ist, dass
derzeit viele der ehemals regierungskritischen Russen nun das Vorgehen
der russischen Regierung unterstützen. Viele von ihnen, besonders die
westlich orientierten Nawalny-Anhänger, sind von der russophoben
Reaktion des Westens auf die Ereignisse beleidigt. Sie fragen sich,
weshalb westliche Firmen ihren Verkauf und ihre Produktion in Russland
einstellen und damit die russische Bevölkerung bestrafen – wo diese doch
nichts für die Entscheidung ihrer Regierung kann. Ein weiterer Grund für
die breite Unterstützung Putins ist zudem, dass in Russland - anders als
im Westen - nicht über die Opfer der ukrainischen Nationalisten
geschwiegen, sondern öffentlich diskutiert wird. Und wie kann man sich
nicht mit Menschen solidarisieren, die aus ethnischen Gründen getötet,
verstümmelt, vergewaltigt wurden? Viele finden es daher richtig, dass
die Donbassbevölkerung nach acht Jahren Leid endlich Unterstützung
erfährt.
MM: Es scheint als wenn die
Eskalationsspirale kein Ende kennt. Was kann der Einzelne Bürger dazu
beitragen, dass wir alle zurück zum Frieden finden?
Lipp: Wenn zwei Menschen unterschiedlicher
Herkunft aufeinandertreffen und keine Informationen über die Politik des
Herkunftslands seines Gegenübers besitzen, würden die allermeisten von
ihnen garantiert ein sehr freundliches, interessantes Gespräch führen.
Schauen wir uns unsere Kinder an: Ich selbst bin in der Grundschule in
eine Klasse mit Türken, Kurden, Russen, Pakistanern, Aserbaidschanern
und Deutschen gegangen. Jeder hat mit jedem gespielt, niemand hat auch
nur eine Sekunde an ethnische Unterschiede gedacht. Das sollten wir uns
alle bewusst machen.
MM: Frau Lipp, wir danken für das Interview
und wünschen uns allen Frieden in Russland und der ganzen Ukraine. |